Tag 255: Loslassen und Vertrauen

von Heiko Gärtner
13.09.2014 16:13 Uhr

Seit Paulina ihren Rückflug nach Nürnberg angetreten hat, sind nun fast genau drei Wochen vergangen. In dieser Zeit haben wir fast täglich Kontakt zu ihr gehabt und haben versucht, sie so gut wie möglich auf ihrem Weg zu begleiten. Sozusagen als Fern-Mentoring.

Dabei haben wir alle drei immer wieder verschiedenste Höhen und Tiefen erlebt und es gab und gibt viele Pfasen, die für uns alle drei nicht leicht sind. Paulina durchlebt viele der Schwellensysteme, die auch wir durch gemacht haben und jetzt im Moment befindet sie sich gerade in einem Zwiespalt zwischen den Beiden Welten, in denen sie lebt. Zum einen, möchte sie ihr Leben als Nomadin vorbereiten, zum anderen kann sie ihr altes Leben jedoch noch nicht loslassen. Das führt natürlich dazu, dass sie mit der Gesamtsituation vollkommen überfordert ist und nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Wir haben uns in den vergangenen Tagen immer Gedanken darüber gemacht, wie wir sie von hier aus unterstützen können, merken jedoch auch, dass wir damit nicht wirklich weiter kommen. Daher kam in uns immer wieder die Frage auf, ob es für uns alle nicht besser ist, wenn wir sie erst einmal loslassen und ihr die Möglichkeit geben, ihren Weg für sich alleine zu finden. Auf der einen Seite kam es uns immer wieder als ein Im-Stich-Lassen vor, auf der anderen Seite merken wir jedoch auch, dass wir gerade nichts verändern können und dass wir uns selbst immer mehr runterziehen lassen und dass mehr und mehr Freude verloren geht. Gerade jetzt, wo mit dem Herbst des ersten Reisejahres die Erntezeit beginnt, fühlt sich das nicht richtig an.

Vor einigen Tagen hat Heiko dann seinen Bienenstich geschenkt bekommen. Nicht in Form eines Kuchens, denn den würden wir ja eh nicht mehr essen, sondern in Form eines wirklichen Stiches in den Fuß. Das ungewöhnliche war, dass es hier nahezu keine Bienen gibt und das diese sich normalerweise auch nicht einfach in die Öffnung eines Schuhes setzen, der sich an einem Fuß befindet. Vor allem dann nicht, wenn der Fuß gerade beim Wandern ist.

Die Botschaft der Biene ist Gelassenheit. Sie fordert einen auf, alles mit mehr Ruhe anzugehen und Geduld zu haben. Man soll darauf vertrauen, dass die Dinge, die passieren sollen auch passieren. Auch dann, wenn es vielleicht auf eine völlig andere Art und weise geschieht, als man es vielleicht erwarten würde.

Einen Tag später flog ein Schwarm Tauben über unsere Köpfe hinweg. Tauben waren nicht ungewöhnlich, zumindest so lange sie keine roten Flügel hatten. Diese hier hatten jedoch feuerrote Flügel, die im Sonnenlicht auf eine Art und Weise leuchteten, wie wir es noch nie gesehen hatten. Die Botschaft der Tauben ist eine Verbindung auf einer tiefen Ebene. Sie fordern einen auf, bedingungslos zu lieben und in einen eigenen inneren Frieden zu kommen.

Ohne, dass wir Paulina von dieser Begegnung erzählt hatten, berichtete sie uns am nächsten Tag, dass sie in Nürnberg nun dauernd Taubenfedern fand, die direkt vor ihre Füße fielen und die immer von ausgesprochener Schönheit waren. Ein Zufall?

Gestern dann hatten wir eine weitere magische Begegnung, wenn auch auf eine ganz andere Art.

In einer Bar fragten wir nach etwas zu essen oder zu trinken und gerieten dabei an eine quirlige Frau mit kurzen blonden Haaren, die uns auf ein paar Snacks einlud. So kam es, dass wir in der Bar an einem Tisch mit ihr saßen und sie uns die verschiedensten Dinge aus ihrem Leben erzählte. Als Kind war sie einmal Punk gewesen, oder Punkie, wie man es auf Spanisch sagt. Sie hatte eine schlimme Kindheit, musste oft hungern, hatte bei Nonnen gelebt, weil ihre Eltern nicht genügend Geld, hatten um sich um sie zu kümmern und war immer wieder abgehauen. Die letzten 20 Jahre hatte sie dann ihre Alzheimerkranke Mutter gepflegt und war dabei kaum noch aus dem Haus gekommen. Sie selbst sagte über sich, dass sie ein Helfer-Syndrom habe, bzw. ein Nonnensyndrom wie es in Spanisch heißt. Wenngleich wir wenig Nonnen in Spanien getroffen haben, die ein Nonnensyndrom hatten.

Auch uns hatte sie deshalb eingeladen, weil sie den Drang verspürte, jemandem zu helfen. Gestern erst war ihre Mutter verstorben und sie war nun wieder frei und konnte machen was sie wollte. Daher war sie hier in die Bar gekommen, um nach 20 Jahren das erste Mal wieder etwas zu trinken, was ihr sichtlich nicht gut bekam.

Wie ging es uns dabei?

Wir hatten ebenfalls das Gefühl, dass sie Hilfe brauchte. Sie fühlte sich einsam und war voller Schmerz und Verwirrung. Immer wieder versuchten wir, einen Ansatzpunkt zu finden, um sie zu beruhigen, damit ein konstruktives Gespräch stattfinden konnte. Doch es war unmöglich. Die plapperte so schnell, dass ich kaum etwas und Heiko noch weniger verstand und nach jedem zweiten Satz wechselte sie das Thema. Insgesamt vier Mal begann sie damit, eine Geschichte über ein Wunder zu erzählen, dass sie ienmal erlebt hat. Worum es dabei ging, wissen wir noch immer nicht. Wenn ich einen Satz einwarf oder auf eine ihrer Fragen antwortete, dann begann sie sofort eine neue Geschichte. Die Frau war offensichtlich in einer Spirale gefangen und es tat uns leid, das wir ihr nicht helfen konnten. Daher blieben wir bei ihr, obwohl wir merkten, wie sehr es uns ermüdete und wie sehr unsere eigenen Kraftreserven angegriffen wurden. Wären wir ehrlich zu ihr und zu uns gewesen, hätten wir ihr offen sagen müssen, dass unser Kontakt, so wie er gerade verläuft zu nichts führt und dass wir uns daher von ihr verabschieden müssten. Vielleicht hätte sie das sogar dazu gebracht, sich etwas Ruhe zu suchen. Doch wir schafften es nicht. Stattdessen ließen wir uns sogar noch überreden, mit zu ihr zu gehen, damit wir dort das Internet nutzen konnten. Sie zeigte uns ihre Werkstatt, in der sie Münzen und Schmuck herstellte und bat uns dann, Platz zu nehmen, bis sie uns den Code für das wLAN gebracht hatte. Wir warteten rund zehn Minuten, ohne dass etwas geschah. Dann fragten wir eine andere Frau, die ebenfalls hier wohnte, wo unsere Gastgeberin hinverschwunden war.

„Sie hat einen Anruf bekommen uns ist gegangen!“ erklärte diese.

Erst jetzt fanden auch wir den Abschluss und verließen das Haus, ohne die Frau noch einmal zu sehen. Auf der einen Seite waren wir sogar etwas Dankbar darüber, wieder für uns zu sein, auf der anderen Seite waren wir aber auch endtäuscht über die viele vergeudete Zeit und darüber, dass wir eingeladen und dann einfach vergessen wurden.

Erst heute auf der Wanderung vielen uns die Parallelen zu unserer Lebenssituation auf. War es mit der Frau nicht in vielen Bereichen genauso gewesen, wie mit Paulina? Hielten wir uns nicht auch hier in dem Versuch ihr zu helfen selbst davon ab, gesund zu werden? Unterstützen wir sie vielleicht sogar darin, in dem Kreislauf zu bleiben, aus dem wir ihr eigentlich heraushelfen wollten? Waren wir von ihr nicht genauso endtäuscht, weil immer wieder Vereinbarungen getroffen wurden, die dann aufgrund einer Ablenkung aus dem alten Leben nicht eingehalten werden konnten?

War es vielleicht genauso an der Zeit, weiterzuziehen und Paulina in Frieden und bedingungsloser Liebe zurückzulassen?

Heute kam eine weitere magische Situation hinzu. Wir kamen an eine Kreuzung, bei der ein steiniger Weg nach links und ein asphaltierter, einfacher Weg nach rechts abging. Wegweiser gab es nicht und wir hatten keine Ahnung, in welche Richtung wir gehen sollten. Wieder standen wir vor einer Entscheidung, die wir aus unserem Bauch heraus treffen mussten. Welcher Weg würde uns ans Ziel führen? Der harte steinige, der uns Kraft und Energie rauben würde? Oder der ebene, glatte, auf dem wir selbst ins Fließen, bzw. ins Rollen kommen können und nicht gegen Widerstände ankämpfen müssen, die nicht zu uns gehören? Plötzlich wurden wir von einem Schwarm Mehlschwalben umkreist. Dicht über dem Boden schossen sie wie Pfeile direkt an uns vorbei. Sie umkreisten unsere Beine, flogen auf unsere Köpfe zu und wichen in der letzten Sekunde aus. Was ging denn jetzt ab? Tieffliegende Schwalben waren doch normalerweise ein Zeigen für Regen, doch es sah nicht im geringsten nach Regen aus!

Als wir uns schließlich für den ebenen Weg entschieden hatten, begleiteten uns die flinken Vögel noch ein Stück und waren dann genauso plötzlich wieder verschwunden. Erst am Nachmittag fanden wir die Botschaft dieser Tiere heraus:

Schwalben weisen einen auf die Wiederkehr des Augenblicks hin. Sie fordern einen auf, jeden einzelnen Augenblick zu genießen und ihn als das anzusehen, was er ist: ein einmaliger Moment, der die volle Aufmerksamkeit aller Sinne verdient. Verstehe, dass die Zeit nicht linear ist, wie wir es uns gerne einbilden, sondern dass die Augenblicke so kommen, wie sie gebraucht werden. Vertraue in den Lebensfluss und klammere dich nicht an früheren Augenblicken fest. Lebe im Jetzt und las alles Los, das dich davon abhält.

Wie sich herausstelle, war der Weg, den wir gewählt hatten der richtige. Der holprige hätte uns in eine Sackgasse geführt, aus der wir wieder hätten zurückrudern müssen, so lange, bis wir wieder festen Boden unter uns verspürt hätten. So aber wanderten wir heute durch die schönste und kraftvollste Landschaft seit Tagen.

Am späten Nachmittag versuchten wir dann noch einmal ein klärendes Gespräch mit Paulina zu führen, doch sie war so sehr in ihrer eigenen Welt gefangen, dass wir nicht zu ihr durchdringen konnten. Vor allem Heiko war schwer endtäuscht er spürte, wie viele alte Verletzungen, die er in ähnlichen Situationen erlebt hatte, wieder sichtbar wurden.

Gleichzeitig wurden uns auch unsere eigenen Knackpunkte noch einmal bewusst. Ähnlich wie die Frau mit dem Nonnensyndrom wollen auch wir Heilsbringer sein und legen daher zu viel Wert auf andere Menschen. Wir versuchen immer wieder, dafür zu sorgen, dass sie gesund werden und vergessen dabei unsere eigene Heilung. Mit ihnen und mit uns selbst sind wir immer wieder zu ungeduldig. Wir wollen anderen den Lösungsweg aufzeigen, können dabei aber nicht abwarten, nicht entspannen, keine Gelassenheit aufbauen, nicht ins Urvertrauen kommen. Wir können nicht darauf vertrauen, dass das Universum die Wege, Zeichen und Boten schenken wird, die der andere braucht, so dass es auf jeden Fall klappen wird. Wir wollen den Weg abkürzen und dadurch den Schlag mit dem Zaunpfahl des Universums unnötig machen. Doch konnten wir selbst ohne diesen Schlag lernen? Sind wir nicht auch mit unserem eigenen Heilungsprozess oft zu ungeduldig, wollen alles auf einmal und fangen daher immer wieder von vorne an? Dabei landen auch wir immer wieder in der Zeitverstrickung, weil wir anderen helfen wollen und unsere eigenen Prioritäten verlieren. Die Sachen, die für uns wichtig sind, werden dabei schnell hinten angestellt: körperliches Training, Heilungsübungen, Entspannung und Massagen, positive Routinen und sogar mit den täglichen Kräutern und Mineralien zur Giftausleitung stehen wir oft hinten an.

Wir können es oft nicht verstehen, wenn jemand anderes nicht verstehen will. Wie schwer fällt es uns immer, es anzunehmen, wenn jemand nicht sehen will, dass er in eine Richtung läuft, die ihm aus unserer Sicht so offensichtlich schadet?

Es ist also wohl wieder einmal an der Zeit loszulassen und in den Lebensfluss zu vertrauen. In unseren eigenen und in den der anderen.

Spruch des Tages: Ich wache auf und lächele. Vierundzwanzig nagelneue Stunden liegen vor mir. Ich will jeden Augenblick des Tages vollkommen bewusst leben und alle Menschen mit Güte und Mitgefühl betrachten. (Thich Nhat Hanh)

Höhenmeter: 154 m

Tagesetappe: 19,9 km

Gesamtstrecke: 5066,87 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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