Tag 260: Durch den Giftnebel

von Heiko Gärtner
18.09.2014 19:58 Uhr

Den Schlüssel zur Herberge in Algemesi musste man diesmal nicht direkt in der Polizeidienststelle, sondern im Museum für die Festgeschichte der Stadt abholen. Viele Pilger kamen hier offensichtlich nicht vorbei und der Museumsdirektor freute sich so sehr über Gäste, dass er uns gleich in sein Museum und zu einer Privatshow am Abend einlud. Das eigentliche Fest hatte bereits am vergangenen Sonntag stattgefunden. Heute gab es jedoch noch eine kleine Darbietung von Pyramidenkünstlern, die eigentlich nur fürs Fernsehen gedacht war, sowie für ausgewählte, geladene Gäste und jetzt auch für uns. Um 20:00 Uhr sollte das Spektakel beginnen. Wie für spanische Verhältnisse üblich begann es natürlich erst eine Stunde später. Dann aber durften wir zuschauen, wie sich die blau-rot-gestreiften Artisten immer weiter übereinander stapelten, bis der oberste schließlich fast auf der 2. Etage des Museums angelangt war. Die Spitze wurde immer von einem Kind gebildet und symbolisierte die Zukunft und die neue Generation.

Im übrigen Museum wurden Bilder, Filme und Skulpturen über die lange Tradition der spanischen Festumzüge ausgestellt, die es hier in der Stadt gab. Es waren beeindruckende und farbenprächtige Aktionen darunter und doch hatte es immer wieder einen leichten Beigeschmack von Krieg. Die typischen Gewänder mit den langen Kapuzen, die nur die Augen frei ließen, das Verbrennen großer, hölzerner Figuren und Türme, die rhythmischen Scheinkämpfe, die bewusst ernsten Gesichter der Artisten und die laute Musik, all das erinnerte viel zu sehr an die Bilder von Ku-Klux-Klan-Veranstaltungen, die man aus dem Fernsehen kannte. Es war eine alte und mit Sicherheit bewundernswerte Tradition, doch sie hatte auch etwas Gruseliges.

Auf dem Weg zum Rathaus hatten wir uns bereits über die großen Baustellen gewundert, bei denen riesige Holzgerüste aufgebaut wurden. Warum baute man heute noch Gerüste aus Holz? Wurde dafür nicht normalerweise Stahl verwendet? Erst am Abend kamen wir hinter das Rätsel. Es war keine Baustelle. Für das nächste Fest am Kommenden Wochenende wurde hier eine komplette Stierkampfarena mitten zwischen die Häuser gebaut. Und zwar auf die gleiche, traditionelle Weise, wie es schon seit Jahrhunderten geschah. In Deutschland wäre ein solches Projekt nicht einmal genehmigt worden, wenn es reine Kunst gewesen wäre, mit großen „Betreten Verboten!“-Schildern an jeder Ecke. Doch hier war es ein ganz normales Festival-Projekt. Eine Panik durfte dabei natürlich nicht ausbrechen, aber solange sich jeder anständig benahm, würde wahrscheinlich niemand sterben. Bewundernswert war vor allem, wie die Handwerker es schafften, die riesige Konstruktion aus hundert tausenden von Einzelteilen zusammenzuzimmern, ohne dabei durcheinander zu geraten. Selbst die Kirche wurde als Arenawand mit eingebaut, ohne das jemand Angst hatte, man könne sie dadurch beschädigen.

Heute Morgen brachen wir dann zum ersten Mal seit langem wieder Richtung Norden auf. Da uns Valencia eindeutig zu groß ist, haben wir uns einen Weg gesucht, der uns um die Stadt herumführt. Damit haben wir nun auch das Ende unseres Jakobsweges erreicht und sind wieder auf uns alleine gestellt. Schade eigentlich, denn vor allem das letzte Stück hat uns mit seinen kostenlosen Herbergen äußerst gute Dienste geleistet.

So sehr uns die Steppe am Ende auch auf die Nerven gegangen ist, so müssen wir doch auch einsehen, dass sie gewisse Vorteile hatte. Zum Beispiel den Umstand, das niemand in ihr leben wollte. Das hat dafür gesorgt, dass zumindest tagsüber sehr viel Ruhe herrschte. Hier drängt sich nun wieder alles aneinander und es gibt fast nur noch große Straßen und laute Städte, durch die man hindurchwandern muss. Und wenn man es schafft, ihnen zu entfliehen, dann landet man in den Obstplantagen, die so sehr nach Pestiziden stinken, dass man es kaum aushält. Es ist wirklich krass, was wir mit unserer Nahrung machen! Viel krasser als unsere Befürchtungen!

Die Totenkopfschilder hängen überall, die Nase und die Atemwege brennen nach nur wenigen Metern. Heiko bekam nach einiger Zeit sogar Kopfschmerzen und das obwohl wir uns über Kilometer die Halstücher vors Gesicht banden. Ob es viel half weiß ich nicht. Der Geruch wurde etwas erträglicher und wir sahen damit aus wie die Daltons aus Lucky Luke. Insofern hat es also etwas gebracht. Alle paarhundert Meter standen hohe Säulen am Wegesrand, die das Wasser mit den Pestiziden hoch in die Luft sprühten, damit es sich über die Felder verteilen konnte. Selbst in den Ortschafen konnte man den Gestank noch riechen und auch hier hingen die Warnhinweise an einigen Bäumen. Hätten wir derartige Verhältnisse in Indien gesehen, hätten sie uns schockiert. Aber in Europa!?! Gerade einmal rund 2000km Luftlinie von unserer Heimat entfernt? Wie verrückt und wie lebensmüde sind wir eigentlich, dass wir auf diese Art unsere Nahrung produzieren? Wollen wir wirklich ein solches Gift in unseren Orangen haben, dass uns schon schädigt, wenn wir nur in der nähe wohnen? Wenn wir nur daran vorbeiwandern?

 

Spruch des Tages: Luftanhalten und durch!

 

Höhenmeter: 10 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 5147,87 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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