Tag 481: Wie die Teddybären

von Heiko Gärtner
29.04.2015 19:23 Uhr

Sieben Uhr ist einfach zu früh zum Aufstehen. Schlaftrunken wankte ich von meinem Zimmer, das auf der Beschreibung an der Touristentafel im Hof so schön als Zelle bezeichnet wurde, auf den langen, leeren Gang hinaus und klopfte an Heikos Tür. Er sah so aus wie ich mich fühlte und brummte ein lustloses „Guten Morgen“ vor sich hin. Dann schleppten wir uns in Richtung Klosterkirche. Glücklicher Weise sollten wir im Gästebereich Platz nehmen, der sich auf einer Empore ganz hinten befand, wo uns niemand wirklich sehen konnte. Es war fast eine Einladung zum Weiterschlafen, ein bisschen so, wie wenn man in der Acht-Uhr-Vorlesung am Freitag Morgen vom Dozenten gebeten wurde, in der hintersten Reihe des Hörsaals Platz zu nehmen und ein Dickes Buch aufrecht vor sein Gesicht zu stellen.

Unten in der Mitte des Kirchenschiffes stand ein weißgewandeter Mönch und zog an einem langen Seil, dessen anderes Ende in der Kirchendecke verschwand. Hier wurden die Glocken also wenigstens noch ganz anständig mit der Hand geläutet und nicht von einem Computer gesteuert, der Vorgab, wann es wo, wie zu bimmeln hatte. Die nun folgenden 30 Minuten verbrachten wir in einer Art Dämmerzustand irgendwo zwischen Traum, Trance und Gebet. Soweit ich es beurteilen konnte wurde die Messe auf Latein gehalten, was uns noch mehr an unsere Zeit in Italien erinnerte. Der Ablauf unterschied sich auch nicht wesentlich von den Gottesdiensten, die wir schon kannten. Ob es wohl Absicht war, dass diese Kirchenbänke so unbequem waren, dass man es sich unmöglich gemütlich machen konnte?

Der Superior hatte uns gesagt, dass wir nach dem Vater Unser von der Empore herabsteigen und nach unten kommen sollten, damit wir bei der Vergabe des Leibes Christi nicht leer ausgingen. Doch aus irgendeinem Grund verpassten wir unseren Einsatz. Ich hatte damit gerechnet, dass man das Vater Unser anhand des Sprachrhythmus erkennen würde, auch wenn es in einer anderen Sprache aufgesagt wurde. Doch das war offensichtlich ein Irrtum. Auch Heiko war verblüfft, als die Kuttenträger plötzlich schön in einer Reihe vor dem Altar standen und die Oblaten ohne uns verputzten. Aber so traurig waren wir dann auch wieder nicht, denn nach der Messe wurden wir noch auf ein Frühstück eingeladen. Zwar gab es da keinen Christusleib mehr, aber immerhin ein paar Spiegeleier mit Sardinen. Zugegeben, das war ebenfalls ein etwas eigenartiges Frühstück und die Sardinen lagen uns noch lange recht schwer im Magen, aber es war auf seine Art ein gutes Frühstück.

So sehr wir uns auch über den Schlafplatz im Kloster gefreut hatten, so froh waren wir nun, die dicken Mauern wieder verlassen zu können. Ganz falsch war die Bezeichnung „Zelle“ für die Zimmer der Brüder nicht, denn irgendwie fühlte man sich schon etwas darin eingesperrt. Umso mehr konnten wir nun unsere Freiheit in den Wäldern des wilden Landes genießen. Die Strecke war wieder einmal traumhaft schön und auch wenn sich nicht mehr viel veränderte, hatte man doch jedes mal das Gefühl von neuem überwältigt zu werden, wenn man sich in irgendeine Richtung umdrehte.

Das absolute Tageshighlight erwartete uns jedoch vollkommen unerwarteter Weise bei einem Picknick oberhalb eines Weinberges. Ein älterer Weinbauer kam vorbei und lud uns auf einen Wein oder einen Schnaps in seine kleine Weinhütte ein. Hier standen nicht nur seine Schnapsbrennanlagen, sondern auch eine Kiste mit Bienenwaben, in denen sich noch immer der Honig befand. Antialkoholische Getränke, die er uns anbieten konnte, hatte er leider nicht, doch er wollte uns unbedingt etwas Gutes tun. Als er merkte, wie fasziniert wir von den Waben waren, nahm er eine Tüte und schenkte uns einige davon, die wir mitnehmen durften. Ich muss ehrlich zugeben, ein bisschen ein schlechtes Gewissen hatte ich ja schon, als wir mit der Tüte draußen an den Bienenstöcken vorbeigingen. Intuitiv hatte ich den Impuls, unser Geschenk vor den fleißigen Arbeiterinnen zu verstecken, so wie wenn man sich bei einem Frühstücksbuffet heimlich noch ein Picknickbrötchen schmiert und dieses an den Kellnern vorbeischmuggeln muss.

Einen knappen Kilometer weiter suchten wir uns eine sonnige Blumenwiese, breiteten unsere Matten aus und schauten uns unser neustes Geschenk aus der Nähe an. Habt ihr schon einmal Honig direkt aus den Waben genascht? Ich bis heute jedenfalls nicht und ich muss sagen, es gibt einfach nichts Besseres. Keine Ahnung, warum man das Zeug überhaupt schleudert, denn so macht es viel mehr Spaß. Man kann von den Waben einfach abbeißen und beim Kauen verbreitet sich die süße, klebrige Masse dann gleichmäßig im Mund. Die Waben selbst bestehen aus Bienenwachs, das man kauen kann wie Kaugummi. Es schmeckt ebenfalls leicht süßlich und hat dieses typische Aroma, das auch Bienenwachskerzen verbreiten. Wenn man allen Honig herausgelutscht hat, dann spuckt man das restliche Wachs einfach aus und beißt ein weiteres Mal in die Waben. Verdammt, jetzt wo ich darüber schreibe bekomme ich grad schon wieder Lust auf so eine Honigleckerei. Viel kann man nicht davon essen, denn es ist wirklich reinster Honig und der liegt einem bereits nach wenigen Bissen wie ein Stein im Magen. Aber es ist unglaublich lecker und gleichzeitig hat vermittelt es ein Gefühl von Freiheit und Natürlichkeit. Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Teddybär und wir konnten wirklich verstehen, warum die Bären das Risiko auf sich nahmen, von einem ganzen Bienenvolk gestochen zu werden, um an diese Kostbarkeit zu gelangen. Auch das Menschen auf die Idee kamen die Honigwaben für sich zu nutzen leuchtet ein.

Heiko fiel auf, dass er in den letzten Tagen schon des Öfteren seltsame Begegnungen mit Bienen hatte, die ihm das Gefühl gaben, dass ihm die kleinen Flieger etwas mitteilen wollten.

„Es gibt mehr süße im Leben, als wir jemals Essen können!“ meinte er nun, „ich glaube, das ist die Botschaft. Die Welt ist so wunderschön und so unglaublich reich, dass wir jederzeit alles haben können, was wir für ein erfülltes Leben benötigen. Wir müssen nur damit aufhören, es uns selbst zu verweigern.“

Nach unserer Bienenpause wanderten wir weiter bis nach Kostanjevica na Krki, einem kleinen Dorf, dass sich auf einer Insel mitten im Fluss befand und nur über zwei hölzerne Brücken erreichbar war. Trotz seiner besonderen Lage wirkte die winzige und an sich sehr schöne Ortschaft seltsam verlassen. Einen Pfarrer trafen wir auch hier wieder nicht. Dafür wurden wir jedoch von dem Besitzer der Gastwirtschaft Gostilna Zolnir eingeladen, bei ihm in einem der Gästezimmer zu übernachten.

Gemeinsam setzten wir uns noch auf der Restaurantterrasse zusammen und unser Gastgeber freute sich riesig, dass er sich mit uns über alte Zeiten austauschen konnte. Er selbst war früher viel mit seinem Bully unterwegs gewesen und hatte unter anderem verschiedene Reggea-Festivals besucht. Jetzt, da er die Leitung des Familienbetriebes übernommen hatte und außerdem der Vater dreier Kinder war, hatte er für so etwas keine Zeit mehr. Doch er träumte noch gerne wieder zu diesen Zeiten zurück.

„Manchmal glaube ich,“ sagte er, „ist es das Beste, wenn man überhaupt nichts hat. Je mehr du besitzt, desto mehr Verpflichtungen hast du auch. Das Beste ist, man hat einfach nur ein Zelt und sonst nichts. Das ist Freiheit!“

Er erzählte uns auch, dass der slowenische Staat mit seinem Volk nicht viel besser umging, als andere Staaten. Wer einen eigenen Betrieb hatte, musste für alles, was er verdiente mindestens zweimal, manchmal sogar öfter Steuern zahlen, so dass am Ende fast nichts mehr übrig blieb. Gleichzeitig nahmen sich die hohen Politiker natürlich raus, was sie wollten. Gerade erst sei ein Prozess gegen einige hohe Politiker, die wegen Korruption und anderer übler Machenschaften während des Jugoslawienkrieges angeklagt wurden, wieder groß in die Presse gekommen. Nach einer sechsjährigen Verhandlung wurde nun beschlossen, das man noch einmal mit den Untersuchungen ganz vorn Vorne begann, da es irgendwo eine Art Formfehler gegeben hatte. Solange kein Entschluss gefällt war, waren die Politiker beurlaubt und bekamen weiterhin ihr fabulöses Gehalt. Sämtliche Prozesskosten inklusive der Anwälte der Angeklagten wurden von den Steuerzahlern übernommen. Warum auch nicht.

Als wir auf das Thema Kirche zu sprechen kamen, erzählte er uns noch eine weitere faszinierende Geschichte. Gerade vor ein paar Wochen war einer der beiden größten kirchlichen Konzerne Sloweniens Pleite gegangen. Es war eine Organisation gewesen, die ähnlich funktionierte wie der Vatikan, nur natürlich deutlich kleiner. Die Bischöfe und Kardinäle hatten mit dem Geld um sich geworfen, dass es nur so krachte. Nach der Pleite war herausgekommen, dass nicht wenige von ihnen allein rund fünftausend Euro für Schuhe im Monat ausgegeben hatten. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie dann der übrige Lebensstil gewesen sein muss. Es war also kein Wunder gewesen, dass das Unternehmen oder die Körperschaft, oder was es auch war, früher oder später bankrott gehen musste. Was jedoch noch spannender war, war die Liste der Firmen, in denen das Unternehmen überall ihre Finger im Spiel hatte. Dazu gehörte unter anderem auch eine der größten Mediengesellschaften Sloweniens. Diese beinhaltete nicht nur Fernseh- und Radiosender sowie eine Filmproduktion, sondern auch eine recht große und erfolgreiche Pornoindustrie. Soviel also zum Sittlichkeitsauftrag der christlichen Kirche.

Spruch des Tages: Es gibt mehr Süße im Leben, als wir jemals essen könnten.

Höhenmeter: 530

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 8726,77 km

Wetter: sonnig, leicht bewölkt, immer wieder kurze Regenschauer

Etappenziel: Hotelrestaurant Gostilna Zolnir, Krška Cesta 4, 8311 Kostanjevica na Krki, Slowenien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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