Tag 230: Gestalttherapie

von Heiko Gärtner
20.08.2014 23:19 Uhr

Zu allererst muss ich einen großen, tragischen und äußerst schmerzlichen Verlust melden! Nach nur drei Tagen ist mein neuer Schnauzbart von uns gegangen. In der Früh habe ich ihn noch an meinen Wagen gehängt, doch bei der Ankunft war er verschwunden. Irgendwo auf dem Weg hat er seine Freiheit in der Steppe Spaniens gesucht. Möge er dort sein Glück finden! Er hat mir für einen kurzen Augenblick ein seriöses und sehr männliches Aussehen verliehen und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein! Mögest du in Frieden ruhen oder noch besser, einem anderen Mann die charmante Aura eines geschäftigen Adelsmannes aus dem 19. Jahrhundert verleihen. Und falls das nicht dein Ding ist, dann ist es für mich auch OK, wenn du einer holden Maid als beeindruckender Damenbart dienst!

Der gestrige Abend war noch um einiges ereignisreicher, als wir zunächst vermutet hätten. Im Gespräch mit Paulina kamen einige Themen aus ihrer Kindheit auf, die sie bis heute beeinflussen, und die sie gerne lösen wollte. Um das zu erklären, muss ich zunächst einen kleinen Schritt zurück gehen und etwas über das sogenannte „Inner Child Syndrom“ sagen.

Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens und vor allem während seiner Kindheit viele unterschiedliche Erfahrungen, die ihn positiv und negativ beeinflussen. Leider leben wir in einer Kultur, in der diese Erfahrungen in der Regel niemals aufgearbeitet werden. Das ganze beginnt bereits mit der Geburt. Wenn eine Aborigine-Frau ein Baby bekommt, dann findet die Geburt im halbdunkel in der Frauenhütte statt, in der sie die Frauen des Dorfes auch zur Menstruationsphase versammeln. Die Mutter ist umgeben von den anderen Frauen und es herrscht eine ruhige und entspannte Atmosphäre. Zur Geburt liegt die Frau nicht etwa auf dem Rücken, sie steht, so dass die Schwerkraft ihr bei der Geburt helfen kann. Ihr Unterleib kann sich in alle Richtungen ausdehnen, so dass keine Nerven und Venen abgeklemmt werden und das Kind Platz hat, um schmerzfrei in die Außenwelt zu gelangen. Nach der Geburt bleibt die Nabelschnur noch eine Dreiviertelstunde als Verbindung zwischen Mutter und Kind bestehen. Die Schnur ist genau so lang, dass die Mutter das Kind auf ihr Herz legen kann. Dieser Zeit wird das Kind noch immer über den Blutkreislauf der Mutter mit Sauerstoff versorgt. Dadurch haben die Lungenflügel alle Zeit, die sie brauchen, um sich langsam und schmerzfrei zu entfalten. Das Kind, das den ersten großen Schritt auf die Welt gemacht hat spürt, dass es noch immer mit der Mutter verbunden ist. Gleichzeitig können die Pheromone ausgetauscht werden, so dass sich Mutter und Kind ihr Leben lang sicher erkennen werden und keine Angst vor einem gegenseitigen Verlust haben müssen.

Und wie findet eine Geburt bei uns statt?

Wenn die Wehen einsetzen geraten die Eltern als aller erstes einmal in Panik, stressen sich gegenseitig, hetzen ins Krankenhaus und stoßen dabei so viel Adrenalin aus, dass das Kind schon schockiert ist, bevor es überhaupt losgegangen ist. In der sterilen Atmosphäre des Krankenhauses liegt die Frau dann auf dem Rücken, do dass sich ihre Beckenknochen nicht verschieben können. Auf seinem Weg nach draußen muss das Baby nun erst einmal Bergauf bis zum Scheidenausgang und damit das gelingt muss die Mutter pressen, was das Zeug hält. Stellt euch das am besten noch einmal aus der Perspektive des Babys vor. Neun Monate lang wart ihr in einem gedämpften, warmen Schutzraum, in dem es euch gut ging und in dem es euch an nichts fehlte. Der Bauch der Mutter hat 60% der Lautstärke von außen abgeschwächt, so dass ihr immer in einer relativen Harmonie vor euch hinschwimmen konntet. Jetzt werdet ihr mit einem Mal nach draußen gepresst. Ihr hört die Schmerzensschreie eurer Mutter und das aufgeregte Gekreische der Hebamme, die Dinge wie „Pressen! Pressen! Pressen“ schreit. Im Hintergrund piepen irgendwelche elektrischen Geräte, die den Gesundheitszustand überwachen sollen. Und all dies ist mehr als doppelt so laut, wie alles, was ihr je zuvor gehört habt. Das grelle, kalte Licht der Leuchtstoffröhren scheint euch direkt in die Augen und noch ehe ihr recht verstanden habt, was hier geschieht, kommt jemand und hackt die Verbindung zu eurer Mutter mit einem Schlag ab. Ihr seit noch nicht in der Lage, selbstständig zu atmen und der Sauerstoff in eurem Blut wird geringer. Plötzlich spürt ihr unvermittelt einen harten Schlag auf eurem Hintern. Ihr erschreckt euch so sehr, dass ihr mit einem plötzlichen Stoß einatmet. Eure Lungenflügel, die sich über 45 Minuten langsam eröffnen müssten, werden in nur einer Sekunde aufgesprengt. Ein unvorstellbarer Schmerz durchfährt euren ganzen Körper und ihr beginnt unverzüglich zu weinen. Unter dem Schmerz hört ihr wie aus einer anderen Welt das Jubeln eurer Eltern, die sich über ihren neuen Liebling freuen.

Merkt ihr, dass es da einen Unterschied gibt?

Noch bevor wir also überhaupt nur atmen konnten haben wir also bereits das erste Trauma unseres Lebens erfahren. Von nun an geht es in ähnlicher Weise weiter. Neun Monate lang haben unsere Eltern der Schöpfung vertraut, dass wir in ihrem Bauch zu einem gesunden und fähigen Menschen heranwachsen. Nie gab es die Sorge, wir könnten vielleicht ein Frosch oder eine Giraffe werden. Doch jetzt, wo wir auf der Welt sind, ist mit diesem Gottvertrauen in der Regel Schluss. Aus ihrem eigenen Leben haben die Eltern zu viele Ängste und Sorgen mitbekommen, um sich einfach so auf die Schöpfung zu verlassen. Die Kernaussage lautet in etwa: „Danke Schöpfung, dass du unser Kind bis hierhin umsorgt hast, aber ab jetzt übernehmen wir!“

Von nun an wird alles überprüft und gemessen, was das kleine Kind macht. Wiegt es zu viel oder zu wenig? Fängt es zur richtigen Zeit mit dem Sprechen an? Isst es anständig? Und so weiter und so fort.

Als Kinder haben wir die Möglichkeit, alles was wir hören, sehen und erleben, als unumstößliche Wahrheit anzunehmen. Auf diese Weise lernen wir die Welt zu verstehen. Das bedeutet jedoch auch, dass uns jede Sorge und jede Angst unserer Eltern oder anderer für uns wichtiger Menschen, von unserem Lebensweg abbringen kann. Ein Satz wie: „Hör mit dem schrecklichen Gegröle auf, das tut ja in den Ohren weh!“ kann ausreichen, dass das Kind sein Leben lang davon überzeugt ist, nicht singen zu können. Vielleicht war das Singen eines seiner größten Gaben, doch durch die Angst, seiner Mutter damit Schmerzen zuzufügen, wird es sie vielleicht für immer vergraben und nie wieder nutzen. Ein Satz der mich in meiner Kindheit auf diese Weise geprägt hat, war der folgende: „Eines Tages wirst du eh eine Freundin haben und nur noch sie umarmen und dann brauchst du mich ja nicht mehr!“ Diesen Satz sagte meine Mutter eines Tages, als ich mich vor der Schule mit einer Umarmung von ihr verabschieden wollte. Er war der Ausdruck ihrer eigenen Angst vor dem Verlassen werden, doch in mir führte er dazu, dass ich mir schwor, niemals eine Freundin zu haben, weil ich meine Mutter sonst verletzen wollte. Es dauerte ewig, bis mir der Glaubenssatz bewusst wurde und ich zumindest bewusst aufhören konnte, Frauen aus meinem Leben direkt abzustoßen. Doch unbewusst ist er noch immer in mir verankert und er führt bis heute dazu, dass ich eine Freundschaft-Schubladen-Aura ausstrahle, mit der ich von nahezu jeder Frau innerhalb von Sekunden als potentieller Sexualpartner ausgeschlossen werde.

Im Laufe unseres Lebens verknüpfen sich unsere Erfahrungen zu einem Weltbild, zu Glaubensmustern, Wahrnehmungsfiltern und Verhaltensmustern, die unser ganzes Leben bestimmen. In unserer Kindheit sind die Bahnen in unserem Gehirn noch flexibel, doch im Laufe unseres Lebens werden sie immer fester und starrer. Dadurch wird es immer schwerer, Verhaltensmuster abzulegen, die uns schädigen und mit denen wir uns selbst im Weg stehen. Daher sind die Verletzungen, die wir in unserer Kindheit erfahren haben immer auch diejenigen, die uns am stärksten prägen.

Tamarack, ein Indianerhäuptling aus Nordamerika, den Heiko einmal besuchen konnte, sagte ihm damals, dass er davon überzeugt war, dass wir alle Krankheiten heilen könnten, wenn wir nur die Traumata und Verletzungen unseres inneren Kindes auflösen und heilen können.

Die Arbeit mit dem Inneren Kind, also mit unserer eigenen Kindheit ist eine der härtesten und intensivsten, die man überhaupt machen kann. Denn alle negativen Erfahrungen, die wir als Kinder nicht verkraften konnten, haben wir tief in unserer Seele verdrängt. Das war ein wichtiger Schritt, denn sonst wären wir als Kind an diesem Leid zerbrochen. Wenn wir jedoch die daraus resultierenden Verhaltensmuster auflösen wollen, dann müssen wir verstehen, warum wir sie angenommen haben. Und dazu müssen wir uns den alten Situationen noch einmal stellen.

Um mit Kindheitstraumata zu arbeiten gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden. Eine besonders effektive und intensive ist die sogenannte Gestaltungstherapie, die nicht ohne Grund nur selten angewandt wird. Wir haben sie einige Male in unseren Ausbildungen mit den Teilnehmern gemacht und es war jedes Mal eine unglaublich tiefe Erfahrung, die viel in Bewegung brachte.

Gestern Abend machten wir diese Übung nun mit Paulina. Bevor ich sie beschreibe, muss ich dazu sagen, dass es nichts ist, was man zu hause einfach nachmachen sollte. Es ist eine hochbrisante Übung für die es einen erfahrenen und absolut aufmerksamen Mentor braucht, der genau einschätzen kann, wie weit er mit dem Klienten gehen kann und der das, was durch die Übung ausgelöst wird, auch wieder auffangen kann.

Ungünstiger Weise befand sich unsere Pilgerherberge direkt neben der Dienststelle der spanischen Staatspolizei und da wir keine Lust hatten, durch ein ungünstiges Missverständnis verhaftet zu werden, suchten wir uns lieber einen Platz, der etwas weiter weg lag. So eine Gefängniszelle war zwar auch schön warm und trocken und die Betten wären wahrscheinlich nicht unbequemer gewesen, als die in der Herberge, aber auf unsere Freiheit wollten wir nur ungern verzichten.

Auf einem Hinterhof stellte Heiko seinen mitgebrachten Stuhl auf und nahm Platz. Er war in der Übung der Mentor, der alles von außen beobachtete und der den sicheren Raum hielt. Paulina war Paulina. Ich war der Konfliktpartner, der in ihrer Kindheit eine traumatische Situation ausgelöst hat, gegen die sie sich damals nicht gewehrt hatte. Auf ihre Geschichte werde ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Ich werde stattdessen bei der Beschreibung der Übung an sich bleiben.

Im Laufe der nächsten eineinhalb Stunden wechselte ich in verschiedene Rollen. Die ersten waren Menschen, die Handlungen ausgeführt hatten, durch die Paulina auf körperlicher, seelischer oder geistiger Ebene gelitten hatte. In der Ursprungssituation hatte sie dabei eine Opferhaltung eingenommen und das Leid einfach über sich ergehen lassen. Jetzt bekam sie die Gelegenheit, die Situation noch einmal zu durchleben und sich zu wehren. Das bedeutete für mich, dass ich verbal und physisch einige Male eins aufs Maul bekam. Doch gleichzeitig wurde deutlich, wie schwer es ihr noch immer fiel, für sich selbst einzustehen. Nach und nach gelang es ihr immer mehr, ihre eigene Vergangenheit und damit auch ihre eigene Persönlichkeit in der Gegenwart zu verstehen. Schließlich wechselte ich in die härteste aller Rollen: Ihr eigenes inneres Kind. Hartnäckig und ohne Ausflüchte wollte ich von ihr wissen, was sie ab sofort tun würde, um mich vor neuem Leid zu beschützen. Die erste Idee war es, eine knallharte Kriegerin zu werden, die nie wieder Leid an sich heranlassen wollte. Doch bedeutete dies für das innere Kind nicht, dass es in einen sicheren, aber dunklen Kerker geworfen wurde, in dem es nie wieder spielen durfte? Erst als sie das verstanden hatte, konnte sie erkennen, dass Stärke nicht aus Härte, sondern aus Durchlässigkeit entstand. Es ging nicht darum zu versteinern, sondern bewusst, aufmerksam und flexibel zu werden, um die Zeichen ihres Körpers, ihrer Intuition und ihrer inneren Stimme rechtzeitig zu hören um Gefahren gar nicht erst heraufzubeschwören.

Nach der Übung ging es ans Kochen. Ich habe es vielleicht schon einige Male am Rande erwähnt, aber ich muss noch einmal wirklich klar ausdrücken, wie Dankbar wir im Moment für das Essen sind, das wir bekommen. Wir ernähren uns nun bereits seit Wochen vom frischesten Gemüse und Obst, das man sich vorstellen kann. Dazu bekommen wir oft Eier von Hühnern aus eigener Haltung und manchmal sogar das Fleisch der glücklichen Hühner selbst. Das Obst ist oft noch voll von der Wärme der Sonne, die ihm ihre Energie geschenkt hat. Gemeinsam mit den Algen zur Körperreinigung die wir geschenkt bekommen haben und mit der täglichen Bewegung geben wir so unserem Körper die Möglichkeit zur Heilung, Entgiftung und Regenerierung, wie nie zuvor in unserem Leben. Heute beispielsweise haben wir einen Feigenbaum mit reifen Feigen erwischt! Stellt euch das vor! Die saftigen, zuckersüßen Früchte direkt vom Baum zu naschen, bis einem fast schlecht wird. Und dann kamen wir auch noch an Weinfeldern vorbei, auf denen die Trauben nun ebenfalls endlich reif sind! Und eine Wassermelone haben wir gefunden. Das ist doch der Knaller, oder nicht! Stellt euch an dieser Stelle bitte Heiko-, Paulina- und Tobias-Strichmännchen vor, die über diesen Bildschirm tanzen.

Als wir heute morgen aufwachten, spürte Paulina, dass sie eine leichte Blasenentzündung bekommen hatte. Es war verblüffend, denn die Blase stand auf der psychologischen Ebene für die Beziehungen und für die Tränen, die man auf normalem Wege nicht hatte weinen können. Dass es genau jetzt auftauchte, wo ihr die ganzen unterdrückten Gefühle bewusst wurden, zeigte noch einmal, wie stark diese Verbindungen zwischen Körper und Seele bestehen. In unserem Buch „Krankheiten auf einen Blick erkennen“ haben wir dazu folgende Fragen geschrieben: „Warum habe ich das brennende Bedürfnis, alten Seelenballast loszulassen? Was setzt mich innerlich unter Druck? Welchen seelischen Druck verdränge ich? Warum staue ich meine Gefühle und Probleme so lange an, bis sie einen schmerzhaften Druck in mir aufbauen? Welche alte Trauer habe ich noch nicht verarbeitet, sodass die ungeweinten Tränen nun in meiner Blase brennen? Warum habe ich Angst davor loszulassen?“ Ein bisschen waren wir sogar über uns selbst überrascht, wie genau diese Fragen das Thema von gestern Abend trafen.

Um die Blasenentzündung nicht zu einem wirklichen Problem werden zu lassen, suchten wir in einer Apotheke nach einem pflanzlichen Heilmittel.

„Sie hat Schmerzen beim Pinkeln, ich weiß nicht genau wie man das auf Spanisch erklärt, aber sie hat ein Problem mit diesem einen Organ im Körper. Sie wissen schon, diese Tüte in der sich der Urin sammelt, bevor man pinkeln muss“, erklärte ich in professionellem Spanisch.

Der Apotheker hatte keine weiteren Informationen als diese und reagierte mit folgender Aussage: „Da kann ich ihnen nicht helfen! Da müssen sie ins Krankenhaus und sich Antibiotika verschreiben lassen!“

„Haben sie nichts Pflanzliches?“ fragte ich

„Doch, aber das wird ihnen nicht helfen! Das Zeug funktioniert eh nicht und außerdem kostest es 22€“

Er holte eine Packung mit Cranberry-Capseln aus dem Regal und hielt sie uns hin.

„Sauber!“ sagte Heiko, „das ist genau das, was wir brauchen!“

Wir bezahlten und gingen zurück auf die Straße.

„Ich glaube ich habe gerade noch einmal einiges verstanden!“ begann Heiko, als wir zurück zu unseren Wagen gingen.

„Ich auch!“ bestätigte ich.

„Ist es nicht krass, wie die Menschen hier auf die Schulmedizin gedrillt werden?“ fuhr er fort. „Er hat nicht einmal eine Ahnung, worum es geht und will uns auf jeden Fall Antibiotika verticken. Und dann sind die Alternativen hier auch noch so teuer, dass sie sich niemand leisten kann. Das erklärt auf jeden Fall den immensen Tablettenkonsum und den schlechten Gesundheitszustand der Menschen hier!“

Ich nickte. Genau das hatte ich auch gerade gedacht.

Während der Wanderung blies uns ein permanenter, starker Wind ins Gesicht. Er war wieder wie ein Föhn, der ununterbrochen aus der gleichen Richtung kam und der dazu führte, dass wir uns gegenseitig kaum mehr verstanden. Hatten wir das gleiche Wetterphänomen nicht vor einiger Zeit schon einmal? Als Heiko und ich später darüber sprachen, fiel uns auf, dass der Wind immer dann aufgekommen war, wenn die Themen mit meinen Eltern am stärksten in mir gebrodelt hatten. Und jetzt, wo es bei Paulina ums Loslassen von alten Themen aus der Vergangenheit ging, war der gleiche Wind wieder da. War es nur ein Zufall, oder steckte mehr dahinter? Darell hatte immer gesagt, dass der Wind genau wie alle anderen Elemente seine spezielle Aufgabe hatte. Eine der Aufgaben des Windes war es, alte, belastende Energien aus dem Körper heraus zu pusten und mit sich mitzunehmen, so das etwas Neues kommen kann. War der Wind also jetzt im Moment vielleicht wirklich unseretwegen hier?

In Casar de Escalona trafen wir als erstes auf einen Polizist, der uns mitteilte, dass es in diesem Ort kein Hotel und keine Pension gab. Der Pfarrer würde erst in einer guten Stunde kommen und so lange konnten wir uns hier im Schatten ausruhen. Er würde in der Zeit auf unsere Sachen aufpassen. In einer Bar wurden wir von der Chefin auf einen Salat und Spiegeleier mit Pommes eingeladen. Dabei wurden auch zwei Männer auf uns aufmerksam. Der eine war Journalist und stand in gutem Kontakt zum Pfarrer. Wärend wir aßen organisierte er uns bereits den Schlafplatz für die Nacht. Der andere war ein lustiger aber sehr einsamer älterer Herr, der viele Jahre lang in Deutschland gelebt hatte. Er freute sich wie ein Schnitzel, endlich wieder Deutsch sprechen zu können und erzählte lauter Anekdoten aus seiner Vergangenheit. Das wir als Deutsche kein Bier trinken wollten zerstörte ein Weltbild für ihn, aber nach einer kurzen und hitzigen Diskussion in der wir uns als spießige Antialkoholiker ohne Sinn für guten Weizensaft outeteten, ließ er sich überreden, die Getränkeeinladung auf drei Gläser Saft umzumünzen. Auch der Mann bot uns an, dass wir in seinem Haus übernachten konnten, doch wir entschieden uns letztlich für den Kirchenraum. Er war ein wirklich lieber Kerl, doch wir hätten ihm niemals erklären können, dass wir zwischendurch auch Zeit für uns brauchten.

Kurze Zeit später führten uns der Journalist und der Pfarrer in ein Gemeindehaus. Es gab hier leider weder Toiletten noch Duschen, dafür aber ein riesiges Warenlager der Caritas mit Essensspenden, an denen wir uns frei bedienen durften. Das meiste passte nicht in unseren Speiseplan, aber bei einigen Dingen handelte es sich um genau die Zutaten, die wir uns am Nachmittag gewünscht hatten. Mit den Feigen wollten wir ein Thai-Curry-Gericht machen, doch dazu brauchten wir irgendeine Art von Sauce. Und jetzt stand im Kühlschank nicht nur eine Reismilch, sondern auch noch ein Ananassaft. Dazu Oliven, Kichererbsen, Öl, Eier und einige weitere tolle Zutaten. Das Traumgericht konnte also kommen!

Als sich die beiden Männer verabschiedeten, fiel uns noch ein wichtiges Muster auf. Von Heiko und mir verabschiedeten sie sich mit Handschlag, von Paulina hingegen mit Wangenküsschen, was unter anderen Umständen nicht ungewöhnlich gewesen wäre, weil es in Spanien so üblich ist. In diesem Moment wirkte es jedoch irgendwie erzwungen und Paulina fühlte sich nicht wohl damit. Sie hatte die Reaktion der Männer durch genau jene unsichere, kindliche Ausstrahlung angezogen, die sie gerne ablegen wollte, und die ihr jetzt erst so richtig bewusst wurde. Die Situation zeigte aber auch noch einmal, den großen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Die gleiche unsichere, kindliche und selbstverleumdende Ausstrahlung, die bei mir dazu führte, dass mich Frauen als sexuell unattraktiv empfanden, führte bei Paulina dazu, dass sie von Männern als leichte beute angesehen wurde. Bei mir war der Erfolg, dass ich Schwierigkeiten hatte überhaupt eine Partnerin zu finden und sie musste aufpassen, dass sie sich nicht immer wieder auf Partner einließ, die ihr schadeten. Es war zwei mal das gleiche Muster, doch es führte zu vollkommen verschiedenen Erfahrungen und ich könnte nicht sagen, welche unangenehmer sind. Ok, doch! Ich glaube wenn ich wählen könnte, dann würde ich schon bei meinen Problemen bleiben. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich mich schon daran gewöhnt habe.

Als es am Abend ans Kochen ging, wurde eine weitere Parallele zwischen Paulina und mir sichtbar. Unsere Verpeiltheit und Unstrukturiertheit. Auf der Suche nach einer Tüte, von der sie glaubte, dass sie sie vielleicht vergessen hatte, räumte sie ihren ganzen Rucksack aus und verteilte den Inhalt über den Boden. Sie hatte alles feinsäuberlich in Tüten verpackt und doch war das Chaos das gleiche wie in meinem Wagen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie versucht hatte, eine Struktur aufzubauen, während mir vollkommen klar war, dass es einfach keine gab. Stimmt ja nicht, inzwischen hatte ja sogar alles seinen Platz, aber nur weil ich täglich daran trainierte.

Beim Kochen selbst ging es bei ihr ebenfalls ähnlich chaotisch zu wie bei mir. Sie gab das Öl in den Topf, stellte ihn auf den Kocher, fügte ein paar Gewürze hinzu und verdaddelte sich dann beim Versuch, das Gemüse mit einem kleinen Löffel aus der Schale zu heben. In der Zwischenzeit wurde das Öl so heiß, dass es die Gewürze entzündete und alles in einer großen Stichflamme verbrannte. Gut, dass wir draußen kochen.

Ich denke aber trotzdem, dass es am Ende ein leckeres Essen werden wird. Doch genaueres kann ich euch erst morgen berichten.

Spruch des Tages: Ein Mensch ist nicht dort zu hause, wo er geboren wurde, sondern dort wo er am liebsten frisst! (Spruch des alten Spaniers aus der Kneipe)

Höhenmeter: 110 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 4534,97 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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