Tag 252: Die Meisterfriseure

von Heiko Gärtner
10.09.2014 17:02 Uhr

Wer Dankbarkeit wirklich unter Extrembedingungen lernen will, für den ist Spanien genau der richtige Ort. In Frankreich ist das keine Kunst, da kann es wirklich jedes Kind. Geh irgendwo hin, lass dich auf ein geiles Essen einladen, verbring eine herzliche Zeit mit irgendeinem Fremden und freu dich über dein Leben. Hierfür dankbar passiert eigentlich automatisch. Ich will wirklich keine Vorurteile schüren, aber die Erfahrungen hier machen mir da immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Immer, wenn man sich gerade dazu durchgerungen hat, zu glauben, dass es auch hier viele nette Menschen gibt, dann kommt man in einen Ort wie Higeruela und jeglicher Optimismus ist dahin.

Der Schlüssel zur Herberge wurde von einer Frau verwaltet, die gleichzeitig auch das einzige Hostal im Ort betreute. Als ich ihr unser Projekt vorstellte und sie nach einem Schlafplatz fragte, schüttelte sie nur den Kopf.

„Da kann ich nichts für euch tun!“ sagte sie und wollte mich schon wieder zur Tür begleiten. Dass sie uns keinen Platz in ihrem Hostal geben wollte, das war durchaus nachvollziehbar. Aber was war mit der Herberge, die laut Wanderführer und laut dem alten Opa auf der Straße kostenlos sein sollte?

„Geht nicht! Die ist nur für Pilger! Wenn ihr woanders hinwollt, dann kann ich euch nicht helfen!“

Ist das wirklich zu fassen? Da gibt es ein abgerantztes Loch mit alten Matratzen, das von niemandem genutzt wird und das extra für Wanderer eingerichtet wurde, und sie weist tatsächlich zwei Menschen ab, nur weil sie kein blödes Stempelheftchen haben? In unserem Fall war das kein Thema, denn wir hatten unsere Credenzial ja noch und konnten sie vorzeigen. Daraufhin bekamen wir auch mit einem knurrenden Gesichtsausdruck den Schlüssel überreicht. Aber stellt euch einmal vor, es kommt jemand nach einer 30km-Wanderung hier an uns hat wirklich keinen Pilgerpass. Dann muss er weiterziehen oder auf der Straße schlafen, obwohl es einen leerstehenden Platz für ihn gibt und das nur wegen des Sturschädels einer einzelnen, geldgeilen Dame. Wie will man in diesem Moment für so eine Person dankbar sein?

Ich habe mich dafür entschieden, ihre ablehnende Haltung als Einladung anzusehen, um sie auch noch nach etwas zu essen zu fragen. Völlig überraschender Weise sagte sie Nein, doch die Antwort ließ mich unberührt.

„Auch kein Wasser?“ fragte ich.

„Doch“, sagte sie, „Wasser ist ok!“ Dann reichte sie mir eine Flasche und ich hatte sowohl einen Grund Dankbar zu sein, als auch etwas gegen meinen Durst.

Die Herberge selbst war alles andere als schön. Dass das österreichische Pärchen hier nach einem kurzen Blick wieder abgezogen ist, konnten wir gut verstehen. Doch für uns war es vollkommen zufriedenstellend. Wir hatten Platz, wir hatten eine Küche und zwei Matratzen und wir konnten unsere Wagen gut unterstellen. Was wollte man mehr? Vor allem, da keine Kakerlaken herumliefen.

Die zweite Aktion, die meine positive Grundhaltung gegenüber den Dorfbewohnern auf die Probe stellte, war der Versuch, neues Öl zu besorgen. Wir wollten uns Country-Potatoes machen und brauchten daher etwas neues Öl. Als wir den Plan geschmiedet hatten, hätte ich nicht geglaubt, dass dies so ein Problem werden würde. Fünf verschiedene Häuser suchte ich auf, bevor ich eines Fand in dem mir ein älterer Herr etwas in meine Glasflasche abfüllte. Alle anderen lehnten mich entschieden ab. Zwei schlugen mir die Tür vor der Nase zu und eine beendete das Gespräch bereits bei „Entschuldigung, ich wollte nur kurz etwas Fragen!“

„Ich mag keine Fragen!“ knurrte die verbitterte alte Frau durch den Vorhang und schloss die Tür. Was war nur mit den Menschen hier los? So ablehnend konnte doch eigentlich niemand sein, oder? Wie dem auch sei, die Country-Potatoes entschädigten uns für diese Konfrontation mit dem Dorf der Frustrierten mehr als genug.

Und um den Abend noch etwas aufzuhellen, beschlossen wir und an ein neuentdecktes Hobby zu wagen, mit dem wir uns lange nicht mehr beschäftigt hatten. Das Haareschneiden!

Diesmal war es noch etwas komplexer, da einer unserer Trimmer zerbrochen war und wir nun nur noch eine Länge zur Verfügung hatten. Es musste also auch noch unsere Schere rann und das ist doch eine höhere Kunst, als wir dachten. Ihr könnt ja anhand der Fotos selbst beurteilen, wie gut unser Erfolg war.

Unweigerlich mussten wir auch an unseren ersten Versuch in Frankreich zurückdenken und sofort kam die alte Stimmung von damals wieder auf. Es ist nun gerade einmal ein paar Monate her und doch kommt es uns vor, wie aus einer anderen Welt.

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Plötzlich klopfte es an die Tür. Draußen standen fünf Fahrradpilger aus Belgien, die ebenfalls in der Herberge Unterschlupf suchten. In ihren Gesichtern ließ sich deutlich die Endtäuschung erkennen, die sich in ihnen breit machte, als sie das aufgeblasene Rattenloch sahen, dass nun ihre Schlafstätte werden sollte. Insgesamt gab es nur drei Matratzen. Wir boten ihnen an, dass wir auf unseren eigenen Isomatten schlafen könnten, doch selbst dann mussten sie noch immer um die Schlafplätze würfeln. Uns fiel ein, dass wir ja am Vortag in der schönen Herberge im Nachbarsort übernachtet hatten. Für uns war das eine Tagesetappe, doch für die Rennradfahrer war es ein Katzensprung. Zunächst waren sie nicht besonders motiviert, noch einmal 11km weiter zu müssen, doch die Aussicht auf ein anständiges Bett, war dann doch größer. Somit verabschiedeten sich unsere Pilgergefährten nach nur 10 Minuten wieder und wir waren mit unseren Kämmen, Scheren und Rasierern abermals alleine.

Langsam aber sicher merkt man, dass wir Richtung Mittelmeer kommen. Die Landschaft sieht nun immer mehr so aus, wie man sich Spanien vorstellt. Raue Sandsteinfelsen mit Kakteen, Olivenbäumen, allerlei anderem Grünzeug und viele weite Hügel und Bergkuppen. Es war etwas anstrengender als an den letzten Tagen, doch es machte bei weitem mehr Spaß. Heute sahen wir dabei auch zum ersten Mal eine Sandviper. Sie huschte neben uns durchs Gebüsch. Ich war leider etwas zu langsam und konnte nur das wackelnde Gestrüpp sehen. Heiko erblickte auch die Schlange. Sie hatte einen Durchmesser von gut 5 Zentimetern und war rund 1,5m lang. Ein äußerst beeindruckendes Wesen!

Kurz darauf hatte Heiko jedoch einen weniger erfreulichen Tierkontakt. Eine Biene setzte sich in seinen Schuh und stach ihn. Wie kam sie darauf, sich beim Wandern oben in einen Schuh zu setzen? Wir verarzteten Heiko mit der fachmännischen Bienenstichbehandlungskur: Erst wird der Stich ausgesaugt, dann mit Wasser gekühlt und dann zieht man an diesem Fuß einen Flip-Flop an, damit nichts scheuert. Dann kommt noch etwas Kräutertinktur darauf, weil es keinen Spitzwegerich gibt und am Ende hofft man, dass alles gutgeht. In diesem Fall hat es funktioniert. Es gab nicht einmal eine Schwellung.

In Alpera wurden wir deutlich angenehmer empfangen als am Vortag in Higueruela. Bei der Polizei bekamen wir einen Schlafplatz in der Pilgerherberge und ein Mittagessen in einem Restaurant. Alles ohne irgendwelche Probleme.

Als wir beim essen auf dem schattigen Rathausplatz saßen, wurden wir Zeuge einer etwas eigensinnigen Tradition in diesem Ort. Jeden Tag, pünktlich um 14:30Uhr ertönt eine laute, blecherne Marschmusik, die durch die ganze Gemeinde hallt. Dummerweise saßen wir genau neben dem Lautsprecher. Die Stimmung, die dadurch ausgelöst wurde, war recht gruselig. Irgendwie erwarteten wir beide, dass nach dem nächsten Paukenschlag ein Diktator aus einem Gebüsch springen und seine Rede vor dem Volk halten würde. Der Diktator kam nicht. Dafür erklang anschließend eine Frauenstimme, die die aktuellen Neuigkeiten aus dem Ort verkündete. Der Barmann erzählte uns, dass auf diese Weise täglich alles verkündet wird, das irgendwie von Wichtigkeit sein könnte. Jemand vermisst seinen Hund, jemand sucht einen Mitarbeiter in seiner Schreinerei und so weiter.

Als wir später in einer anderen Bar erneut nach etwas zum Essen fragten, zeigte sich wieder einmal, dass Zuhören nicht unbedingt die größte Stärke der Menschen hier ist.

Die Chefin fragte mich, ob ich nicht beim Rathaus nachgefragt hätte. Dort würde ich einen Gutschein bekommen, den ich bei ihr einlösen könne.

„Doch, das habe ich bereits getan. Wir haben heute Mittag auch etwas bekommen. Ich wollte nur fragen, ob es jetzt möglich wäre, dass sie uns für das Abendessen etwas geben könnten.“

„Klar kein Thema! Setzt euch!“ sagte sie.

Als wir am Tisch saßen fuhr sie fort: „Ich bringe euch je einen Teller mit Pommes und Hühnchen! Das macht dann 5€ pro Person!“

„Moment!“ unterbrach ich ihren Enthusiasmus und erklärte, dass wir gerade vor ein paar Minuten ja bereits über das Thema mit Geld gesprochen hatten.

„Richtig!“ sagte sie, „Dann muss ich kurz beim Rathaus nachfragen, ob die das bezahlen!“

„Warten Sie kurz!“ versuchte ich sie aufzuhalten, „das haben wir schon getan! Heute Mittag haben wir auch etwas bekommen, aber so weit ich weiß geht das nur einmal an Tag!“

„Kein Problem!“ winkte sie ab, „Ich rufe einfach an und frage!“

Sie verschwand in der Küche und kam kurz darauf etwas pikiert zurück: „Das Rathaus sagt, sie hätten euch bereits etwas zum Essen gegeben und euch außerdem eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Mehr ist definitiv nicht drin!“

„Das habe ich doch auch schon gesagt!“ versuchte ich einzuwenden, doch die gute Frau war noch immer nicht auf Zuhören ausgerichtet.

„Sorry Jungs,“ sagte sie, „dann kann ich nichts für euch tun!“

Immerhin bekamen wir eine Flasche Wasser und hatten damit wieder einmal einen Grund um Dankbar zu sein und gleichzeitig noch etwas um unseren Durst zu löschen.

Spruch des Tages: Wer zuhören kann ist klar im Vorteil.

 

 

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 4998,97 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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