Tag 506: Tagebuch der Wildnis – Teil 3

von Heiko Gärtner
23.05.2015 01:53 Uhr

 Sonntag 17. Mai 2015

Wir verließen die Stadt am Fluss entlang und bogen dann in die Berge ab. Landschaftlich ist das Land wirklich der absolute Knaller! Es sieht aus wie in Österreich, nur dass einem von den Almen aus hin und wieder einige Moscheen entgegen winken. Am Mittag erreichten wir ein winziges Dorf mit einem Fußballplatz. Es ist so klein, dass es nicht einmal eine Postleitzahl bekommen hat. Eigentlich wollten wir den Imam, also den muslimischen „Pfarrer“ um einen Schlafplatz bitten, doch wir konnten ihn nicht finden. Stattdessen trafen wir einen Mann, der uns die Schlüssel für ein altes Vereinshaus gab. Es war so dreckig, dass ich beim Fegen fast eine Staublunge bekam, aber wir hatten ein Dach, vier Wände, Wasser und Strom. Jedenfalls theoretisch, denn praktisch war der Strom in der ganzen Region ausgefallen und ging erst ab 20:00 Uhr wieder. Da eine Wasserleitung kaputt war, mussten wir das Wasser direkt nach jeder Benutzung wieder abdrehen. Sonst war aber alles in Ordnung.

Es war uns jedoch ein Rätsel, wie man so ein Gebäude so verwahrlosen lassen konnte, vor allem, in einem Land, in dem doch augenscheinlich so viel Armut herrschte. Es waren ja enorme Werte, die hier verloren gingen. In dem Raum, in dem wir übernachten durften, lagen bestimmt 30 oder 40 nagelneue Trikots herum, die von verschiedenen deutschen Vereinen gespendet worden waren. Sie waren eigentlich in einem Top-Zustand, abgesehen davon, dass sie voller Spinnenweben und Staub waren und langsam immer mehr verfielen. Ein anderer Raum in diesem Gebäude war früher einmal eine Arztpraxis gewesen. In der Ecke stand noch immer der Sterilisator mit dem Operationsbesteck herum, der sicher seine 5000€ wert war, aber wohl kaum je wieder Verwendung fand.

Da wir keinen Strom hatten und es nahrungstechnisch auch sonst noch etwas mau aussah, fragten wir noch einmal in der Nachbarschaft nach einer kleinen Stärkung. Eine muslimische Familie öffnete uns und die beiden Frauen (Mutter und Tochter) eilten sofort in die Küche um uns Sandwiches zu machen. Die Gastfreundschaft war überwältigend, vor allem wenn man bedachte, dass die Familie selbst kaum etwas hatte.

 

Montag 18. Mai 2015

Heute war sicherlich einer der abstraktesten Tage unserer Reise, wenngleich die kommenden Tage nicht viel weniger eigen werden sollten.

Der Vormittag verlief noch ganz normal und wenig ereignisreich, bis wir auf eine tote Ringelnatter stießen, die zusammengekringelt am Straßenrand lag. Sie schaute uns an und wirkte noch immer unheimlich lebendig, weshalb wir uns ihr nur vorsichtig näherten.

Nachdem Heiko einige Fotos geschossen hatte, zogen wir weiter. Doch wir waren kaum ein paar Meter gegangen, als plötzlich eine riesige dunkle Schlange vor uns über die Straße kroch. Wahrscheinlich war es eine Zornnatter und in ausgestrecktem Zustand war sie gut und gerne ihre 1,5m lang. Wir waren keine drei Meter von ihr entfernt und auch sie schaute uns direkt an. Diesmal aber mit lebendigen Augen. Nattern sind die Hüter und Beschützer der Kinder aber auch der inneren Kinder der Erwachsenen. Außerdem verkörpern sie die Verbindung zu Mutter Erde. Und dieses Gefühl hatten wir in diesem Moment wirklich. Es war, als würde uns die Erde selbst direkt in die Augen schauen. Nur für einen Moment, dann verschwand sie im Gebüsch. Die Schlange natürlich, nicht die Erde. Die blieb schon da, wo sie war. Schnell stellten wir die Wagen ab und liefen zu der Stelle, wo die Schlange verschwunden war. Vielleicht konnten wir ja noch einmal einen Blick auf sie erhaschen. Doch außer ein paar Blättern, die sich durch ihr Schlängeln bewegten, war nichts mehr zu sehen.

Kurz darauf erreichten wir eine nagelneue, strahlende Kirche mit zwei Glockentürmen. Sie sah recht einladend aus und wir beschlossen, einen Blick hineinzuwerfen. Sie musste gerade erst aufwändig renoviert worden sein und sogar die Kirchenbänke waren komplett ausgetauscht worden. Die alten standen noch vor der Tür.

„Ob wir hier wohl nach einem Mittagessen fragen sollten?“ fragte ich, als wir die Kirche gerade wieder verlassen wollten. Genau in diesem Moment kam uns ein Mann entgegen und trat auf uns zu.

„Seit ihr bereit für ein Mittagessen?“ fragte er.

Wir waren baff. Woher wusste er das? Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Mann um den Pfarrer. Er führte uns in ein Nebengebäude der Kirche und bat uns am Tisch Platz zu nehmen. Außer ihm saßen hier noch drei weitere Männer. Der Pfarrer hatte heute seinen Geburtstag und so wurde reichlich aufgetischt. Es gab zunächst zwei verschiedene Suppen und dann ein vielfältiges Hauptgericht mit Tomaten, Schnitzel, Reissalat und vielerlei mehr. Dazu natürlich Brot und zum Nachtisch einen dicken Kuchen, gegen den wir uns nicht wehren konnten, auch wenn wir es mit Kräften versuchten.

Der Pfarrer erzählte uns, dass er zwei Bücher geschrieben hatte, in denen es um Heilung durch Gebete ging. Nach dem Essen führte er uns in seine Kirche und schenkte uns je ein Exemplar seiner Werke. Heiko las sich die Bücher in den folgenden Tagen mit einer Mischung aus Faszination, Begeisterung und Entsetzen durch. Es stand viel darin, was wirklich Hand und Fuß hatte und das erkennen ließ, dass der Autor eine Menge über Heilung verstanden hatte. Gleichzeitig war es aber auch eine Hasstirade gegen alle naturheilkundlichen Ansätze, die nichts mit der Kirche zu tun haben. Was immer unser Gastgeber auch bezwecken wollte, er war für seine Anhänger eine Art Rockstar, der viele Tausend Menschen in seine Heilungsgottesdienste lockte und der es verstand eine Propaganda aufzubauen, auf die mancher Sektenführer neidisch wäre.

Bevor wir gingen führte er uns noch in die Sakristei der Kirche. Hier gab es eine Art Wandregal, in dem lauter Krücken und Gehhilfen aufbewahrt wurden. Es waren die Krücken jener Menschen, die hierher gekommen waren, um geheilt zu werden und die diese Heilung auch erfahren hatten. Ich habe keine Ahnung was und wie viel dahinter steckt, aber auf seine Art war es definitiv beeindruckend.

Was Heiko und mich anbelangte, konnten wir jedoch nicht behaupten, uns besonders geheilt zu fühlen. Das Essen lag in unseren Bäuchen wie dicke Backsteine. Heikos Mitralklappe schmerzte, so dass er kaum noch laufen konnte und mein Magen war so aufgebläht, dass mir die Luft wegblieb. Drei Mal bekam ich einen heftigen Schluckauf davon und für den Rest des Tages wurde meine Atmung so flach, dass mich der kleinste Hügel an die Erschöpfungsgrenze brachte. Das war vor allem deshalb problematisch, weil wir noch ewig weit und vor allem sehr hoch wandern mussten.

Rund fünf Kilometer hinter der Kirche lag das Dorf Ljubija. Es war ein muslimisches Dorf und als wir es betraten wirkte es zunächst ganz vielversprechend. In einer Bar fragten wir einige Menschen um Unterstützung bei der Schlafplatzsuche und kurz darauf wurden wir von einem Jungen zu einem Haus geführt, in dem wir angeblich übernachten konnten. Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits so schlecht, dass ich ein paar Mal glaubte, mich übergeben zu müssen.

Der Junge führte uns zu einem Haus mit einem verschlossenen Gartentor, vor dem wir warten sollten. Unterhalten konnten wir uns mit ihm nicht, denn sein Englisch war sogar noch schlechter als unser Bosnisch. Es dauerte eine ganze Weile, dann kam eine Frau mit Lockenwicklern im Haar aus dem Haus und schaute uns missmutig an. Sie sprach etwas Italienisch und Spanisch, hatte jedoch keine Ahnung wer wir waren und was wir wollten. Die Frau aus er Bar hatte ganz offensichtlich doch nicht mit ihr gesprochen. Sie erklärte uns, dass sie zwar normalerweise Gästezimmer vermietete, heute aber ihren Putztag hatte und daher niemanden aufnehmen konnte. Ich versuchte ihr auf Spanisch zu erklären was wir machten und dass wir kein aufgeräumtes Zimmer sondern nur irgendeine Schlafmöglichkeit brauchten, doch durch meine Schlechtigkeit und das Sprachkauderwelsch in dem ich mich verfing brachte ich es einfach nicht richtig rüber. Abgesehen davon war aber eh vom ersten Moment an klar gewesen, dass sie keine Lust auf Fremde hatte und dass ihr unsere Geschichte relativ egal war. Hätten wir einen ordentlichen Batzen Geld auf den Tisch geblättert, dann hätte sie sich überreden lassen, aber so war nichts zu machen. Geld schien überhaupt Vielerorts eine der wenigen Sprachen in diesem Land zu sein, die die Menschen verstanden.

Wir zogen also weiter und waren eigentlich davon überzeugt, den kleinen Ort wenige Meter hinter dem Haus der alten Dame wieder zu verlassen, doch das war offensichtlich ein Irrtum. Hier begann der eigentliche Ort erst und er wurde sogar zu einer richtigen Stadt. Einer wirklich hässlichen und heruntergekommenen Stadt in der man sich unmöglich wohl fühlen konnte. Wir hatten nun einen neuen Plan. Wir wollten nicht mehr hier übernachten, wir wollten nur noch so schnell wie möglich raus.

Doch auch das war uns nicht vergönnt. Ungefähr in der Mitte der Ortschaft wurden wir von einem Polizisten angehalten, der uns um unsere Pässe bat. Er war ein freundlicher und sympathischer Mann und so hatten wir nichts gegen ein kurzes Gespräch mit ihm. Da er selbst kein Englisch und auch kein Deutsch sprach, rief er seine Frau an, damit sie für uns dolmetschen konnte. Eine Praxis, die hier recht üblich ist, wie sich in den kommenden Tagen noch herausstellen sollte.

Seine Frau erklärte uns, dass wir uns als deutsche Touristen eigentlich innerhalb von 24 Stunden hätten bei der Polizei anmelden müssen. Das sei aber kein Problem, wir sollen seinem Mann einfach auf die Wache folgen, dann können wir das dort nachholen. Es handele sich um eine reine Formalität, nichts dramatisches.

Für die nächsten fünfhundert Meter durch die Stadt hatten wir dann also ein Polizeigeleit. Es war schon ein etwas komisches Gefühl, den Polizisten mit unseren Pässen davonfahren zu sehen und ihn dann immer wieder einholen zu müssen.

Die Polizeiwache war als einziges Gebäude der Stadt an einem schönen Platz mitten in einem Park gelegen. Hier trafen wir nicht nur unseren Polizisten des Vertrauens sondern auch noch zwei weitere Beamte. Heiko bekam erst einmal einen meterlangen Fragebogen zum Ausfüllen. Ich erkundigte mich in der Zwischenzeit nach der Toilette um einen Teil des Pfarrermahls wieder loszuwerden. Andernfalls hätte es auf der Polizeiwache sicher noch ein Malheur gegeben. Eine Toilettenspülung gab es nicht, dafür aber ein großes Fass mit Wasser und einige Eimer zum Ausschöpfen.

Als ich zurückkehrte hatte Heiko den Fragebogen größtenteils ausgefüllt und telefonierte bereits wieder mit der Frau des Polizisten. Denn die Sache war leider nicht so einfach, wie sie zunächst gewirkt hatte. Wir konnten uns nur dann auf dieser Polizeiwache anmelden, wenn wir auch in dieser Stadt übernachteten, hier also eine vorrübergehende Wohnadresse hatten. Wanderten wir jedoch weiter, so war auch eine andere Dienststelle für uns zuständig und damit war der ausgefüllte Fragebogen dann wertlos. Sicher wäre es hilfreich gewesen, uns diese Information gleich am Anfang zu geben, aber das war einfach nicht der Stil der Beamten.

Wir fragten die Frau, ob es in der Stadt vielleicht irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit für uns gäbe, doch ihr viel nichts ein und auch die Polizisten hatten keine Idee. Also lehnten wir uns erst einmal wieder zurück und warteten darauf, dass die Polizisten eine Einigung darüber erzielten, wie nun weiter vorzugehen war. Der grimmige Beamte, der die ganze Zeit hinter dem Schreibtisch saß und uns anstarrte, kam plötzlich auf eine glorreiche Idee. Keine Idee, von der Sorte, die irgendjemandem auf irgendeine Art weiterhalf, aber eine Idee, wie er seine Langeweile vertreiben konnte. Sein Blick war zufällig auf unseren Rucksack gefallen und wo wir hier eh alle zusammen herumsaßen, konnte er doch einmal eine Untersuchung vornehmen. Er bedeutete mir, den Rucksack zu öffnen und den Inhalt vor ihm auszubreiten. Ich schluckte mein Gefühl des Genervtseins herunter und tat dem Polizisten den Gefallen so freundlich, wie ich es konnte.

„Hier ist unsere Kamera“, erklärte ich ihm den Rucksackinhalt, „und hier sind die passenden Objektive dazu.“

Mit der Zeit entwickelte ich sogar eine Freude daran, den Beamten gezielt durch meine Bemerkungen und Kommentare so zu lenken, wie ich ihn haben wollte. Es war faszinierend, wie leicht es war, ihn von bestimmten Gegenständen abzulenken und ihn seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. In unserem Fall war das vollkommen willkürlich, weil wir ja nichts zu verbergen hatten. Doch wenn wir etwas hätten verstecken wollen, dann wäre es kein Problem gewesen.

Nachdem auch dieses Unterhaltungspotential bei uns ausgeschöpft war, wussten die Beamten langsam nicht mehr, was sie mit uns anfangen sollten. Wir waren wie ein neues Spielzeug, dass seinen Reiz verloren hatte, weil man bereits all seine Funktionen entdeckt hatte. Zum Abschied durften wir noch unsere Wasserflaschen auffüllen, weil Heiko durch eine gezielte Handbewegung auf den Wasserspender hinten im Raum aufmerksam gemacht hatte. Dann wünsche man uns eine gute Reise und ließ uns wieder gehen. Seit uns der Polizist angehalten hatte war nun mehr als eine Stunde vergangen und es begann bereits zu dämmern. Wir verließen die Stadt über die Hauptstraße, die plötzlich zu einem Schotterweg wurde. Ein Umstand über den wir uns längst nicht mehr wunderten. Die Straße wand sich in engen Serpentinen immer höher den Berg hinauf. Irgendwann verzweigte sie sich immer weiter und auf unserer Karte war nicht mehr zu erkennen, wo wir eigentlich waren. Wir orientierten uns nach Gefühl und Himmelsrichtung und versuchten irgendwo einen geeigneten Platz für unser Zelt zu finden. Mehrere Male war ich kurz davor, mich einfach an den Straßenrand zu legen. Mir war noch immer Speiübel und ich konnte kaum mehr laufen vor Erschöpfung. Unsere Wasservorräte wurden bereits wieder knapp und zum Essen hatten wir nichts weiter als ein trockenes Brot vom Vortag. Unglaublich wie schnell dieses Zeug ungenießbar wird.

Nachdem wir einige Plätze aufgrund von Schräglage und Dornen am Boden ausgeschlossen hatten, kamen wir wieder auf eine Teerstraße. Dies musste nun die richtige Hauptstraße sein, wo immer wir sie in der Stadt auch verlassen hatten.

Um sicher zu gehen hielten wir einen Autofahrer an und fragten ihn nach dem Weg. Seine Frau war freundlich und versuchte uns zu helfen, doch je hilfsbereiter sie wurde, desto komischer wurde der Mann. Schließlich fuhr er einfach mitten im Gespräch weiter.

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden als wir endlich ein winziges Dorf erreichten, in dem es eine Wiese gab, auf der wir zelten konnten. Sie befand sich zwar direkt neben einem Bach und noch direkter vor einem Haus, doch wir konnten nicht mehr allzu wählerisch sein. Wir schafften es gerade noch, alles aufzubauen, bevor es so dunkel wurde, dass wir nichts mehr sehen konnten. Dann versuchte ich noch einmal mein Glück damit, etwas zum Essen aufzutreiben. Es gab jedoch nur ein einziges Haus im Ort, das bewohnt war. Hier lebte eine Alte Frau und die hatte wenig für nächtliche Wanderer übrig. Nicht einmal einen Apfel wollte sie uns geben. Heiko musste sich also mit dem trockenen Brot zufrieden geben und mir war eh noch immer so schlecht, dass ich keinen Bissen herunterbrachte.

Spruch des Tages: Nur aufs Ziel zu sehen, verdirbt die Lust am Reisen. (Friedrich Rückert)

 

Höhenmeter: 90

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 9146,77 km

Wetter: Regen, den lieben langen Tag lang

Etappenziel: Zeltplatz unter einer Holzhütte hinter der Stadt, Bosnien und Herzegowina

 

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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