Tag 198: Leeres Europa

von Franz Bujor
18.07.2014 23:44 Uhr

Noch 7 Tage bis zu Tobias’ 1. Weltreisegeburtstag

 

So früh auf den Beinen waren wir schon lange nicht mehr. Um 6:30 schellte der Wecker und um 7:00 Uhr standen wir auf der Straße. Die Sonne war schon da, die Feuerwehrleute noch nicht. Das heißt, da waren sie schon, aber trainieren wollte noch keiner. Es hätte also auch nicht gestört, wenn wir noch etwas länger geschlafen hätten. Doch in Anbetracht der Strecke, die es heute zu meistern galt, war es nicht verkehrt, so früh aufzustehen. In 22 Kilometer Entfernung kam das erste kleine Dorf mit 250 Einwohnern, fünf Störchen und einer Bar. Bis dahin gab es nichts als reine Steppe, durch die unsere Nationalstraße wie mit dem Lineal gezogen wurde. Die Straße war die einzige in der ganzen Gegend und doch sahen wir über den Tag verteilt nicht mehr als drei Autos und 10 LKWs.

Langsam fängt die Geschichte vom Problem der Überbevölkerung an unglaubwürdig zu werden. 7 Milliarden Menschen klingt unwahrscheinlich viel und wenn man darüber spricht, dann meint man jedes Mal, es dürfte keinen freien Platz mehr auf der Welt geben. Doch mit Ausnahme von Japan und vielleicht zwei drei anderen Regionen ist Europa das am dichtesten besiedelte Gebiet der Erde. Nirgendwo ballen sich die Menschen mehr als hier. Und nach allem was wir bislang von unserem Kontinent gesehen haben ist er nahezu unbesiedelt. In Deutschland haben wir bereits weite Landflächen mit nur dünner Besiedelung durchquert. In Frankreich waren Dörfer mit mehr als 1000 Einwohnern bereits Großstädte und Spanien und Portugal waren fast ausgestorben. Dabei hatten wir von den letzten beiden Ländern fast nur die Küstenregionen gesehen, also die Teile, die noch am meisten bewohnt waren. Wenn man sich die Spanienkarte bei Google einmal ansah, dann war das Hinterland buchstäblich leer. Heute wanderten wir 28 Kilometer durch reine Steppe. Das heißt, es gab hier nicht einmal mehr Landwirtschaft. Oder so gut wie keine. Das ist zwar klasse, weil es zeigt, dass es hier wirklich noch so etwas wie Natur gibt, zeigt aber deutlich, dass wir bei weitem nicht so überbevölkert sind, wie wir immer sagen. Morgen beispielsweise müssen wir 35 Kilometer zurücklegen um in die nächste kleine Stadt zu kommen. Dazwischen gibt es nichts. Gar nichts, nicht einmal ein Dorf mit drei Einwohnern. Zumindest, wenn man den Einheimischen hier glaubt. Aber das werden wir morgen dann schon sehen. Wenn man jetzt noch einmal dazu nimmt, dass wir alles in allem rund 80% der produzierten Nahrung wegwerfen, dann wäre es ein leichtes, die 7 Milliarden Menschen dieser Erde umweltverträglich und gesund zu ernähren, ohne auch nur ein einziges Pestizid oder chemisches Düngemittel zu verwenden. Warum wird es dann also gemacht? Und warum ballen wir Menschen uns in Großstädten, in denen kaum noch ein gesundes Leben möglich ist, wenn wir doch so viel freies Land zur Verfügung haben?

Die einzigen bewirtschafteten Flächen, an denen wir vorüber kamen, waren Eukalyptuswälder, Olivenplantagen und eine Kuhweide. In Spanien hatten wir bereits oft Mitleid mit den Kühen gehabt, weil sie diese nervigen Glocken tragen mussten, die bei jeder Bewegung bimmelten. Hier aber war es gleich noch schlimmer. Die Kühe waren mit einem dicken Seil gefesselt, so dass ihr Vorderbeine an ihren Hörnern fixiert waren. Dadurch konnten sie weder richtig laufen, noch ihren Kopf in eine natürliche, aufrechte Position bewegen. Sie konnten nur liegen oder hinken.

Nach 22 Kilometern wirkte das Dorf für uns wie eine Oase. Die Landschaft hier war schön aber auch rau und karg. Essbare Früchte gab es hier ebenso wenig wie Wildkräuter. Dafür gab es riesige, kugelförmige Felsen, die ein bisschen aussahen, wie übergroße verstreute Dinosauriereier. Zum Glück war das Wetter heute auf unserer Seite und schenkte uns ausreichend Schleierwolken, die den Himmel fast gleichmäßig bedeckten, so dass wir gut wandern konnten. Auch hatten wir heute nur einen einzigen Platten, was nach den Ereignissen der letzten Tage schon fast gar nichts mehr ist. Doch unsere Fruchtreserven gingen bald zur Neige und der Hunger wurde immer stärker. Gleichzeitig verloren wir in der immer gleichen Gegend jegliches Zeitgefühl und wussten schon bald nicht mehr, ob wir einen oder zehn Kilometer zurückgelegt hatten. Die Strecke kam uns endlos vor und daher freuten wir uns umso mehr, als wir die ersten Hausdächer erblickten. Um seinen Rücken ein wenig zu entlasten legte sich Heiko auf eine Bank vor der Kirche, während ich mich nach einer Bar umschaute. Ich brauchte nicht allzu lange um Fündig zu werden und kurz darauf hatten wir auch schon eine Einladung. Über uns kreisten die Störche, die auf dem Kirchturm ihr Nest errichtet hatten und wir genossen es, einfach nur einmal zu sitzen und unsere Füße zu entspannen.

Erst als wir weiterwandern wollten bemerkte Heiko, dass er seine Halstücher auf der Bank vor der Kirche vergessen hatte. Er ging zurück um sie zu holen, doch sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Er suchte alles ab und schaute auch noch einmal in der Bar nach, ob er sie vielleicht doch mit hineingenommen hatte. Doch die Suche blieb ohne Erfolg. Als Heiko mir von dem Verlust erzählt hatte, beschloss ich, die Einheimischen zu befragen, ob sie die Tücher irgendwo gesehen hatten, doch auch damit kamen wir nicht weiter. Irgendjemand musste sie mitgenommen haben. Heiko war außer sich. Wer zur Hölle klaute denn alte, verschwitzte und stinkende Halstücher? Und warum? Jeder hatte gesehen, dass sie zu uns gehörten und mit unseren Wagen fielen wir auf wie bunte Hunde. Trotzdem wusste niemand etwas. Waren wir wirklich bestohlen worden? Anders konnten wir es uns nicht erklären. Wut und Endtäuschung über die Menschen machte sich in unseren Herzen breit. Erst am Abend kamen wir auf die Idee, dass wir vielleicht auch die falschen verdächtigt hatten. Was wäre, wenn es sich bei dem Dieb gar nicht um einen Menschen, sondern um einen Storch gehandelt hatte, der in den Tüchern ein geeignetes Nestbaumaterial gesehen hatte? Erfahren werden wir es wohl nie.

Die letzten 7 Kilometer bis nach Nisa zogen sich wie Pizzakäse. Ob es nun 5, 6, 7 oder 8 Kilometer waren, können wir nicht mit Sicherheit sagen, denn jedes Straßenschild sagte etwas anderes und keines stimmte mit den Beschreibungen der Menschen überein. Doch Nisa begrüßte uns gleich auf die beste Art, mit der man von einer Stadt begrüßt werden kann. Wir liefen direkt auf eine Pension zu und der Besitzer lud uns ohne langes hin und her freundlich ein. Er hatte einige Jahre im Krügernationalpark in Namibia gelebt und freute sich daher über meinen Nachnamen. Seit seiner Rückkehr führte er nun das Residencial São Luis, eine kleine gemütliche Pension, mit klimatisierten Räumen. Etwas besseres hätte uns hier nicht passieren können. Er erzählte uns auch, dass Nisa ebenfalls auf einem Jakobsweg lag, wenngleich uns dieser nicht viel weiter half, da er ebenso wie der letzte von Süden nach Norden verlief. Dafür konnte er uns jedoch verraten, wo wir in der Stadt neue Fahrradschläuche und neues Flickzeug bekommen konnten. Für die nächsten Tage sind wir damit nun erst mal aus dem Schneider.

Am Abend trafen wir vor unserer Pension zwei Weltreisende, die mit dem Fahrrad unterwegs waren. Sie waren in Frankreich gestartet und hatten etwa die selbe Strecke zurückgelegt wie wir. Nun waren sie auf dem Weg in ein Ökodorf in der Nähe, das leider exakt in der Gegenrichtung zu unserer lag. Wir erfuhren von den Beiden außerdem auch einiges über das ‚Woofing’ – Working on organic Farms. Es ist ebenfalls eine Art zu Reisen, bei der man immer wieder auf Biobauernhöfen gegen Kost und Logis arbeiten kann. Die Idee an sich hörte sich nicht schlecht an, doch eine Sache machte uns an dem Konzept schon wieder stutzig. Wer nur die Seite im Internet besuchen will, auf der die Höfe und ihre Standorte zu finden sind, muss bereits 20€ im Jahr bezahlen. Das hört sich auf den ersten Blick noch nicht besonders fair an, denn schließlich geht es ja darum, seine Arbeitskraft anzubieten.

Wir quatschten den ganzen Nachmittag mit den beiden, bis wir uns schließlich trennen konnten. Dann brachen die Radfahrer in Richtung Ökodorf auf und wir zogen uns in unsere Pension zurück.

Spruch des Tages: Wo sind den diese 7,2 Milliarden Menschen, von denen immer alle sprechen?

 

 

Höhenmeter: 70 m

Tagesetappe: 29 km

Gesamtstrecke: 3917,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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