Tag 470: Das Déjà-vu

von Heiko Gärtner
24.04.2015 12:09 Uhr

Bevor wir die Touristenfarm Ego Knap verließen, bekamen wir noch ein deftiges Frühstück und einen kleinen Crash-Kurs in Slowenisch. Frau Knap bereitete uns eine besondere Spezialität der Region oder zumindest ihrer eigenen Küche zu, die unter anderem aus einem Buchweizenbrei bestand. Die ersten Bissen waren etwas ungewohnt aber dann war es wirklich lecker. Während wir aßen fragten wir ihren Mann nach der korrekten Aussprache einiger Worte, die wir recht häufig brauchten und ehe wir uns versahen lernten wir einige wesentliche Kennzeichen der slowenischen Spache. Wenn man ihre Regeln einmal verstanden hatte, war es gar nicht mehr so schwer, die Worte anhand der Buchstaben richtig auszusprechen. Alles wurde hier wirklich genau so geschrieben, wie es auch gesprochen wurde. Das änderte aber leider nichts daran, dass fast alle Wörter Zungenbrecher für uns waren und blieben.

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Die Wanderung heute war wieder deutlich schöner als die vom Vortag. Wir kamen fast nur durch die Natur und konnten uns von Autobahnen und großen Straßen weitgehend fernhalten. Gleichzeitig präsentiere uns das Land all seinen Reichtum mit eiskalten und glasklaren Trinkwasserquellen, Bärlauchfeldern und vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen. Ein Bussard landete neben uns auf einem Ast und flog dann in einem kleinen Waldstück direkt neben dem Weg auf und ab, bis er schließlich verschwand. Zwei Zitronenfalter tollten in ihrem Liebesspiel über unsere Köpfe hinweg und begleiteten uns tanzend einige Meter.

Auch die Menschen zeigten sich noch einmal von einer neuen und noch sympathischeren Seite. An einer Kreuzung hielt eine Frau mit dem Auto neben uns an, unterhielt sich mit uns und lud uns anschließend zum Übernachten auf ihren Pferdehof ein. Zu gerne hätten wir die Einladung angenommen, vor allem, da sich der Hof direkt auf unserem Weg befand. Doch es war noch zu früh und bis zum Sonntag hatten wir ein festes Pensum, das wir schaffen wollten. Da sie uns auf diese Weise nicht weiterhelfen konnte, schenkte sie uns einfach 10€ und wünschte uns eine gute Reise. Wir hatten sie um nichts gebeten, es war ihre eigene Initiative. So etwas war uns seit Frankreich nicht mehr passiert.

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Die kommende Strecke erinnerte uns dann so sehr an Zuhause, dass wir hinter jeder Hügelkuppe die Lengenbachkapelle erwarteten, an der Heiko in seinem Leben bestimt hunderte Male und ich immerhin ein gutes Dutzend Mal vorbeigewandert bin. Jeder der Neumarkt kennt oder schon einmal einen Wildniskurs oder eine Therapie bei uns gemacht hat, kennt wahrscheinlich das Lengenbachtal und weiß wie wunderschön es ist. Alle anderen können sich stattdessen ein langgezogenes, grünes, wildes Tal mit mehreren Quellen, einem Teich mit Biberburg, einigen Fuchshöhlen, satten Wiesen, und einem kleinen geschlängelten Bach vorstellen. Dann wisst ihr ungefähr was ich meine. Doch anders als zuhause bestand hier das ganze Land aus solchen Tälern und wenn man aus einem herauskam, dann landete man nicht etwa in einer Stadt oder einem Industriegebiet, sondern wieder in einem neuen Tal, das vielleicht sogar noch schöner war.

Als wir gerade das Ende dieses Tals erreicht hatten, wurden wir von einem älteren, korpulenten Herren auf Englisch angesprochen, der uns auf ein Getränk auf seine Terrasse einlud. Eigentlich wollten wir auch diese Einladung ablehnen, da es bereits recht spät war und wir noch ein gutes Stück Wegstrecke vor uns hatten. Doch der Mann war sowohl zu freundlich als auch zu hartnäckig, um ihm die Einladung auszuschlagen. Seine Frau grüßte uns aus dem „Supermarkt“ zu und kam zu uns herüber. Der „Supermarkt“ wie unser neuer Freund es nannte, war das große Gemüsebeet, dass sich vor dem Haus befand. Die Terrasse war gleichzeitig das Dach der Garage. Hier hatten sich die Beiden einen Unterstand gebaut, auf dem ein großer Tisch mit zwei Bänken stand, die jeweils mit roten Samtpolztern überzogen waren. Wir setzten uns und bekamen gerade noch mit, dass die Frau zu ihrem Mann irgendetwas über Kaffee sagte und dann im Haus verschwand.

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„Kocht sie uns einen Kaffee?“ fragte ich unsicher.

„Nein!“ antwortete der Mann.

„Oh,“ sagte ich, „ich war nur gerade unsicher, weil ich dachte, so etwas verstanden zu haben. Wir trinken nämlich keinen Kaffee!“

„Ich weiß!“ antwortete der Mann mit vielsagendem Blick. „Sie bereitet euch einen Kräutertee zu.“

‚Momentmal!’ Kam ein Gedanke in mir auf. Wir hatten darüber doch gar nicht gesprochen. Woher wusste er das?

Er ließ sich von uns unsere Wanderkarte zeigen und beschrieb uns den weiteren Weg.

„Da ist es!“ meinte er unvermittelt und deutete auf das Geländer der Terrasse.

„Wie bitte?“ fragte ich.

„Na das Radio!“ gab er wie selbstverständlich zurück. „Du hast dich doch gerade gefragt, woher die Musik kommt.“

Wie machte er dass nur? Ich hatte mich zwar nicht gefragt, woher die Musik kam, denn das Radio hatte ich bereits gesehen, aber genau in dem Moment, in dem er mich fragte, hatte ich tatsächlich der Musik gelauscht und versucht einen Teil des Textes zu verstehen.

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Nun kam seine Frau mit einer Suppe zurück aus der Küche und brachte uns dazu jeweils noch einen Teller, auf dem sich etwas befand, das wie ein Croissant aussah. Kurz ärgerte ich mich, dass wir es schon wieder versäumt hatten, auf unsere Weizenabstinenz hinzuweisen, doch dann stellte ich fest, dass ich mich irrte. Es war kein Blätterteig, sondern Kohl. Dünne Kohlblätter, die um eine Mischung aus Rinderhack, Tomatensauce, Zwiebeln und Paprika gewickelt waren. Anschließend bekamen wir einen Tee mit Kräutern aus dem eigenen Garten.

Während wir aßen und uns mit dem Mann unterhielten, kam plötzlich ein starker Wind auf. So stark sogar, dass er die Wellbleche auf dem Dach erschüttern ließ.

Wir sprachen viel über die unterschiedlichen Eindrücke in den verschiedenen Ländern, die wir bereist hatten und auch darüber, wie arm oder reich sich die Menschen selbst gefühlt hatten.

„Es kommt nie darauf an, was du besitzt oder erlebst,“ meinte der Mann, es geht nur darum, wie du die Dinge selbst siehst. Du kannst mit Geld arm oder reich sein und du kannst es ohne ebenso. Hier haben wir nicht viel Geld, vor allem ich nicht, aber wir haben einen unglaublichen Reichtum. Wir haben alles was wir brauchen. Warum also, sollten wir uns beschweren? Eine Wirtschaftskrise findet nicht statt, weil die Wirtschaft kaputt geht. Sie existiert in den Köpfen der Menschen. Und nur dort kann sie auch wieder behoben werden.“

Er erzählte uns, dass er nur eine verschwindend kleine Rente bekam, weil der Staat was dies anbelangte ein ziemlich mieses Spiel spielte. Er war in Mazedonien geboren, hatte dann in Kroatien gelebt und war erst knapp zehn Jahre vor seiner Rente nach Slowenien gezogen. Doch in all der Zeit war diese Region hier Jugoslawien gewesen. Er war also nicht aus- oder eingewandert, sondern lediglich innerhalb eines großen Landes in verschiedene Städte gezogen. Dann aber kam der Krieg und das Land wurde gespalten. Für den Rentenanspruch zählt nun nur noch die Zeit, die er wirklich im Staatsgebiet von Slowenien gearbeitet hatte. Alles andere verfällt.

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Doch er erzählte uns das alles ohne Wut auf den Staat, dafür, dass er so gelinkt wurde. Er hatte eben einfach wenig Geld zur Verfügung, das war, wie es war und es gab keinen Grund, sich deshalb die Laune verderben zu lassen. Der Reichtum bestand schließlich aus anderen Dingen im Leben.

Erst als wir uns verabschiedet hatten und weiter unseren Weg durch den Wald gingen, erfuhr ich von Heikos Sicht auf die Begegnung. Für mich war es einfach eine schöne und irgendwie leicht seltsame Zusammenkunft mit einem lustigen und freundlichen Kerl gewesen. Heiko hingegen war die gesamte Situation komplett vertraut vorgekommen.

„Ich habe diesen Mann schon einmal getroffen!“ sagte er. „Ich habe schon einmal genau an dieser Stelle auf dieser Terrasse gesessen und ich weiß, dass der Mann einmal eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt hat.“

„Meinst du in einem früheren Leben?“ fragte ich.

„Ich glaube schon!“ antwortete Heiko nachdenklich. „Ich kann es nicht erklären. Es ist nur ein Gefühl, aber ich weiß, dass dieser Mann schon einmal da war. Und er war ein wichtiger Mentor und Heiler.“

Nach einer Weile fügte er hinzu: „Das war er übrigens auch jetzt! Diese Leichtigkeit, die er hatte und gleichzeitig dieses Klare und Bestimmte. Hast du gemerkt, wie er deinen Finger weggeschubst hat, als er uns etwas auf der Karte zeigen wollte? Er hat sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen, und das war aber nicht negativ. Er wusste was wichtig war und dadurch konnte man es gut annehmen.“

„Dieser Wind“, sagte ich nachdenklich, „er kam auf einmal auf, als wir dort saßen. Vorher war es windstill und jetzt gibt es auch wieder keinen Luftzug. Nur in diesem einen Moment. Denkst du, das war Zufall?“

„Nein!“ sagte Heiko, „ganz sicher nicht!“

Unser Tagesetappenziel lag nun noch gut eine Stunde entfernt. Es war eine kleine Ortschaft, in der es leider keine erkennbare Möglichkeit für eine Übernachtung gab. So zogen wir noch etwas weiter, bis in einen größeren Ort. Auch hier fanden wir nichts und so wurden aus unseren 23km schließlich 30km bis wir in einen noch größeren Ort kamen, in dem es auch einen Pfarrer gab. Diesmal traf ich ihn sogar an, doch der Erfolg war niederschmetternd. Er wollte uns nichts zum übernachten anbieten und als ich noch einmal nachhakte und versuchte, ihm zu erklären, dass wir nichts als einen leeren Raum brauchten, wurde er fast handgreiflich und schlug mir schließlich die Tür vor der Nase zu. Als ich später einer Frau davon erzählte, konnte sie es kaum glauben.

„Was ist nur mit ihm los?“ fragte sie, „Das sollte eigentlich überhaupt nicht so sein.“

Die einzige Erklärung, die sie hatte war, dass er wegen eines Festes am Wochenende so gestresst war, dass er keine weiteren Ablenkungen mehr ertrug. „Er ist ein komischer Kautz,“ meinte sie, „und wenn ihm etwas zu viel wird, dann kann er schon mal aggressiv werden.“

In einer kleinen Pizzeria neben der Kirche fragte ich nach einer alternativen Möglichkeit. Ein Gast rief daraufhin seine Freundin an, da deren Eltern hin und wieder Pfadfinder bei sich aufnahmen. Doch über drei Ecken, wildfremden Wanderern zuzusagen, die der Freund ihrer Tochter beim Biertrinken in irgendeiner Spelunke kennengelernt hatte, war ihnen dann wohl doch etwas zuviel. Verübeln kann man es ihnen nicht, doch auch wenn am Ende nichts dabei herumkam, war ich beeindruckt, wie viel Mühe sich die Menschen hier wieder gaben, um uns weiterzuhelfen.

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Schließlich begann es zu dämmern und es wurde Zeit, uns einen Zeltplatz zu suchen. Hier in der Stadt ging es nicht, denn da waren zu viele betrunkene Menschen. Wir versuchten es etwas außerhalb in einem kleinen Waldstück. Vor dem Ende des Dorfes traf ich einen Anwohner und fragte, ob er wohl ein Problem damit hätte, wenn wir auf der Wiese neben seinem Grundstück campierten. Entschieden lehnte er ab. Er hatte zwar nichts mit dem Wiesengrundstück zu tun, doch es war klar, dass er uns vertreiben oder anzeigen würde, wenn wir es versuchten. Also schauten wir tiefer in den Wald hinein und fanden eine kleine Talmulde, die wahrscheinlich einmal von einer Bombenexplosion erschaffen wurde. Hier schlugen wir unsere Zelte auf.

Das einzige Problem war nun wieder einmal das Essen. Wir hatten zwar jede Menge Reis, aber keinen Strom für unseren Elektrokocher. Der Gaskocher jedoch war noch immer kaputt. Ich weiß, wir schleppen das Ersatzteil nun schon seit fast einem halben Jahr mit uns herum. Aber bislang haben wir es noch nicht gebraucht und da waren wir zu träge um es einzubauen. Ein Umstand, den wir unbedingt ändern sollten. Doch heute war es bereits zu dunkel. Also versuchten wir es mit Plan-B: Ich schnappte mir den Reis und ging zurück in den Ort, um an einer Tür zu klingeln und zu fragen, ob wir die Küche benutzen konnten. Die ersten beiden lehnten ab, doch bei der dritten hatte ich dann Glück. Vor einen halben Jahr wäre es noch undenkbar gewesen, einfach nach einer kompletten Küche zu fragen, doch nun war es auf seine Art das logischste auf der Welt. Die Frau sprach nur ein paar Brocken Englisch, doch es genügte um sich zu verständigen. Je weicher der Reis wurde, desto mehr taute auch sie auf und mit der Zeit wurde ein richtiges Gericht aus unserem Reis. Sie steuerte Zwiebeln und Knoblauch, eine Möhre, Mais und Pilze bei. Dann kam noch ihr Sohn mitsamt Enkel und Schwiegertochter und somit wurde auch eine Konversation auf Englisch möglich. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir nun auch hier Duschen und wahrscheinlich sogar übernachten können, doch fürs erste waren wir mit einem warmen Abendessen vollkommen zufrieden.

Spruch des Tages: Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum, mit den Wurzeln tief im Boden, als stünden wir so fest wie die Landschaft.

 

 

Höhenmeter: 290

Tagesetappe: 32 km

Gesamtstrecke: 8609,77 km

Wetter: sonnig

Etappenziel:

Zeltplatz im Wald

1315 Velike Lašče

Slowenien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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