Tag 229: Singlewalk

von Heiko Gärtner
20.08.2014 22:51 Uhr

Einer der Gründe, warum Paulina aufgebrochen ist, um uns auf unserer Reise ein Stück zu begleiten, ist dass sie ihren eigenen Lebensweg finden möchte. Um ihr dazu die Gelegenheit zu geben, durfte sie gestern einen sogenannten Singlewalk machen. Ein Singlewalk oder auch eine Visionssuche ist eine uralte Methode der Selbstfindung, die von vielen verschiedenen indigenen Kulturen in ähnlicher Weise seit Jahrtausenden durchgeführt wird. Ich selbst habe einen solchen Singlewalk bei meiner ersten Ausbildung bei Heiko vor vier Jahren zum ersten Mal gemacht. Heiko seinerseits hatte es in mehreren Intensitätsstufen ebenfalls auf seinem Weg zum Wildnismentor durchlaufen.

Die Grundidee ist folgende: Der Schüler oder Visionssuchende geht alleine hinaus in die Wildnis und sucht sich dort einen Platz, von dem er sich angezogen fühlt. Dann fragt er den Platz sowie dessen geistige Hüter, ob er sich hier für eine Visionssuche niederlassen kann. Wenn er ein positives Gefühl oder ein positives Zeichen bekommt, macht er einen Kreis aus Mehl oder Reis auf den Boden, der gerade groß genug ist, dass er bequem darin sitzen kann. Im Osten bleibt eine kleine Lücke als Eingang. Dieser Kreis ist für den Zeitraum der Visionssuche, der Schutzraum, in dem der Suchende vor negativen Energien sicher ist. Er kann nun alle Helfer aus allen Welten einladen, um ihm bei seiner Erfahrung zu helfen, um ihm Zeichen zu geben und um das über sich selbst zu lernen, was es gerade zu lernen gibt. Dabei kann man mit einer gezielten Frage aufbrechen, oder auch mit einer Offenheit in verschiedene Richtungen.

Von nun an bleibt der Suchende auf genau diesem Platz sitzen. In der traditionellen Variante der Naturvölker dauert der Singlewalk im Schnitt sieben bis zehn Tage. Eine Zeit in der man ohne jede Nahrung, ohne Ablenkung und mit nur einem Liter Wasser pro Tag still auf diesem Platz sitzen bleibt. Auch geschlafen wird in der Regel nicht. Aufgestanden wird nur dann, wenn man pinkeln oder scheißen muss und auch dann darf man sich nicht mehr als 10m von seinem Kreis entfernen. Anschließend geht es direkt wieder zurück und man setzt sich wieder hin.

In der Zivilisations-Variante wird die Visionssuche meist etwas abgeschwächt. Zum Teil sind sie sogar soweit abgeschwächt, dass die Menschen mit Schlafsäcken, Isomatten und Regendächern rausgehen, dass die etwas zu essen und ausreichend zu trinken dabei haben und dass sie regelmäßig besucht werden. Für jemanden, der sich normalerweise nie in der Natur aufhält, kann auch das schon eine sehr intensive Erfahrung sein.

Bei leicht angepassten Varianten, bleiben die Suchenden ohne weitere Hilfsmittel im Wald, gehen jedoch einmal täglich zu einem Baum in der Nähe, um dort einen Faden aufzuhängen, der signalisiert, wie gut es ihnen geht. Der Mentor kommt dann jeden Abend an dem Baum vorbei und schaut, ob es dem Suchenden gut geht. Hängt kein Faden oder ein roter Faden am Baum, besucht er den Schüler am Platz. Dies ist absolut notwendig, denn die Erfahrung kann so intensiv und so heftig sein, dass sie für den Suchenden lebensgefährlich werden kann.

Für Paulina machten wir den Singlewalk natürlich keine sieben Tage lang. Das ist eine Zeit, in der man wirklich an all seine Grenzen kommt. „Am Anfang“, meinte Heiko, „kommt es einem vor, als würde jede Stunde so lang sein wie ein Tag. Nach vier Tagen dauert jede Stunde ungefähr ein Jahr. Die Sonne steht einfach still am Himmel und bewegt sich nicht mehr. Zeit verschwindet und es kommen alle seelischen Leichen in deinem Keller nach oben und sagen dir guten Tag. Von den 22 Teilnehmern, die mit mir den Singlewalk gestartet haben, haben ihn nur vier beendet. Alle anderen haben abgebrochen. Die ersten nach nur wenigen Stunden.“

Paulinas Singlewalk dauerte etwa 20 Stunden, von 13:00 Uhr am Nachmittag bis um 9:00 Uhr am Folgetag. Für den Anfang ist auch das schon eine lange Zeit. Damit sie sich in der unendlichen Steppe von Spanien nicht verlaufen konnte, suchten wir den Platz für sie gemeinsam aus und achteten dabei darauf, dass er in Ortsnähe lag und dass sie leicht zu uns zurückfinden konnte. Doch von ihren Erfahrungen soll sie lieber selbst berichten:

„Als Heiko mir berichtete, sie werden mich am Abend raus an einen Ort bringen, an dem ich die Nacht alleine verbringen sollte, war mir noch nicht bewusst was auf mich zukommen sollte. Es fühlte sich einfach nur nach einer neuen Herausforderung an. Die Nacht davor hatte ich mit ziemlich gemischten Gefühlen verbracht. Dass ich hier nicht auf Urlaub bin, sondern um zu lernen ist mir in der Theorie klar, jedoch ist die Praxis oft härter als man vorher vermutet. Ich musste mich in den letzten Tagen mit einigen unangenehmen Wahrheiten über mein Selbst auseinandersetzten. Um sein Sein anzuerkennen muss man erst mal sehen was wirklich da ist. Und das fühlt sich aktuell ziemlich bescheiden an. Die selbstbewusste starke Frau die ich sein will und versuche darzustellen ist in Wahrheit ein kleines verschüchtertes Mädchen, dass panische Angst vor Männern hat und einen im wahrsten Sinne Schutzpanzer um sich herum aufgebaut hat. Ich trage Masken und manipuliere um geliebt zu werden. Wer will schon so sein? Ich nicht und darum möchte ich alte Verhaltensmuster lösen, erkennen wer ich selbst wirklich bin und zu meiner eigentlichen Form im Innen und Außen zurück finden

 

Punkt 1 ist es mich meinen Ängsten zu stellen. Was dich nicht umbringt macht dich stärker. Also kleines Mädchen, auf in die Pampa!

 

Nicht, dass wir uns fast in die Hosen machen vor der Dunkelheit, dem Gefühl verlassen zu werden und einsam zu sein. Intuitiv spürte ich, dass nun die Chance gekommen war, mich diesen Ängsten zu stellen.

 

Gegessen hatte ich zu diesem Zeitpunkt ein paar Tomaten, Birnen und eine Nektarine. Sicher werde ich vor Hunger eingehen. Mit 1,75 L Wasser, meiner kurzen Kleidung am Körper, Isomatte, Regenponcho und drei Tüchern bewaffnet folgte ich den Jungs mit einem etwas mulmigen Gefühl raus aus dem Dorf. Mich begleiten Gedanken ob es wohl die richtige Entscheidung wäre, ob ich nicht frieren würde? Wieso habe ich so spontan eigewilligt? Kurz und knapp: ich hatte riesen Angst. Aber eher noch Angst vor der eigenen Courage oder noch mehr vor den Gedanken und vielleicht auch Visionen aus meiner Vergangenheit, die vielleicht hoch kommen könnten wenn man sich nachts alleine in der Natur aufhält.

 

Sie suchten einen Platz mit guter Energie unter einem Olivenbaum (Tobi: „Hat nicht Buddha unter einem Olivenbaum seine Erleuchtung gefunden?“) Was ist ein Platz mit guter Energie? Schwer zu erklären. Jedenfalls war es für mich der einzige Platz dort im Umkreis für mich an dem es sich gut anfühlte länger zu verweilen. Er war nicht weit vom Dorf entfernt, so dass ich von weitem die Häuser sehen konnte und im Extremfall nur einem mit Sträuchern umsäumten Weg folgen musste um zurück unter Menschen zu gelangen.

Ansonsten befand sich um mich herum nichts als Sträucher, verdorrtes Gestrüpp, Fels und ein paar tierische Begleiter. Nach einem kurzen für mich neuen Ritual baten Heiko und Tobias für mich um Schutz für die Nacht an diesem Ort. Währenddessen kam Wind auf, der mir direkt ins Gesicht blies. Für mich ein Zeichen, dass ich willkommen war.

So faltete ich meine Isomatte, so dass man bequem sitzen konnte und begab mich auf meinen Platz für die nächsten ca. 20 Stunden. Ich war dabei sehr aufgeregt, konnte wenig sagen und so beobachtete ich Tobi der meinen Platz umkreiste mit einer Spur aus Naturreis. Nur eine kleine Öffnung blieb offen, damit ich zum pinkeln den Kreis verlassen konnte. Normalerweise nimmt man wohl Maismehl aber das hatten wir nicht zur Hand. Dieser Kreis sollte als Schutz vor negativen Energien und Tieren dienen.

1m2 unter dem schönen Blätterdach eines Olivenbaums sollten nun mein Heim für die nächsten ca. 20 Std sein. Die Jungs verabschiedeten sich und wir machten aus, dass wir uns am nächsten Morgen am Schwimmbad träfen oder sie nach mir sehen werden, wenn ich nicht gegen 9:00 auftauche. Dabei hatte ich einen Kloß im Hals. Versuchte aber tapfer zu wirken.

 

Wunderbar. Paulinchen stellt sich ihrer nächsten großen Prüfung. Da ich es zuhause ja schon selten schaffe Zeit aufmerksam mit mir zu verbringen, stellen sich auch hier schnell erst Langeweile und Ungeduld ein. Ich zupfe an den Blättern um mich herum, sortierte meinen Schal und meine Socken um mich herum, zupfe an meiner Kleidung, etc... Bis ich mir dachte: Verdammt, wenn ich es keine 2 Std mit mir alleine aushalte, wie soll es dann irgendeine andere Person für womöglich längere Zeit?

 

Also wurde ich ruhiger und beobachtete erst mal was um mich herum da war: die drückende Wärme eines spanischen Nachmittags, ein großer Olivenbaum über mir, der mit einem Stacheldraht verletzt wurde, vor mir trocken bewachsene Hügel und hunderte kleiner schwarzer Arbeiter, die sich daran machten meine Schutz-Reis-Mauer abzutragen. Fasziniert beobachtete ich sie wie sie sich ohne sich beirren zu lassen ihre Beute über Stock und Stein hievten.

Da mich das Thema Ameisen auch am darauffolgenden Tag noch verfolgen sollte las Tobi für mich die Bedeutung dieser kleinen Tierchen vor. Grob gesagt stehen sie sinnbildlich für eine zersplitterte Persönlichkeitsstruktur. Es ist für mich essentiell diese Facetten meiner Selbst wieder zu einem Bild zusammenzufügen. Sprich, die kleine verletzte Paulina der Kindheit mit der Erwachsenen die auf der Suche nach ihrer wahren Identität ist. Die große hat vergessen mit der Kleinen zu kommunizieren und überhört sie ständig. Diese Erkenntnisse fühlen sich erst oft schmerzhaft an, wenn ich ihnen Raum gebe um sie zu prüfen und zu spüren was dran ist weiß ich immer wieder dass es ein Treffer ins Schwarze war.

Ich bewunderte weiterhin den Fleiß der Ameisen. Der Versuch, herauszufinden wohin sie die Reiskörner brachten blieb leider erfolglos. Da es mir doch etwas mulmig wurde, was denn mit mir passieren könnte, wenn dieser Kreis davon spaziert war, da er ja sinnbildlich für eine Schutzmauer stand die negative Energien abhalten sollte begann ich zu meditieren und schaffte mir so einen gedanklichen Schutzraum. Ich visualisierte mir eine Lichtkuppel um mich herum in meinem Fall lila.

 

So hing ich meinen Gedanken nach, betrachtete was kam und ging, sah unter anderem viele Schmetterlinge. Für mich steht der Schmetterling sinnbildlich für ein Wesen, welches es geschafft hat sein Raupendasein durch einen Prozess abzustreifen und zu etwas viel Schönerem, Luftig Leichtem zu werden. Ich strebe auch die Verwandlung zum Schmetterling erreichen, also von eine Entwicklung von der verpuppten Raupe die noch nicht das gefunden hat was ihr Sein zum Ausdruck bringt bis hin zum schönen Schmetterling der frei seinen eigenen Weg fliegt.

 

Plötzlich schüttelte es mich wie vom Blitz getroffen. Aus einem Tagtraum den ich hier nun schon zum zweiten Mal hatte wurde ich schlagartig zurück ins Bewusstsein gerufen. Mir war, trotz der immer noch hoch stehenden Sonne, kalt am ganzen Körper, ich fing an zu weinen und wimmerte vor mich hin „Ich will nicht sterben!“ Im Traum hatte ich zum wiederholten Male die Situation durchlebt, dass ich mir mit den Händen durch die Haare fuhr und diese in großen Büscheln abnehmen konnte bis nur nur mein kahler Kopf zurück blieb. Zurück unter meinen Olivenbaum. Mittlerweile hatte ich mein Zeitgefühl endgültig verloren. Während ich einige Zeit weinen da saß änderte sich die Situation ganz plötzlich und ich schrie “Ich will leben!“

 

Was bedeutet dieses Bild der ausfallenden Haare? Und was bedeutet es für mich? Zumal ich schon seit etwa 2-3 Jahren unter derart starkem Haarausfall leide, dass sich, wenn ich mir einen Pferdeschwanz binde, der Umfang dessen fast halbiert hat. Seit ich hier bin ist es sogar noch schlimmer geworden. Zum Einen erfuhr ich von Tobi und Heiko, dass Haare unsere Antennen zur geistigen Welt sind, welche bei mir gerade dabei sind in Massen abzusterben. Das ist kein gutes Gefühl, vor allem wenn ich doch dabei bin und genau diese Verbindung stärken und sie sensibilisieren möchte.

Zum Anderen las Tobi mir aus einem Buch über Traumdeutung vor, dass die primäre symbolische Bedeutung von Haarverlust stellvertretend für die Vitalität steht. Ausfallende Haare stehen somit für einen Verlust dieser Vitalität. Soll dieser Traum mir zeigen, wie es um meine Vitalität, um Lebensenergie steht?

Wenn ich die letzten Jahre betrachte, gab es viele Momente in denen ich gegen mich gelebt habe und oft eine große Verzweiflung gespürt habe, die anfangs nicht erklärlich für mich war. Ich hatte doch offensichtlich alles: Eine mal recht mal schlecht funktionierende Partnerschaft, eine schöne Wohnung, einen Job, eine Familie, Freunde... Und doch war da immer diese Sehnsucht nach Veränderung, nach einem „echten“ Leben, wozu ich aber nie den Mut aufbrachte, da meine Vorstellungen zu unkonkret waren und ich nicht erkennen konnte was mich so abhängig macht. Durch meine Jakobswege wurde diese Sehnsucht mich aus diesem Leben zu befreien nur noch stärker.

Ist daher dieser Traum so präsent? Fallen mir die Haare büschelweise aus weil sich meine Seele denkt, „Wenn du mich nun so lange nicht anhörst, nicht auf die stärksten Körpersignale, wie Schmerz und Krankheit reagierst, dann gehe ich eben?“

 

So saß ich da wimmernd mitten in der spanischen Nachmittagshitze und mir war immer noch eiskalt. So verließ ich meinen Kreis und setzte mich auf einen Fels in die Sonne. Durchatmen. Zur Ruhe kommen. Was ist da gerade mit mir uns meinem Körper los?

Ich spürte, dass mich dieser Traum und das Weinen viel Energie gekostet hatte und ich diese benötigte um wieder klar denken zu können und mich aufzuwärmen. Intuitiv kam mir der Gedanke, mich auszuziehen, dort auf meinem Felsen Richtung Sonne gerichtet sitzen zu bleiben und meinen Körper zu spüren wie er gerade da war. Was war da? Wut, Trauer, Angst? Wut über Verletzungen die mir zugefügt wurden, Trauer um meine Seele, die sich mehr und mehr zurück zog und Angst davor, zu spät dran zu sein um etwas zu ändern.

 

Zurück auf die Matte versuchte ich ein paar Mentalübungen unter anderem die, meinen Medizinkörper kennenzulernen und die Mittel der Tierkommunikation in die ich letztes Jahr Einblick erhalten durfte. Für die erste Übung setzte ich mich aufrecht in den Schneidersitz, atmete und begann mich zu entspannen. Heiko hatte mir nur erklärt, dass ich mir vorstellen soll in sieben Stufen hinab zu steigen und auf jeder Stufe etwas zurück lassen soll was ich ablegen möchte an Dingen die mich belasten, eigenen Verhaltensweisen etc. Ich scheiterte, da ich mich nicht auf sieben Dinge konzentrieren konnte und so versuchte ich die zweite Übung. Da ich nun komplett vom meiner Ameisenarmee umzingelt war fragte ich mich, ob sie es ok fanden dass ich da so mittendrin lag. Leider gelang es mir nicht einen Kontakt herzustellen, weil ich nicht in mir ruhend bleiben konnte.

 

Enttäuscht durchsuchte ich meine Hosentaschen. Ich durfte nichts dabei haben, aber vielleicht befand sich ja trotzdem etwas Nützliches darin. Hier bemerkte ich schmunzelnd selbst wieder meine Ablenkungssucht. Nicht-am-Ball-bleiben-können und lieber 100 Sachen gleichzeitig anfangen, bevor man eine mal richtig fertig macht. Wie im richtigen Leben. Ich fand den Wunschstein, den Heiko mir am ersten Abend gab, damit ich jeden morgen und jeden Abend meine Wünsche und Ziele zum Ausdruck bringen konnte. Außerdem befanden sich zwei Zettel auf denen jeweils „Ja“ und „Nein“ geschrieben stand, die Heiko am Vorabend verwendete um mich auszutesten.

 

Ich begann Fragen zu stellen ans Universum.

„Werde ich meine Berufung finden?“ Ja.

„Wird das bedeuten, dass ich dafür Menschen vor den Kopf stoße oder sogar verlieren werde, die ich liebe?“ Ja.

„Wir es eine Herausforderung?“ Ja.

 

Um einige zu nennen. Das klingt ja sehr vielversprechend. Hiermit nehme ich die Herausforderung an.

 

Ich versuche mir vorzustellen, wie es werden wird, sobald es dunkel wird. Und verbringe die Zeit bis dahin mit dämmrigem Bewusstsein, dem Beobachten von Vögeln die mich auf meinem Baum besuchen und meiner Ameisenarmee, die immer noch fleißig Reiskörner im Kreis Richtung des Baumstamms des Olivenbaums trugen.

 

Ich bin mir immer nicht sicher ob ich wach bin, in einem Tagtraum oder eingeschlafen. Hunger spüre ich keinen. Hellwach werde ich als hinter mir der Lärm einer spanischen Fiesta zu hören ist (bis spät in die Nacht). Anfangs finde ich es nicht so verkehrt, das Gefühl zu haben es sind Menschen in der Nähe aber irgendwann nervt es mich, denn falls eine Notsituation auftreten sollte, hört mich sowieso niemand. Ich merke dass ich mich gestört fühle beim fokussieren meiner Gedanken.

 

Schließlich werde ich erneut von einem Traum überrascht, welchen ich vor zwei Jahren schon einmal hatte. Ich traf in einem großen alten Herrenhaus auf meine mittlerweile verstorbene Großtante Ilse um mich von ihr zu verabschieden. „Du bist spät sagte sie , wandte sich ab und bedeutete mir, ich solle mich zu ihr ans Fenster stellen. Wir blickten gemeinsam auf eine weite trockene Landschaft. Sehr ähnlich wie diese in der wir uns aktuell befinden. Sie verabschiedete sich von mir mit den Worten: „Vergiss deine Gabe nicht!“ Als ich diesen Traum zum ersten Mal hatte deutete ich das Bild als Bild vom Jakobsweg, auf welchem ich mich zu dieser Zeit befand und die „Gabe“ als mein kreatives Talent, dass ich in meinen Beruf den ich gelernt hatte, umsetzten sollte. Ich war zu dieser Zeit sehr unsicher ob ich auf dem richtigen Weg bin und ob ich nicht etwas andere finden könnte. Heute nun kommt mir der Gedanke, ob nicht das Bild der Landschaft gleichbedeutend mit der „Gabe“? Ist es eine Bestätigung, dass ich hinaus in die Welt gehen soll, unterwegs sein soll um zu lernen und um meine Berufung, meine Gabe, zu finden und zu leben?

 

Fasziniert betrachte ich die während dessen hinter den Hügeln verschwindende Sonne. Was kommt nun? Das Unbekannte und alles was ich nicht sehen kann macht mir Angst. Da es kühler wird ziehe ich nach und nach alles an was ich dabei habe, Heikos Stein fest in der Hand. Ich habe das Gefühl, dass er mich schützt und mir Kraft gibt.

Eine weitere Frage stelle ich dem Universum: Werde ich diese Nacht durchhalten? Ja. Das ist schon einmal eine positive Nachricht, aber wie? Jetzt aber ich gerade 8-9 Std hinter ich gebracht und die Nacht wird noch einmal so lang. Puh...doofes Rambo-Ego.

Wieso tue ich immer nur so stark und manövriere mich dadurch in solche Situationen?

Jetzt? Hier? Ich möchte lernen, wie es ist wirklich mutig zu sein, denn ich bin kein großkotziger Ich-kann-alles-und-nichts-macht mir Angst-Typ, sondern ein verletzliches Mädchen, dass springt und springt um groß und stark zu werden, um sich in Zukunft gewappnet zu fühlen, dass niemand sich mehr traut ihm weh zu tun.

 

Weiter lausche ich dem Lärm der Fiesta und bin mir nicht sicher ob ich wach bin oder weg döse. Bis ich von einem lauten, für mich nicht definierbaren grunzend-knurrenden Geräusch und volle Bewusstsein gerufen werde. Hinter meinem Baum, etwa 1-2m unterhalb wühlen sich Tiere durchs Unterholz. Sie hören sich groß an. Mein Herz klopft bis zum Anschlag und Angst schnürt mir die Kehle zu. Was hatte Tobi nochmal über Wildschweine gesagt? Oh Mist... und wenn es die gab, was war dann nochmal mit den Skorpionen und war das mit der Klapperschlange Ironie? (Da bin ich mir bei den zwei Jungs manchmal nicht so sicher) Ich versuche zu atmen, mich zu beruhigen, nicht panisch zu werden und zu vertrauen, dass es einen Sinn hat, gerade jetzt hier zu sein und meine Reise morgen weitergehen wird. Und siehe da: die Angst geht sobald ich ihr einige Zeit Raum gegeben habe um da zu sein. Das ist eine sehr interessante Erfahrung die ich nur jedem ans Herz legen kann, da wir uns meistens Situationen entziehen die uns Angst machen und uns somit in unserer Lebensqualität einschränken.

 

Solche Momente erlebe ich in dieser Nacht noch einige Male, die Schnaken finden ihren Weg durch meine Kleidung und Tücher aber ich fühle mich gut. Mein Wasser teile ich mir ein obwohl ich gefühlt alles auf einmal trinken könnte. Hunger taucht kaum auf. Noch schöner ist immer wieder der Gedanke, wie dankbar ich bin überhaupt hier sein zu dürfen und im besten Falls morgen wieder um eine Erfahrung reicher geworden zu sein. Als das nervig laute Feuerwerk, der Lärm der Fiesta langsam abklingt, wird es still und einsam. Die Nachtluft ist angenehm, ein paar Grillen, Geraschel, und ab und an ein Windhauch zu spüren.

 

Einmal erwache ich, von einem leise fiependen, quietschend atmenden Geräusch. Erst war ich ähnlich wie vorher erst ängstlich, aber vermutlich war es nur eine kleine Maus die in meinen Kreis gehuscht kam und versucht hat mir direkt was ins Ohr zu flüstern. Ich wünschte ich hätte sie verstehen können.

 

Ich beobachte den Mond, wie er wandert, döse immer wieder ein und nehme schließlich wahr, wie sich hinter den Hügelspitzen die Atmosphäre verändert. Ein erleichtertes und gleichzeitig glückliches Gefühl macht sich breit. Sollte das heißen, ich habe es tatsächlich geschafft? Fasziniert versuche ich das Bild der ersten Sonnenstrahlen zu bannen wie sie über die Bergkuppe blitzen. Wie viele Scheinwerfer, die gelichzeitig den Berg von hinten bestrahlen und in den blass rosa –blauen Himmel strahlen. Jetzt eine Kamera. Aber erstens habe ich keine zur Hand und außerdem habe ich das Gefühl dass ich diesen Weg nicht in Bildern, sondern in meinem Herzen festhalten sollte. So kommt es, dass ich bisher eine Handvoll Bilder gemacht habe, mein Handy aber nun den ganze Tag im Rucksack verstaut habe. (Sorry an alle denen ich bisher auf keine Nachricht geantwortet habe. Ich benötige diese Zeit gerade für mich. Es geht mir gut und ich lebe noch).

 

Es war ein schönes Gefühl diesen Tag und diese Nacht erlebt zu haben. Als Abschluss versuche ich noch einmal die Übung mit meinem Medizinkörper.

 

Was ich Stufe für Stufe ablegen möchte:

Stufe 1: Meine eigene Überheblichkeit

Stufe 2: Manipulatives Verhalten

Stufe 3: den Wunsch immer geliebt werden zu wollen

Stufe 4: Unachtsamkeit

Stufe 5: ungesunde Ernährung

Stufe 6: meinen kranken Körper

Stufe 7: Menschen und Dinge, die mich davon abhalten mein Sein anzunehmen und meine Berufung zu finden.

 

Dieses Mal gelingt es mir mich zu entspannen und etwas zu visualisieren. Ich sehe von Weitem in einem dunklem Raum einen bleichen, liegenden Körper. Ich nähere mich langsam und betrachte betrachtete ihn. Es war mein Eigener. Er lag kalt und leblos vor mir denn ich hatte ihn verlassen.

Bei dieser Erkenntnis änderte sich das Bild. Ich sah eine große, muskulöse, sehr weiblich wirkende, starke Frau mit dunkler Haut und vollem Haar die barfuß und würdevoll durch trockene Landschaft lief. Mich durchfuhr eine sehr positive Energie und ein Gefühl von Kraft. Zum Einen strahlte diese Person eine sehr große Ruhe und zugleich auch eine große Entschlossenheit und Kraft aus. Außer Frage stand, dass niemals jemand wagen würde diese Frau zu verletzen oder sie sich einschüchtern lassen würde.

 

Ich sah die Frau die ich gerne sein möchte oder besser gesagt, die ich in meinem Herzen bin – ich bin eine Indianerin.“

Wir verbrachten die Zeit währenddessen in unserem Casa Rural Los Caños, kochten uns ein leckeres Essen in der großen Wokpfanne und recherchierten einige neue Fakten über Handystrahlung und Elektrosmog. Ein Thema, das auch wieder viel größer ist, als wir dachten. Am nächsten Morgen holten wir Paulina wieder ab. Dann bekamen wir bei ‚tradys supermercados’ noch eine Riesenportion Wasser für den Weg. Der Supermarkt gehörte einem Neffen unserer Hotelbesitzerin und diese hatte ein gutes Wort für uns eingelegt.

Auf dem weiteren Weg bis nach Escalona del Alberche reflektierten wir gemeinsam den Singlewalk und gingen auch auf einige andere Themen noch tiefer ein. Ähnlich wie eines meiner Hauptthemen der Schritt in die Männlichkeit war, war ein zentrales Thema von Paulina, ihren Weg ins Frausein zu finden. Auf dem Weg sollte sie uns erklären, wie sie das machen wollte, wobei wir in die Rollen von 4-jährigen Mädchen schlüpften und so lange fragten, bis wir es wirklich verstanden. Wie Heiko es oft zuvor bei mir gemacht hatte, stellten wir nur Fragen und ließen Paulina ihre Erkenntnisse selbst finden. Und wie bei mir war es auch für sie eine äußerst harte Lektion. Als wir später zu zweit durch den Ort gingen um nach einem Hotel zu suchen, war sie in der gleichen Stimmung, die ich auch von mir nur allzu gut kannte. Es war eine Mischung aus Trauer und Unwohlsein, aus Selbstmitleid und dem Gefühl, sich irgendwie schlecht zu fühlen auf der einen und aus Erleichterung und dem Gefühl sich selbst einen Schritt näher gekommen zu sein auf der anderen Seite. Es war das Gefühl, zum ersten Mal in einen Spiegel geschaut zu haben und sich selbst mit allen Schattenseiten zu sehen. Es war hart und unangenehm, aber es war der Weg zur Selbsterkenntnis. Zumindest ein kleiner Schritt davon.

Ein Hotel gab es in Escalona nicht, dafür aber eine Schule in der ein Raum als Pilgerherberge eingerichtet worden war. Ein Polizist auf einem Motorrad brachte uns den Schlüssel und wir hatten den Raum für uns alleine. Er war mit Abstand nicht so schön wie unser Casa Rural aber es war ein annehmbarer Schlafplatz.

Hier hatten wir nun auch Gelegenheit nachzuschauen, wofür die Ameisen standen, die Paulinas Reis davongetragen haben:

Die Kernaussage der Ameise ist die Ganzheitlichkeit. Wer ihr in einer außergewöhnlichen Situation begegnet sollte sich fragen, warum es ihm so schwer fällt, die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit in Einklang zu bringen. Unser Buch sagt weiterhin folgendes: „Wahrscheinlich hast du dir für deine unterschiedlichen Persönlichkeitsaspekte sogar Räume geschaffen, die vollkommen unabhängig voneinander sind. Vielleicht glaubst du, dass du bei denen Freunden, bei deiner Familie, bei deinem Yoga-Kurs oder in deinem Sportverein jedes mal ein vollkommen anderer Mensch bist. Du erlaubst es dir selbst nicht, deine ganze Persönlichkeit zu zeigen, sondern präsentierst verschiedenen Menschen immer nur einen kleinen Teil davon. Hast du vielleicht Angst, dass du nicht mehr geliebt wirst, wenn deine Mitmenschen erkennen, was noch alles zu dir gehört? Warum hast du das Gefühl, bestimmte Neigungen, Interessen, Vorlieben, Leidenschaften, Träume, Wünsche, Ideen und Eigenschaften vor einigen Menschen verstecken zu müssen?

Diese Persönlichkeitsspaltung kann im kleinen Stattfinden, zum Beispiel in dem du versuchst, deine Meinungen, Gedanken und Gefühle vor anderen zu verbergen und zu verstecken, weil du Angst hast, dann vielleicht nicht mehr dazuzugehören. Es kann aber auch sein, dass du wirklich viel Kraft und Energie aufbringst, um ein regelrechtes Doppelleben zu führen, bei dem du verschiedene Aspekte deiner Persönlichkeit gezielt von einander trennst, so dass du dir zwei oder mehr unabhängige Lebensbereiche aufgebaut hast. Egal welcher Art deine Zersplitterung in deiner eigenen Persönlichkeit auch ist, du leidest wahrscheinlich sehr viel stärker darunter, als du dir selbst eingestehen möchtest. Das liegt daran, dass du immer einen großen Teil von dir selbst verleumdest und ihn von dir abspaltest. Die Ameise fordert dich dazu auf, dich wieder als ganze Person mit allen Aspekten anzunehmen. Das heißt nicht, dass du sofort damit beginnen musst, jedem Menschen all deine Facetten zu offenbaren. Dies ist ein wichtiger Schritt, doch zunächst geht es darum, diese Facetten für dich selbst anzunehmen. Lerne zu allen deinen Persönlichkeitsaspekten zu stehen, lerne sie zu lieben und sie zu genießen und erkenne, dass alles gemeinsam die Ganzheit deiner Persönlichkeit ausmacht. Du bist ein Mosaik aus lauter wertvollen Steinen und jeder dieser Steine hat seine Berechtigung. Nur wenn du jeden von ihnen annimmst, kann das Gesamtbild vollkommen sein. Nimm dieses Bild liebevoll an und erkenne, dass du ein wunderbarer Mensch bist. Es gibt keinen Grund, Teile davon zu verstecken.“

Genauer hätte man ihre Situation nicht beschreiben können.

Nach der vielen seelischen Arbeit, folgte dann am Nachmittag noch eine harte Lektion, die jedoch auf der körperlichen Ebene stattfand. Heiko uns ich hatten uns schon öfter mal eine Lymphmassage verpasst. Dabei wird die Haut mit den Fingern ein Stück angehoben und eng zusammengepresst. Durch diese Technik zerdrückt man die großmolekularen Fettgewebszellen, die sich im Bindegewebe angelagert haben. Es sind jene Zellen, in denen der Körper die Giftstoffe ablagert, die er nicht ausscheiden kann. Durch die Massage werden die Lymphe dazu angeregt, die Stoffe abzutransportieren, und die Fettzellen können abgebaut werden. Dies ist vor allem dann hilfreich, wenn man das überzählige Fettgewebe loswerden will oder wenn man eine Bindegewebsschwäche auskurieren möchte. Es ist auch eine der wirkungsvollsten Methoden gegen Zellulite. Der einzige Nachteil bei dieser Massage ist, dass sie saumäßig weh tut. Das stimmt nicht ganz. Sie ist absolut harmlos, wenn man keine eingelagerten Gifte und kein verbackenes Gewebe hat. Je mehr Toxine und Fettzellen sich jedoch im Bindegewebe eingelagert haben, desto stärker ist auch der Schmerz, den die Massage verursacht.

Nach wenigen Minuten konnte ich bei unseren Versuchen die Schmerzensschreie nicht mehr unterdrücken. Oft habe ich die Massage keine zehn Minuten durchgehalten. Heiko ging es nie viel besser, wenngleich er durchaus etwas besser darin ist, in den Schmerz zu atmen, so dass er es länger aushält. Vor Paulina jedoch bekamen wir beide absoluten Respekt. Sie schrie zwar wie ein Schwein am Spieß und war kurz davor ein Kissen so sehr zu zerbeißen, dass die Federn flogen, doch sie zog die Massage bis zum Ende durch. Sowohl Heiko als auch ich hätten definitiv vorher aufgegeben.

Spruch des Tages: Nur wer sich selbst liebt, kann auch von anderen geliebt werden.

Höhenmeter: 190 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 4515,97 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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