Tag 544: Nicht überarbeiten

von Heiko Gärtner
29.06.2015 16:10 Uhr

Noch 18 Tage bis zum Treffen mit Paulina!

Nach einer angenehm heißen Dusche wurden wir von Pfarrer Marko und seinem Kaplan zum Abendessen eingeladen. So kulinarisch wie der Tag begonnen hatte, endete er damit auch und es fühlte sich ein bisschen so an, als hätten wir heute mit einem Mal alles nachgeholt, was uns in den letzten Tagen verwehrt geblieben war. Mit anderen Worten, wir waren voll bis zum Platzen.

Marko hatte gerade ein Jugendcamp für die Kinder aus den umliegenden Ortschaften organisiert, das heute den letzten Tag stattgefunden hat. Nun waren er und der Kaplan rechtschaffend kaputt und brauchten erst mal wieder etwas Zeit zur Entspannung. Sie erinnerten uns an unsere eigenen Jugendcamps, die wir geleitet hatten und die uns auch jedes Mal den letzten Tropfen Energie abgezapft hatten. Überhaupt führte Marko ein Leben, dass dem unsrigen vor unserer Reise sehr ähnlich war. Er versuchte alles zu organisieren, das ihm am Herzen lag, machte Jugendkamps, leitete Messen, kümmerte sich als Seelsorger um die Gemeinde, baute die Kirchengebäude wieder auf, die durch den Krieg zerstört worden waren, war verantwortlicher Pfarrer für das Flüchtlingslager, dass einige Kilometer entfernt lag, arbeitete als Dozent für Theologie an der Universität von Mostar und versuchte nebenbei noch ein Buch zu schreiben, bei dem er aus irgendeinem Grund nicht so schnell vorankam, wie er gehofft hatte. Alles in allem hatte er sich das Schlafen so gut wie abgewöhnt und selbst wenn er zu Bett ging, dann träumte er noch von den Dingen, die erledigt werden wollte. Wie wir damals hatte auch er keine Öffnungszeiten, wenn jemand nachts um 4:00Uhr Probleme hatte, dann wusste er dass er den Pfarrer anrufen und um Rat fragen konnte. Doch genau wie wir damals spürte auch er, dass er selbst bei all dem auf der Strecke blieb. Essen wurde zu einer Art Druckbetanken und sein Körper begann die ersten Signale zu senden, dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Die Hilfsbereitschaft für andere Menschen ging sogar soweit, dass es unmöglich geworden war, in seiner eigenen Gemeinde zur Ruhe zu kommen. Wenn er wirklich einmal ausspannen wollte, dann setzte er sich ins Auto und fuhr nach Split, Dubrovnik oder Sarajevo und zurück, nur um Abstand zu gewinnen.

Vor einiger Zeit hatte dann sein Arzt mitgeteilt, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Seine Blutwerte waren katastrophal, seine Leber fühlte sich chronisch überfordert und sein Lymphsystem begann Wasser im Körper einzulagern, um die gespeicherten Giftstoffe zu verdünnen. So gerne er den Trubel auch hatte, es war einfach nötig, dass er mal wieder wirklich Zeit für sich fand und von der Dauerstressphase zurück in den Entspannungsmodus kam. Wir sprachen am Abend lange darüber und erzählten auch von unseren eigenen Erfahrungen, so dass er mehr und mehr den Mut fassen konnte, nicht nur für alle anderen, sondern auch wieder für sich selbst da zu sein. Gleichzeitig wurde uns noch einmal bewusst, wo es uns hingetrieben hätte, wenn wir nicht aufgebrochen, sondern den Alltagswahnsinn der Selbstständigkeit weiter mitgemacht hätten. Wie lange wäre es wohl noch gut gegangen, bis wir ernsthaft krank geworden wären? Ein paar Monate? Ein Jahr?

Marko erzählte uns, dass er auch vorhatte, nach Santiago zu wandern. Er wollte das eigentlich schon seit vier Jahren machen, hatte bislang aber nie die Zeit gefunden. Im kommenden Frühjahr würde er es nun aber in die Tat umsetzen, wenn auch gemeinsam mit einer Gruppe. Wir schlugen vor, dass er den Camino del Norte wählen sollte und stellten ihm eine Liste mit guten Schuhen, Socken und anderem wichtigen Pilgermaterial zusammen.

Als wir dann schließlich schlafen gingen war es auch schon wieder später als wir eigentlich geplant hatten. Wir konnten zwar ausschlafen, doch die Kirchenglocken in der Früh schafften es trotzdem uns im Schlaf ein bisschen zu unterbrechen. Als schließlich der Wecker klingelte, war mein Gesicht so aufgedunsen, dass ich kaum aus den Augen schauen konnte. Sogar die Falte in der Mitte meiner Stirn war fast verschwunden.

„Siehste“, meinte Heiko im Halbschlaf nur knapp, „da brauchst du gar kein Botox mehr!“

Die erste heilige Messe, die Marko am Sonntag leiten musste dauerte von acht bis kurz vor neun. Ideal also um uns nach der Messe zum Frühstücken zu treffen. Und auch jetzt wurden wir wieder besser verwöhnt als in einem Sternehotel. Es gab frische Körnerbrötchen mit Rührei, Ajvar, selbst gemachter Salami, Tomaten und Gurken. Alles aus eigenem Anbau, bzw. hausgemacht von Menschen aus der Gemeinde. Das Beste war aber der frischgepresste Orangensaft. Seit Spanien hatten wir den nicht mehr bekommen und seither haben wir ihn vermisst.

Zum Abschied gab und Marko noch einige Adressen von befreundeten Pfarrern, die uns ebenfalls aufnehmen würden und die entlang unserer Strecke wohnten. Damit fühlten wir uns gleich etwas mehr gewappnet für die kommende Zeit in Bosnien.

Unser Weg führte zunächst wieder an der Hauptstraße entlang, bevor wir dann in ein flaches Hügelland abbogen. Komischerweise haben wir in letzter Zeit immer das Gefühl, dass wir in den Flachebenen mehr Höhenmeter machen als im Gebirge, weil es hier immer nur bergauf und bergab geht, nur eben im ständigen Wechsel. Schließlich mussten wir ein weiteres Mal bergab, um nach Zitomislici zu gelangen. Dieser kleine Ort lag mitten in einem Canyon und beherbergte ein orthodoxes Kloster, dessen Anführer ein bekannter von Marko war. Um in den Canyon hinunter zu gelangen mussten wir einer Serpentinenstraße folgen, die uns zum Glück zuvor von einer freundlichen Dame noch einmal genau gezeigt wurde. Die Straße wurde nämlich bereits seit 20 Jahren nicht mehr als Straße, sondern nur noch als Müllhalde benutzt und war seither vollkommen zerstört worden. Der Asphalt war verschwunden und er gab nun nur noch einen Feldweg, dem wir den Berg hinunter folgten.

Unten endete der Weg direkt auf dem Parkplatz des Klosters. Diesmal war ich jedoch schlauer als beim ersten Mal und zog mir direkt eine lange Hose über. Man lernt ja aus seinen Fehlern. Gebracht hat es mir allerdings nichts. Der junge Mönch, den ich im Kloster traf, machte mir klar, dass ein Boss nicht zu sprechen sei und das heute alle Zimmer belegt wären. Ich bat daher um die Genehmigung, unser Zelt im Klostergarten aufstellen zu dürfen, aber auch das wurde uns verweigert. Wir könnten stattdessen hinter dem Kloster auf einer Granatapfelplantage zelten. Wasser könnten wir uns von einem Außenwasserhahn holen, Strom und eine Toilette gab es aber nicht. Am Ende seines Angebotes blieb also nicht mehr viel übrig, dass den Schlafplatz hier von jedem anderen Platz im Umkreis unterschied. Hinzu kam, dass einem die Zirpen das Zelten hier fast unmöglich machten. Die kleinen Plagegeister waren bereits seit ein paar Tagen wieder so aktiv wie damals in Spanien. Wann immer man sich an einer Stelle befand, an der es keinen Autolärm oder andere Störgeräusche gab, führten sie ihr Konzert auf. Je nach Art klang es dabei wie das Kratzen mit Fingernägeln auf einer Tafel, wie das Brummen eines Kühlschrankes, oder wie diese Holzrätschen, die Fußballfans gerne im Stadion verwenden um möglichst viel Lärm zu machen. Egal welche Art es jedoch war, sie führte immer dazu, dass einem der Schädel zu brummen begann und dass man sich nicht mehr konzentrieren konnte. Warum um alles in der Welt machten diese Tiere das? Wenn alles einen Sinn hat, was ist dann der Sinn hinter diesem Lärm aus der Natur?

Fest stand jedenfalls, dass wir uns nicht mit dem Insektenlärm herumplagen wollten und dass wir den als Angebot getarnten Rausschmiss des Klosters ebenfalls nicht wahrnehmen mochten. Also wechselten wir auf die andere Seite des Flusses und versuchten unser Glück bei der katholischen Kirche. Es war niemand da und so fragte ich im Nachbarhaus nach dem Pfarrer. Der Nachbar war ein Mann in den 60gern, hatte ein rotes, sonnenverbranntes Gesicht, eine eigenartige Beule am Kinn und ein trübes, blindes Auge. Er sprach keine der mir bekannten Sprachen und so half mir wieder nur der Zettel mit der Google-Übersetzung weiter. Irgendwie bekam ich dabei mit, dass der Pfarrer in einer anderen Gemeinde lebte, die 6km den Berg hinauf lag. Das war zu weit weg und zu weit oben.

„Pfarrer – Telefon?“ fragte ich und hielt meine Hand ans Ohr als würde ich telefonieren.

„Ok!“ sagte der Mann, holte einen Zettel mit der Nummer und ein Telefon und hielt mir beides hin.

„Spricht er Englisch oder Deutsch?“ fragte ich vorsichtig.

Der Mann zuckte mit den Schultern. Ich würde es wohl selbst herausfinden müssen.

„Dober Dan!“ sagte die Stimme am anderen Ende.

Ich stellte mich vor und fragte nach den Sprachkenntnissen aber der Pfarrer hatte sich wie der Nachbar auf Kroatisch konzentriert.

„Moment!“ sagte ich und hielt das Telefon dem Mann hin. Er nahm es und begann dem Pfarrer zu erklären was wir wollten. Soweit ich es verstehen konnte, sah die Erklärung dabei in etwa so aus:

„Hallo Ivan! Wie geht’s dir? Du hier stehen zwei Typen aus Deutschland bei mir im Garten, keine Ahnung wer das ist und was die wollen. Ich glaube es sind irgendwelche Touristen die nach Medjugjorje wollen oder so. Auf jeden Fall suchen die nen Platz zum Schlafen und fragen ob du einen für sie hast. In der Kirche oder so!“

Daraufhin muss der Pfarrer eine ganze Reihe von Fragen gestellt haben, die der Mann allesamt mit „Keine Ahnung!“ beantwortete. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass uns der Pfarrer überhaupt nicht aufnehmen konnte. Wie sollte es dazu ja sagen? Er hatte keine Informationen. Wir konnten also ebenso gut irgendwelche Alkoholiker, Schläger oder Diebe sein.

Zu meiner völligen Überraschung sagte er aber dennoch zu. Der Mann sollte lediglich die Tür zur Kirche abschließen und sich unsere Reisepässe zeigen lassen. Dann konnten wir in einem großen Gemeinschaftsraum unterhalb der Kirche übernachten und bekamen später sogar noch etwas Gemüse geschenkt.

Spruch des Tages: Willst du dein Land verändern, verändere deine Stadt, willst du deine Stadt verändern, verändere deine Straße, willst du deine Straße verändern, verändere dein Haus. willst du dein Haus verändern, verändere dich selbst. (Arabisches Sprichwort)

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 9806,77 km

Wetter: bedeckt aber heiß, zwischendurch leichter Nieselregen

Etappenziel: Gemeindesaal unter der Kirche, Zitomislici, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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