Tag 340: Der 2. Advent

von Heiko Gärtner
07.12.2014 18:17 Uhr

Als der Weihnachtsmarkt vorüber war, setzten wir uns noch mit den Organisatoren zusammen und aßen die übrig gebliebenen Speisen. Für uns war nicht viel dabei, doch wir hatten vom Besitzer des kleinen Supermarktes ausreichend Zutaten für einen Salat bekommen, den wir uns als Beilage zu den gegrillten Rinderfrikadellen machen konnten.

Nico, einer der Organisatoren, der uns mit seiner Frau sogar zu sich nach Hause eingeladen hatte, erzählte uns, dass er für eine Firma arbeitete, die Laser zur Krebstherapie herstellte. 2005 hatte die kleine Firma eröffnet und damals war er gleich von Anfang an mit dabei gewesen. Er war ein Idealist, der wirklich davon überzeugt war, mit dieser Technik etwas Positives zu bewirken. Doch mit den Jahren hatte sich seine Arbeit sehr stark gewandelt. Die Firma wurde von Großinvestoren übernommen und die ursprünglichen Chefs hatten nun nichts mehr zu sagen. Alle Entscheidungen wurden von den Aktionären gefällt, zu denen auch so kleine unbedeutende Familien wie die Rothschilds gehören. Die Familie Rothschild ist mit einem Familienvermögen 500 Trilliarden Dollar die Wahrscheinlich reichste Familie der Welt und leitet nahezu jede Zentralbank, die irgendwo auf diesem Planeten existiert. Dass hier ein kleiner Unternehmenschef nicht mehr viel zu sagen hat, ist also kein Wunder. Die Lasertechnik jedenfalls, mit der es möglich gewesen wäre, einen Gehirntumor ohne Operation direkt aus dem Kopf zu entfernen, wurde zwar entwickelt, kam aber nie auf den Markt. Die Welt sei noch nicht bereit dafür, war die Begründung von oberster Stelle. Seit jener Zeit stand für Nico fest, dass er in dieser Firma nicht mehr weiter arbeiten kann. Er will sich nun selbstständig machen, doch noch ist es nicht so weit.

Und noch ein weiterer Punkt belastete ihn an seiner Arbeit sehr. Celian, seine Frau arbeitete in Marseille, also eine gute Stunde Autofahrt von hier entfernt. Er selbst war ebenfalls fast immer im Büro und so hatten beide nur wenig Zeit für ihre Tochter. Es war keine Seltenheit, dass sie sie am Morgen nicht einmal eine Dreiviertelstunde sahen und am Abend blieb nicht viel mehr Zeit, bis sie dann ins Bett musste.

„Eines der häufigsten Worte, die wir ihr sagen müssen,“ meinte Nico traurig, „ist ‚beeil dich’ oder ‚mach schneller, sonst kommst du nicht rechtzeitig in den Kindergarten!’ Und am Abend ist es nicht viel anders. Dann geht es darum, rechtzeitig ins Bett zu kommen, damit sie an nächsten Morgen nicht zu müde ist. Wir wollten sie nie unter Druck setzten und es tut mir jedes Mal weh, wenn ich ihr vermitteln muss, dass die Zeit zu knapp ist, dass sie nicht einfach mal genießen oder ihren eigenen Rhythmus leben kann. So bringen wir ihr eine Hektik bei, die nicht gut für sie ist, aber wir wissen auch nicht, wie wir es ändern können.“

Da wir gerade dabei waren, die Gliederung für das Körpersanierungsbuch zu erstellen, entschieden wir uns gegen die Einladung, um genügend Zeit und Ruhe zum arbeiten zu haben. Dennoch dachten wir viel über die Familie und das Familienleben als solches nach.

Als Nicos Tochter geboren wurde, war er so alt wie ich. Jetzt ist er so alt wie Heiko. Für uns beide kam also die Frage auf, was wäre, wenn wir uns anders entschieden hätten. Wäre das auch ein Leben für uns gewesen? Etwas sagte ganz deutlich nein dazu.

Warum eigentlich? Lag es an unserem Lebensweg, oder daran, dass wir nicht sehen konnten, wie ein Familienleben in unserer aktuellen Gesellschaft in Frieden, Harmonie und Gesundheit möglich war?

Anders als an den letzten Tagen schien heute die Sonne und wir verbrachten den zweiten Advent sogar damit im T-Shirt durch das Bergpanorama zu wandern. Wer hätte gedacht, dass das noch einmal möglich sein würde in diesem Jahr?

Unterwegs erzählte mir Heiko von einigen Dingen, die er in dem Buch über Sexualität gelesen hatte: „Du glaubst gar nicht, wie wenig wir unseren Körper und den unserer Partner eigentlich kennen! Ich hätte gedacht, dass ich schon viel erfahren habe in diesem Bereich, aber ich denke dass es vielleicht gerade einmal 5% von dem ausmacht, was möglich ist. Der Durchschnitt liegt denke ich bei 1% oder vielleicht sogar etwas darunter. Sei mal ehrlich, wie oft wurde bei dir beim Sex der ganze Körper mit einbezogen? Wie viele verschiedene Techniken der Berührung habt ihr ausprobiert? Allein was wir alles bei der Selbstbefriedigung nicht machen, was uns aber wirkliche Lust bereiten würde und nicht nur ein schnelles Abspritzen. Geschweige denn, wie sehr wir uns in unseren Partner einfühlen können. Es gibt 7 verschiedene Orgasmusarten bei der Frau und 5 verschiedene beim Mann. Wie viele davon hast du bereits erlebt?“

Ich wusste schon vorher, dass meine Erfahrungen in diesem Bereich eher kläglich waren, doch wenn ich jetzt noch einmal genau darüber nachdachte, dann hatte ich wirklich keine Ahnung.

„Wie oft hattest du das Gefühl,“ fragte Heiko weiter, „dass es wirklich um ein Verschmelzen mit dem Partner ging und nicht nur um ein schnelles Rein und Raus mit dem Ziel irgendwie einen Orgasmus zu bekommen und zu ermöglichen? Wenn du ganz ehrlich zu dir bist, dann waren doch viele Kontakte rein für´s Ego. Ein kommen und gehen, im wahrsten Sinne des Wortes, bei dem es vor allem darum ging, dir selbst sagen zu können, dass du einen Jagderfolg hattest. Aber hatte es wirklich etwas mit einer Verbindung zu tun?“

Ich musste nicht lange überlegen, damit mir klar war, dass er Recht hatte. Wie oft hatte ich dabei das Gefühl, einen Strich auf einer Liste machen zu können, ohne dass es mir aber wirklich Spaß gemacht oder mich bereichert hätte? War dies vielleicht auch ein Grund dafür, dass sich mein höheres Selbst gegen Sexualität entschieden hatte? Weil ich einfach noch fast nichts Positives in diesem Bereich erlebt hatte?

„Das Problem ist natürlich,“ fuhr Heiko fort, „dass man zunächst einmal über sein Ego springen muss. Wenn man nach Jahren der Beziehung anfängt über das Thema zu sprechen und beispielsweise so ein Buch liest, um etwas lernen zu können, dann kommt zunächst einmal ein Frust auf, darüber, was man bislang alles verpasst hat. Man glaubte ja immer man sei ein Hecht und wenn man plötzlich mitbekommt, dass das nicht der Fall ist, dann kann das ganz schön hart sein. Deswegen geben viele Paare den Versuch wahrscheinlich auch relativ schnell wieder auf.“

Am Nachmittag erreichten wir einen kleinen Ort in der Nähe der Autobahn. Hier bekamen wir einen kleinen Gemeinderaum mit Küche und Badezimmer, in dem wir uns ganz nach belieben ausbreiten konnten. Jetzt war es auch an der Zeit, unsere Regensachen zu imprägnieren. Danke an pedag für das Imprägnierspray! Wenn es nun wieder zu regnen beginnt, dann sind wir wenigstens gewappnet.

Spruch des Tages: Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?

 

Höhenmeter: 40 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 6333,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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