Tag 437: Die Fukushima-Katastrophe wird vier Jahre alt

von Heiko Gärtner
21.03.2015 23:58 Uhr

Einen Tag vor Heikos Geburtstag vor vier Jahren richtete die ganze Welt ihre Aufmerksamkeit nach Japan. Hier hatte es eines der gewaltigsten Erdbeben gegeben, dass das Land je erlebt hatte. Doch das war nicht das eigentlich schlimme. Schlimm war der Tsunami, der durch das Beben ausgelöst wurde. Mit einer Höhe von mehr als dreißig Metern und einer Geschwindigkeit von mehreren Hundert Kilometern pro Stunde raste eine gewaltige Flutwelle auf die Japanische Küste zu und zerstörte dabei nicht nur einige Städte, sondern auch das Örtchen Fukushima. Und in diesem kleinen, bis dahin unbekannten Küstenort gab es einen hochtechnisierten und bis dahin als sicher eingestuften Kernreaktor, der den Geist aufgab und in seine Einzelteile zerfiel. In Fukushima kam es damit zum zweiten Super-GAU in der Geschichte der Atomenergie, von dem die Öffentlichkeit etwas erfahren durfte. Was sonst noch in diesem Bereich verschwiegen wird, darüber kann man nur spekulieren, doch dazu kommen wir später noch. Zuvor hatte noch niemand in Europa überhaupt von diesem Kraftwerk gehört, doch von diesem Tag an war es ein Begriff, den jeder kannte. Tage und Wochen lang hörte man nichts anderes mehr und fast war man sich sicher, dass die Welt diesmal der globalen Atomkatastrophe zum Opfer fallen würde. Doch dann verschwanden die Nachrichten wieder von der Bildfläche, ebenso plötzlich wie sie aufgetaucht waren und seither hat man so gut wie nichts mehr von der Katastrophe und ihren Folgen gehört. Seit dem sind nun fast genau vier Jahre vergangen. Grund genug, sich den Vorfall noch einmal genauer anzuschauen.

Man muss schon sagen, dass sich die freundlichen Herren von der Atomindustrie alle Mühe geben, um unser Leben zu erleichtern. Nicht nur, dass sie uns eine kreative Lösung für unseren ständig wachsenden Energiebedarf aufzeigen, sie erleichtern uns außerdem unsere Entscheidung bei der Wahl unserer Urlaubsländer und ersparen uns das mühsame Lernen von Wissen über essbare Pilze. Als Destruenten und als einzige Lebensformen, die radioaktive Strahlung aufnehmen und abbauen können, sind selbst die essbarsten und bekömmlichsten Pilze, nach Tschernobyl und Fukushima keine sinnvolle Ergänzung des Speiseplans mehr. Jedenfalls nicht, wenn das, was wir über Radioaktivität zu wissen glauben wirklich der Wahrheit entspricht.

Ein halbes Jahr zuvor hatte Heiko auf seiner Wanderung als Steinzeitpilger nach Santiago eine junge Koreanerin kennengelernt, die eine Ausbildung zur Reiseführerin machte. Zum Zeitpunkt der Fukushimakatastrophe befand sie sich gerade auf dem 54-Tempelweg in Japan und konnte so aus nächster Nähe von den Ereignissen berichten. Da sie offiziell im Auftrag der Tourismusuniversität in Japan unterwegs war, hatte sie gewisse Vorteile. Sie war direkt vor Ort und bekam hautnah mit, was im Land vor sich ging. Sie bekam also alle Informationen, die auch an das japanische Volk weitergegeben wurden. Viele waren es jedoch nicht. Im Grunde schien alles soweit in Ordnung zu sein. Irgendwo hatte es ein kleines Malheur in einem Kernkraftwerk gegeben und die Region sei nun besser zu meiden aber alles in allem, sollte man keine Panik haben. Das waren die Informationen die Kim hörte. Die Tatsachen, die man sah, sprachen jedoch eine ganz andere Sprache. Die Stromausfälle die laut japanischen Nachrichten nur kurze Störungen waren und nach europäischen Fernsehinterviews lediglich ein paar Stunden am Tag dauerten, zogen sich in Wirklichkeit über Tage hin. Auch die Supermärkte waren davon betroffen und konnten ihre Lebensmittel nur noch für circa zwei Stunden am Tag kühlen. Das tat natürlich weder den Lebensmitteln noch den Menschen gut, die sie aßen. Trotzdem stand in der deutschen Presse, dass die Nahrungs- und Wasserversorgung in Japan kein Problem war. Doch das Wasser musste aufgrund der Strahlenverseuchung stark rationiert werden. Gleichzeitig wurde die Wasserqualität immer schlechter und bald gingen die ersten Krankheiten um, die sich zu wahren Seuchen und Epidemien ausbreiteten. Die immunologischen Krankheiten setzten einen Großteil der Bevölkerung außer Gefecht. Angebote für Hilfsmaßnahmen aus dem Ausland gab es natürlich mehr als genug, denn jedes Land hatte ein Interesse daran, nicht allzu viel von der Strahlung abzubekommen. Doch die japanische Regierung war auf Ausländer nicht gut zu sprechen. In den Augen der Regierung waren die ausländischen Hilfskräfte Personen, die unangenehme Fragen stellten, die sie nicht beantworten wollten. Aus diesem Grund lehnten sie alle Hilfskräfte aus dem Ausland ab. All dies wurde natürlich auch in unserer Presse berichtet, kam aber niemals in seiner ganzen Tragweite zur Geltung. Es gab Probleme, aber im Grunde sei doch alles unter Kontrolle. Kims Kontakte halfen ihr auch dabei, das Land möglichst schnell und auf einem sicheren Weg zu verlassen. Sie versprach sich von ihrer Pilgerreise ab diesem Zeitpunkt nicht mehr allzu viel Heilung. Ohne direkte Kontakte zur Tourismusindustrie wäre es jedoch absolut unmöglich gewesen einen Flug aus Japan zu bekommen. Später erzählte Kim, dass es überhaupt kein Problem gewesen wäre, die Stromversorgung wiederherzustellen. Machbar wäre es gewesen, aber es hätte eben Geld und Mühe gekostet und dazu war der Stromkonzern offensichtlich nicht bereit. Was uns an dem ganzen geschehen jedoch bis heute noch immer am meisten fasziniert hat ist, dass Fukushima kurz nach der Katastrophe mit einem Schlag wieder völlig aus dem Weltbewusstsein verschwand. An dem einen Tag waren die Zeitungen noch voll davon und am nächsten gab es nicht mal mehr einen kleinen Seitenartikel. Ebenso wie eine Fußball-WM nur dann interessant war, während sie stattfand, so spielte offenbar auch die Atomkatastrophe keine Rolle mehr, nachdem man keine reißerischen Schlagzeilen mehr bieten konnte. Was aber wurde aus dem kaputten Atommeiler? War das Problem behoben? Wenn ja wie? Hatte man darüber gepinktelt, um ihn wieder runter zu kühlen? Wurde er in Watte eingepackt, dass ihm nichts weiter passieren konnte? Yoku, eine Japanerin, die Heiko ebenfalls auf dem Jakobsweg kennengelernt hatte und die bis heute versucht herauszufinden was in Fukushima vor sich gegangen war, erzählte ihm, dass sie nichts wusste, außer das der Reaktor inzwischen wieder in Betrieb genommen wurde. Man brauche ja schließlich Strom und ein neuer sei zu teuer. Was aber wurde aus den Menschen in der nächsten Umgebung? Was wurde aus den Arbeitern, die zum Teil ohne Schutzausrüstung in das Kraftwerk gegangen waren, um noch schlimmeres zu verhindern? Was war mit all den Tieren und Pflanzen, die nicht hatten gehen können um sich ein anderes, weniger verstrahltes Plätzchen zu suchen? Was war mit dem Meer, in das jenes strahlenbelastete Kühlwasser eingeleitet wurde, welches angeblich unschädlich war? Sie alle hatten ohne Ende Strahlen abbekommen und leiden wahrscheinlich noch immer an den Spätfolgen. Oder etwa nicht? Yoku sagte Heiko einmal im Vertrauen: „Heiko, dieses Unglück hätte wirklich nur in Japan passieren dürfen. In keinem anderen Land wären die Menschen aus reiner Loyalität bereit gewesen unter diesen Umständen in das Kraftwerk zurück zu gehen um Reparaturmaßnahmen durchzuführen, obwohl sie genau wussten, dass sie daran sterben würden. Nur weil die Menschen hier auf absoluten Gehorsam gedrillt werden, konnte all dies vonstatten gehen, ohne das es zu einer Massenpanik, zur Verweigerung der Arbeitseinsätze und zu Mord und Totschlag kam.“ Schaute man jedoch in die Medien, so war die Frage nach den Opfern von Fukushima ganz einfach beantwortet: Sie existierten nicht. Auch sonst hatte das Drama keinerlei Konsequenzen. Es hatte eben ein kleines unbedeutendes und fast überhaupt nicht weltumfassendes Problem in einem kleinen genauso unbedeutenden Reaktor gegeben. Und das konnte ja jedem Stromanbieter einmal passieren. Dafür konnte man ja schließlich niemandem böse sein. Immerhin waren die armen Energiekonzerne die so uneigennützig dafür sorgten, dass wir immer genügend Strom hatten, um beispielsweise Blogberichte über sie zu schreiben, steht's bemüht, ihr Bestes zu geben. Oder etwa nicht?

Wie war es eigentlich zu der Katastrophe gekommen? Klar wurde das Kraftwerk von einem Tsunami zerstört, doch ist das wirklich schon die ganze Erklärung? Nicht nur wir stellten uns die Frage und so stießen wir auf einige Forscher und Reporter, die der Sache auch noch einmal tiefer auf den Grund gegangen sind. Und was sie ans Tageslicht beförderten schlug dem maroden Kühlwasserfass endgültig den Boden aus!

Anders als man vielleicht vermuten könnte, ist das Kraftwerk von Fukushima kein japanisches, sondern wurde Anfang der siebziger Jahre von der amerikanischen Energiefirma General Electric gebaut. Tepco, der japanische Energiekonzern ist also lediglich der Betreiber, was vielleicht auch erklärt, warum die Firma bis heute keine Lösung für die Folgeprobleme der Katastrophe hat, weil ihnen einfach die Experten fehlen. In den ersten Jahren wurden auch die Inspektionen von amerikanischen Ingenieuren übernommen und bereits damals gab es die ersten Probleme. Einer der leitenden Wartungsingenieure war Kei Sugaoka. Bei seinen Wartungsarbeiten entdeckte er eine Vielzahl von Problemen, darunter auch immer wieder Risse in den Kühltürmen und in den Reaktorkesseln. 1985 fand er gemeinsam mit seinen Kollegen bei der Untersuchung eines Dampftrockners einen Riss, der so groß ist, dass es ihnen die Sprache verschlägt. Er ist größer und länger als alle Beschädigungen, die er je zuvor gesehen hat. Doch dass war noch nicht der Höhepunkt. Um den Riss genauer unter die Lupe zu nehmen blickt einer der Kollegen ins Innere des Reaktors und stellt mit Erschrecken fest, dass der Dampftrockner komplett falsch herum eingebaut wurde. Das Kraftwerk war nun bereits seit mehr als 10 Jahre lang in Betrieb und noch nie war jemandem aufgefallen, dass hier ganze Bauteile falsch herum eingesetzt worden waren. Sugaoka wandte sich mit seinem Videobericht der Inspektion an die Chefetage von Tepco, doch zu seinem Erstaunen schlugen diese nicht wie Erwartet die Hände über dem Kopf zusammen und leiteten umgehende Reparaturmaßnahmen ein. Im Gegenteil! Sie wiesen ihn an, das Videomaterial zu löschen und verboten ihm auch ein Inspektionsprotokoll zu erstellen. Stattdessen musste er ein Blankoprotokoll unterschreiben, so dass Tepco anschließend alles eintragen konnte, was es wollte. Dies war kein Einzelfall. Egal was er an Mängeln und Problemen fand, die Firma ließ seine Berichte verschwinden. In einem Interview gegenüber dem ZDF beschrieb er die Reaktion von Tepco auf Probleme, die bei der Wartung gefunden wurden folgendermaßen: „Ich kann ihnen in zwei Worten sagen, was Tepco von uns wollte, als wir bei der Wartung damals die ersten Risse gefunden haben: Halts Maul! Erzähl nichts!“ Und genau das tat er auch. Zehn Jahre lang fürchtete er sich vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes mehr als vor einer Atomkatastrophe und spielte das Spiel des Energiekonzerns mit. Dann wurde er von General Electric entlassen und somit gibt es kein Druckmittel mehr, um ihn ruhig zu halten. Er wendet sich an die japanischen Behörden und teilt ihnen alles mit, was er in den vergangen zehn Jahren verschwiegen hatte. Doch diese reagiert auf seine Aussagen genau wie Tepco. Er wird abgewimmelt und seine Informationen bleiben weiterhin unberücksichtigt. Doch nicht nur die amerikanischen Ingenieure wurden auf die Probleme aufmerksam. Auch die Experten aus Japan warnten die Behörden immer wieder vor verschiedenen Mängeln. Einer von ihnen ist Yukitero Naka, der sich bei dem Versuch, Probleme an Tepco heranzutragen ebenso die Zähne ausbeißt, wie sein amerikanischer Kollege. „Einige Verantwortliche haben meine Bedenken ernst genommen, durften ihnen aber keine Beachtung schenken,“ berichtet er den ZDF-Reportern.

Japans Politik im Zusammenhang mit Atomenergie ist eindeutig: In unserem Land gibt es damit keine Probleme! Erst nachdem die Katastrophe passiert ist und die Probleme nicht länger zu leugnen sind, äußern sich auch die Politiker zu dieser Haltung. Taro Kono, ein Abgeordneter der LDP, jener konservativen Partei, die Japan seit dem 2. Weltkrieg fast ununterbrochen regierte, sagte offen in einem Interview: „  Sie haben immer gesagt, Atomunfälle können in Japan nicht passieren. Den Menschen wurde nie gesagt, dass sie darauf vorbereitet sein müssen. Nicht einmal die Lokalregierungen wurden auf die Gefahren hingewiesen. Bei Sicherheitsfragen hier es stets: Ihr braucht euch nicht auf einen Ernstfall vorbereiten, weil es einen solchen Ernstfall gar nicht geben kann. Diese Fiktion wurde immer aufrechterhalten und die Wahrheit wurde mit Geschichten vertuscht, die sie sich ausgedacht haben. Jetzt müssen sie zugeben, dass das alles gelogen war.“

„Sie“ sind in diesem Fall das sogenannte Atomdorf, eine extrem einflussreiche Gruppierung, die aus Tepco, der Regierung und verschiedenen Wissenschaftlern an den Universitäten besteht und alle wichtigen Entscheidungen in Energiefragen trifft. Für sie steht die Wirtschaftlichkeit an erster stelle und da Probleme nicht besonders wirtschaftlich sind, sind sie nicht vorgesehen und werden daher negiert.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Der Mensch erfand die Atombombe, doch keine Maus der Welt würde auf die Idee kommen eine Mausefalle zu konstruieren. (Albert Einstein)

Höhenmeter: 20 m (Davon 16 durch das Treppensteigen zu unserem Schlafraum)

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 8017,77 km

Wetter: größtenteils sonnig

Etappenziel: Gemeindehaus, 48012 Bagnacavallo, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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