Tag 561: Die Herde

von Heiko Gärtner
15.07.2015 20:28 Uhr

Noch 10 Tage bis zu Tobias’ 2. Weltreisegeburtstag!

Ganz so ruhig wie wir dachten war unser Schlafplatz dann wohl doch nicht. Während ich bei der netten Familie zu gast war, bekam Heiko Besuch von fünf Jugendlichen, die die alte Fabrik noch etwas älter aussehen lassen wollten. Sie tollten durch die Halle, kletterten in die obere Etage und fanden es witzig, Steine von dort aus nach unten zu werfen. Im Normalfall wäre dagegen ja auch nichts einzuwenden gewesen, wäre die Halle nicht im Sommer auch der Treffpunkt für Pärchen, die romantische Zweisamkeit suchen. Und natürlich unser Schlafplatz. Heiko ließ das Spektakel eine ganze Weile über sich ergehen, doch als die Jungs zu nah an unser Zelt kamen und begannen, es als Zielscheibe zu verwenden, brachten sie das Fass zum überlaufen. Nur mit einer Unterhose bekleidet sprang Heiko aus dem Zelt und hielt den Halbstarken eine Standpauke die ihnen klar machte, dass sie hier nicht länger willkommen waren.

Die Jungs verstanden die Botschaft trotz Sprachbarriere und liefen davon, bis sie einen sicheren Abstand zwischen sich und Heiko gebracht hatten. Dann fühlten sie sich wieder stark, blieben stehen und riefen provozierende Kommentare zurück, deren Bedeutung Heiko ebenfalls trotz Sprachbarriere verstand. Es gibt einfach Botschaften die auch ohne ein einziges verständliches Wort klar werden. Wenn es ihre Absicht war, Heiko damit zu reizen, dann war ihr Plan erfolgreich, denn dieser schnappte sich den ersten, waffenähnlichen Gegenstand den er finden konnte und hielt ihn drohend in die Höhe. Diesmal waren nicht einmal mehr Worte nötig um die Nachricht verständlich zu machen: „Wenn ihr euch noch einmal in die Nähe dieses Platzes traut, dann schlage ich euch die Schädel ein!“

Da den Jungs offenbar einiges an ihren Schädeln gelegen war, verzichteten sie auf weitere Provokationen und verschwanden auf nimmer wiedersehen. Zufrieden kehrte Heiko ins Zelt zurück und legte die Waffe wieder neben den Eingang. Es war unsere Teekanne, die wirklich froh darüber war, niemanden schlagen zu müssen. Denn das hätte ihr bestimmt nicht besonders gut getan.

Elinas Mutter hatte sich am meisten Sorgen wegen der wilden Hunde gemacht, die nachts sicher in dieser Halle herumstreunten. Doch Hunde waren so ziemlich das einzige, das hier nicht auftauchte. Der einzige Kläffer, der uns nervte war ein alter, heiserer Hund, der die ganze Nacht durch vom Tal herauf bellte und dabei klang, als wäre jedes Bellen sein letztes. Was es dann aber leider nicht war.

Auf der anderen Seite der Halle erklang hingegen ein mitleiterregendes Maunzen, dass sich ebenfalls bis spät in die Nacht hinein nicht beruhigen wollte. Schließlich aber kam es näher und mit einem mal hörten wir es direkt aus unserem Vorzelt. Ein Blick nach draußen verriet, dass der Verursacher dieses Maunzens ein kleines, schwarzes Kätzchen war, das uns nun mit großen Augen anblickte. Er war keine drei Wochen alt und so abgemagert, dass man jede seiner Rippen sehen konnte. Und das trotz des Dämmerlichtes.

Der offene Eingang zu unserem Innenzelt war für ihn eine Aufforderung, gleich einmal hinein zu spazieren. Doch das konnten wir nicht zulassen.

„Hey!“ rief ich, „kein Zutritt für Krallenträger!“ Wir konnten nicht auch noch Löcher in den Matten gebrauchen. Hier bleiben konnte der kleine Freund nicht, aber wir konnten ihn ja auch nicht einfach davonjagen. Also nutzten wir die gute alte Bestechungstaktik. Gut dass uns die Mutter von Elina eine Packung Nutella mitgegeben hatte. Ich schnappte den Kater mit der linken und den Nutella-Topf mit der rechten Hand und nahm beides mit nach oben zur Straße. Dort gab es ein kleines Wäldchen in dem ich beides auf den Boden setzte. Sofort wollte der Kater Reißaus nehmen, dann aber hörte er hinter sich das Knacken des Dosendeckels. Er drehte sich um und schaute dabei direkt in den Schein meiner Taschenlampe. Geblendet hielt er sich die Pfoten vor die Augen. Dann roch er die Nougatcreme und kam sofort wieder her. Gierig begann er zu schlecken und sofort waren ich und das grelle Licht vergessen. Eine gute Viertelstunde maunzte er schon wieder. Diesmal wahrscheinlich wegen Bauchschmerzen.

Am Morgen saß er wieder direkt vor unserem Zelt. Heiko stellte den Teller vor ihn hin, den wir gestern Abend von der Familie bekommen hatten. Später schenkten wir ihm noch etwas Käse und ein bisschen Fisch. Da wir ihn aber nicht bis in alle Ewigkeit versorgen konnten, schließlich hatte er ja keinen Kühlschrank, der gefüllt werden konnte, wollten wir ihn eigentlich mitnehmen und zum Haus der Familie bringen. Dort lebten eh schon einige Katzen und vielleicht konnte er dort ja auch ein Zuhause finden. Sein Problem war ja nicht, dass es hier nichts zum Essen gab, sondern dass er niemanden gehabt hatte, der ihm beibringen konnte, wie man es sich beschafft. Doch als wir aufbrechen wollten, war der kleine Verschwunden. Es maunzte aus der unteren Etage der Halle, ein Bereich, der für uns unzugänglich war. Es wirkte, als würde er uns damit sagen wollen, dass er gerne hierbleiben möchte. Da wir in einer knappen Stunde an der Post sein mussten, um uns mit Paulina zu treffen, akzeptierten wir seinen Wunsch und verließen die Halle.

Paulinas Fahrer hatte sich bereiterklärt, unsere kaputten Matten mit nach Deutschland zu nehmen, damit wir sie umtauschen können. Doch um kurz nach 9:00 Uhr wollte er sich wieder auf die Heimreise machen. Bis zum Treffpunkt waren es nun genau 4km, also eine Strecke, die locker zu schaffen war. Doch wie immer in solchen Situationen klappte es nicht auf anhieb. Wir verfranzten uns und landeten mitten auf einem Feld, von dem wir uns nicht erklären konnten, wie es in diese Stadt kam. Die Straße, die wir suchten, lag direkt vor uns, doch dazwischen befand sich ein Graben, den wir nicht überwinden konnten. Also mussten wir uns einen halben Kilometer lang durch mannshohe Gräser schlagen, bis wir an einen kleinen Graben kamen, über den wir die Wagen tragen konnten. Dahinter lag ein weiteres Feld und dahinter begann eine neue kleine Straße, die in die Stadt führte. Kaum hatten wir sie erreicht, huschte eine gigantische grüne Natter vor uns über den Weg. Sie war fast fünf Zentimeter dick und knapp 2m lang. Weit größer also, als man Nattern überhaupt zutraute, das sie es werden können. Die ganze Zeit über, die wir durch das Feld gelaufen waren, hatten wir im Stillen daran gedacht, was wohl war, wenn sich hier eine Schlange versteckte, die wir aufschreckten und die dadurch vielleicht etwas übellaunig wurde. Doch keiner von uns hatte sich getraut, diesen Gedanken laut auszusprechen. Jetzt aber, wo sich die Schlange zeigte, platzte es aus uns heraus. Klar war es eine ungiftige Natter, doch sie war riesig und ein leicht mulmiges Gefühl hinterließ sie auf jeden Fall.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße befand sich der christliche Friedhof, der dem muslimischen um nichts nachstand. Von hier an folgten wir vorsichtshalber der Hauptstraße, die zwar nicht angenehm war, aber wir wollten uns nicht noch einmal verlaufen. Vorbei am Olympiastadion ging es in die Innenstadt, die wirklich so gräßlich war, wie wir es befürchtet hatten.

Plötzlich rief ein Mann aus einem Auto zu uns herüber und winkte wie verrückt. Wir waren in Eile und hatten zudem keine Lust auf ein übliches Floskelgespräch, also ignorierten wir ihn zunächst. Doch der Mann ließ nicht locker und fuhr neben uns her. Wir schauten noch einmal genauer hin und sahen, dass er mit einem Geldschein winkte.

„Wollt ihr keine Spende?“ fragte er.

Damit hatten wir nicht gerechnet. Heiko trat neben das Fenster und nahm die 20 Mark an. Der Mann winkte und fuhr davon.

Kurze Zeit später wurden wir an einer Kreuzung wieder von einem Auto angehalten, diesmal allerdings durch ein Hupen. Es war ein schwarzer Lieferwagen und als wir genau hinschauten, erkannten wir, dass Paulina auf dem Beifahrersitz saß. Der Fahrer bog ab und hielt einige Meter weiter an einer Bushaltestelle. Paulina stieg auf und kam uns entgegen um Heiko in die Arme zu fallen. Dann begrüßte sie auch mich und schließlich begrüßten wir alle den Fahrer. Gemeinsam mit Heiko lud er Paulinas kunterbunten Pilgerwagen aus und nahm die beiden Matten entgegen. Paulina hatte uns zwei andere als Ersatz von Heikos Eltern mitgebracht.

Für eine lange Begrüßung war der Ort jedoch zu ungemütlich und so sattelten wir auf und schlängelten uns durch die Nebenstraßen in die Altstadt. Es gab hier erstaunlich viele Hostels und auch sehr viele Backpacker. Wie kam es, dass man andere Reisende fast nur an Orten wie diesen traf, nie aber an Plätzen in der Natur, an denen es wirklich schön war. Auch die Altstadt überzeugte uns nicht wirklich, da auch hier mehr Verkehr war als alles andere. Lediglich eine kleine Straße mit alten Häusern die steil den Berg hinaufführte wirkte einladend. Dort machten wir eine kleine Rast damit Paulina ihre Füße versorgen konnte. Die neuen Schuhe waren anscheinend doch nicht so bequem wie gehofft und verursachten Blasen. Während wir warteten kam ein Mann auf uns zu, der sich mit uns unterhielt. Er stammte aus Berlin, war Fotograf und ein regelrechter Balkanexperte. Von ihm bekamen wir noch einige weitere Reisetipps, die uns bestimmt noch sehr nützlich werden könnten. Wenn ihr selbst etwas mehr über seine Arbeiten erfahren wollt, dann könnt ihr ja einmal seine Homepage www.muhrbeck.de besuchen.

Paulina hatte sich bis zum Schluss nicht einigen können, was sie mitnehmen möchte und was nicht. Daher hatte sie dann auf den Rat einer Freundin gehört und erst einmal alles eingepackt, um sich dann später zu entscheiden. Dementsprechend schwer war nun ihr Wagen und hinzu kam noch, dass sie ja auch noch einiges an Material für uns dabei hatte. Jeder Berg wurde so zu einer fast unüberwindbaren Hürde für sie, was vor allem deshalb ungünstig war, weil Sarajevo mitten in einem Tal liegt. Wir mussten also fast nur bergauf. Die letzte Steigung war so steil, das Heiko seinen Wagen abstellen und bei Paulina mit anschieben musste. Erschöpft fielen wir alle drei auf einer Treppe auf unsere Hintern und machten erst einmal eine Verschnaufpause. Dabei fiel mein Blick auf ein Gebäude mit der Aufschrift Haris Youth Hostel. Bis aus der Stadt hinaus waren es noch gute 500 Höhenmeter und keiner hatte mehr wirklich Lust auf diese Anstrengung. Also fragten wir nach einem Zimmer und obwohl das Hostel eigentlich ausgebucht war, bekamen wir einen Platz.

„Wir haben noch ein zweites Hostel in der Innenstadt und die Gäste haben sicher nichts dagegen, wenn sie heute dort übernachten!“ meinte die Chefin. Wer hätte gedacht, dass wir gleich am ersten Tag unseres Herdendaseins so viel Glück mit der Unterkunft haben würden.

Im Hostel haben wir dann wieder einmal einen Blick auf unser Spendenkonto werfen können. Vielen Dank an Dorothee Ott für die 20€, die du uns überwiesen hast!

Spruch des Tages: Willkommen in unserer Herde, Paulina!

 

Höhenmeter: 290 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 10.063,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Haris Youth Hostel, Sarajevo, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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