Tag 468: Das Leben genießen

von Heiko Gärtner
14.04.2015 21:17 Uhr

Langsam aber sicher wird uns Slowenien immer sympathischer. Die Natur hier ist einfach beeindruckend und fast jedes Mal wenn man aufblickt und sich umschaut, freut man sich darüber, wie schön die Berge sind. Nur die Autobahn, die man wieder einmal durch das schönste Tal gebaut hat, hätte nicht sein müssen, denn durch ihren Lärm macht sie schon einiges kaputt. Doch sobald man zwei oder drei kleine Hügel überwunden hat, wird es wieder still und man hört nur noch die Vögel und den Wind. Aber auch der Wind ist nicht mehr so heftig, wie in Italien. Die Felder sind kleiner und die Bauern sind hier noch nicht auf die irrsinnige Idee gekommen, alle Hecken, Bäume und Mauern niederzureißen, damit man die Agrarflächen noch schneller und mit noch größeren Maschinen bewirtschaften kann. Diese Idee war es hauptsächlich, die den Nordosten Italiens in so eine Agrarwüste verwandelt hat. Hier scheint alles noch ursprünglicher zu sein, wenngleich es heute einige Passagen gab, die auch schon zu großen Industriekulturen zusammengefügt worden waren. Und sofort blies uns der Wind entgegen, als wollte er uns aus den Socken wehen. Spannend ist auch, dass die Hunde hier nicht mehr so laut und aggressiv Bellen, wie sie es auf der anderen Seite der Grenze gemacht haben. Wenn man an einem Garten vorbeikommt, dann kläffen sie meist einmal laut los, kommen dann angelaufen, schauen sich an, was los ist und verstummen dann wieder. Andere liegen einfach auf dem Hof herum und verfolgen einen nur träge mit den Augen.

Das Slowenien zu den ärmeren Ländern Europas gehören soll, lässt sich von dem was man so sieht nicht wirklich bestätigen. Die vielen kleinen Ortschaften, die es hier gibt, sind anders als in Italien und Spanien sehr gepflegt und schmiegen sich fast malerisch in die Landschaft. Vielleicht haben die Menschen hier weniger Geld, das ist durchaus möglich, aber ihr Selbstwertgefühl und ihre Fähigkeit es sich in ihrer Heimat auch wirklich heimisch zu machen, ist definitiv höher.

Heute hatte ich sogar meine erste Unterhaltung auf Slowenisch. Sie war Informationsgehaltstechnisch betrachtet natürlich eine Katastrophe, aber es war eine Unterhaltung. Ihr glaubt gar nicht, wie schwer es ist, das „Si“ wieder aus seinem Kopf zu bekommen. Denn mein Teil des Gesprächs bestand hauptsächlich darin, möglichst oft Ja zu sagen, was auf Slowenisch aber „Da“ und nicht „Si“ heißt. Am Ende schenkte mir der Mann einige Äpfel aus seinem Garten und eine hausgemachte Wurst und bot mir eine Flasche Schnaps an. Das verstand ich ohne Probleme. Ich hingegen schaffte es immerhin, ihm irgendwie mitzuteilen, wo wir schon überall waren. Fragt mich aber nicht, wie ich das gemacht habe. Es ist mir absolut rätselhaft.

Uns persönlich sind auch die Menschen hier wieder deutlich sympathischer. Sie wirken auf uns zwar reserviert, sind dabei aber freundlich und vor allem überhaupt nicht aufdringlich. Wenn man sie nach etwas fragt, sind sie hilfsbereit und ansonsten lassen sie einen in Ruhe. Besser könnte es für uns in unserer momentanen Situation gar nicht kommen. Denn so wirklich in der Stimmung für lange Gespräche waren wir beide noch nicht. Heikos Hörempfindlichkeit ist noch immer recht stark, wenngleich sich bereits eine Verbesserung abzeichnet. Und bei mir? In mir ist noch immer diese sonderbare Unruhe, die ich nicht wirklich erklären kann. Vor einigen Tagen haben wir einmal ausgetestet, wie sehr wir unser Leben bereits genießen. Heiko kam dabei auf knapp über 50%. Bei mir waren es gerade einmal 12%. Das heißt nicht, dass ich 88% von dem was ich mache nicht leiden kann, es ist viel mehr so, dass ich nur zu 12% wirklich präsent im Augenblick und damit auch in der Lage bin, das Jetzt zu genießen. Habt ihr euch einmal gefragt, wie Lustvoll und Genussvoll ihr euer Leben lebt? Steht ihr morgens auf und euer erster Gedanke ist: „Geil! Endlich darf ich aufstehen und habe einen neuen Tag mit so vielen neuen Geschenken vor mir!“? Frühstückt ihr dann wirklich mit Ruhe und Genuss? Putzt ihr euch mit Lust und Leidenschaft die Zähne? Könnt ihr es kaum erwarten in euer Auto, aufs Rad oder in den Bus zu steigen um endlich zur Arbeit oder zur Schule zu kommen? Seit ihr dann mit Lust und Freude bei der Arbeit und könnt euch überhaupt nichts schöneres vorstellen, als das, was ihr gerade tut? Und kümmert ihr euch mit der gleichen Lust, Freude und Leidenschaft um eure Partner, Freunde, Kinder, Eltern, euren Haushalt, die schmutzige Wäsche, das dreckige Geschirr, eure Zimmerpflanzen und was euch sonst noch am Tag begegnet?

Als ich noch zuhause war, fand ich es fast unmöglich, diese Fragen mit Ja zu beantworten, obwohl mir irgendwie klar war, dass es nur eine Entscheidung von mir gewesen wäre. Nichts von dem was ich da tat hätte ich tun müssen. Es war mein freier Wille und doch fühlte sich ein Großteil meines Alltages nach Verpflichtungen an. Jetzt auf der Reise gibt es überhaupt nichts mehr, das ich tun muss und ich kann alles jeden Tag zu 100% neu entscheiden. Ich darf durch wunderschöne Landschaften wandern, darf neue Menschen kennen lernen, bekomme Übernachtungen in Hotelzimmern, Klöstern, Schwimmbädern oder anderen spannenden Orten geschenkt und darf täglich neues erleben.

Und doch hat sich dieses Programm des Nicht-Genießens bereits tief in mein Hirn eingebrannt. Die Momente in denen ich aufschrecke und denke „Waow! Wie schön ist dass denn!“, in denen ich wirklich voll da bin und mich über mein Leben und alles um mich herum freuen kann, werden zwar häufiger, doch noch immer ist es keine Normalität. Ich muss mich daran erinnern, dass das Leben zum genießen da ist. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Und noch immer sind unglaublich viele unverdaute Gefühle in mir, die ich im Laufe meines Lebens angestaut habe und nun mit mir um die Welt trage. Wut, Angst, Trauer, Endtäuschung, Ärger, Zorn, Verzweiflung und der gleichen mehr. Und durch sie ziehe ich natürlich auch immer wieder Spiegel an, die sie mir verdeutlichen. Italien war voll davon so habe ich am Anfang kaum gemerkt, dass sie in Slowenien gar nicht mehr so oft vorkommen.

Und wie wir Menschen so sind, kommen dann Gedanken auf, mit denen ich mich über mich selbst ärgere, weil ich die Schönheit um mich herum gerade nicht genießen kann. So ein Blödsinn! Manchmal frage ich mich wirklich, warum wir nur so abstrakt gestrickt sind.

Doch genug davon! Denn gerade sitze ich hier in einem gemütlichen Hotelzimmer und will ja nicht schon wieder den gleichen Fehler machen und in komische Gedankenspiralen abdriften die keiner braucht. Das Hotel Sport, in dem wir heute wohnen dürfen, gehört zu einer Hotelkette, die vier Hotels hier in Adelsberg hat. In einem von ihnen habe ich vor einigen Stunden mit der Managerin gesprochen, einer überaus freundlichen Dame, die es uns ermöglicht hat, die Nacht hier zu verbringen. Einen passenderen Ort hätte man für uns hier kaum finden können, als ein Hotel, das extra für Abenteurer, Entdecker, Wanderer, Radfahrer und Reiselustige gebaut wurde. Adelsberg ist der deutsche Name der Stadt Postojna, die eine der Größten in der Region ist, obwohl sie gerade einmal 8.000 Einwohner hat. Dafür gibt es hier aber eine riesige Höhle, die so groß ist, dass man zunächst 10 Minuten lang mit dem Zug hineinfahren muss und dann über eine Stunde darin herumwandern kann. Leider haben wir diese Informationen nur von dem Mann, der am Ausgang den Stand mit den Fotos betreut, denn er war der einzige, der noch da war, als wir ankamen. Die Höhle selbst hatte bereits geschlossen. Aber so wie es aussieht, gibt es jede Menge schöner Höhlen in der Region. Wir bekommen also sicher noch einmal unsere Chance.

 

Spruch des Tages: Wer zu den Köpfen redet, muß viele Sprachen verstehen, und man versteht nur eine gut; wer mit dem Herzen spricht, ist allen verständlich. (Ludwig Börne)

Höhenmeter: 360

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 8561,77 km

Wetter: sonnig, leicht bewölkt

Etappenziel: Hotel & Restaurant SPORT Kolodvorsa 1 6230 Postojna Slowenien

 

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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