Tag 583: Tag der Entscheidung – Teil 2

von Heiko Gärtner
12.08.2015 18:39 Uhr

Fortsetzung von Tag 582:

Am Nachmittag gab es noch immer keine Lösung. Schließlich setzten wir uns auf eine Wiese, machten eine kurze Essenpause und gingen das ganze noch einmal in Ruhe an. Das einzige was wir bislang verstanden hatten war, dass Paulina nicht hier wäre, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartet. Das war zwar etwas irritierend, da sie es ja gewusst hatte, denn im Grunde waren die vergangenen 10 Tage nicht wirklich anders verlaufen als die Woche vor knapp einem Jahr in Spanien. Doch da weder Heiko, noch Paulina noch ich eine Lösung sahen und ganz offensichtlich keine Bereitschaft herrschte, überhaupt nach einer zu suchen, schien die Entscheidung getroffen zu sein. Wir mussten uns trennen. Bis zur nächsten größeren Stadt waren es nun noch etwa 12 Kilometer. Dort konnten wir versuchen eine Busfahrt oder einen Zug zu organisieren, so dass Paulina zumindest erst einmal an einen Ort kam, von dem aus sie weiterreisen konnte. Vielleicht konnte sie ja sogar der Postfahrer, der sie hergebracht hatte wieder mit nach Deutschland zurücknehmen, wenn sie es schaffte, nach Sarajevo zu kommen.

Erst jetzt, wo die Überlegungen konkreter wurden, wurden Paulina auch die langfristigen Konsequenzen dieser Entscheidungen bewusst. Natürlich waren sie ihr auch zuvor bereits im Kopf herum gegeistert, doch nun gelangten sie auch in ihr Herz. Sie begann zu weinen und schluchzte: „Ich kann doch überhaupt nicht mehr nach hause! Ich wüsste nicht wo ich hin soll und es gibt auch niemanden, der mich abholen würde. Ihr sagt, ich solle zurück nach hause gehen, aber ich habe doch überhaupt kein Zuhause mehr!“

Eine Weile herrschte Schweigen. Paulina schluchzte und weinte weiter vor sich hin. Doch es war kein ehrliches Weinen. Es war kein Weinen der Trauer, sondern ein Weinen, das zeigen sollte, wie arm sie dran war.

„Ich würde dir wirklich gerne helfen!“ sagte Heiko, „aber ich nehme dir das Geheule nicht ab. Es geht dir gerade nicht darum, dass du traurig bist, du bist wieder in deiner Opferrolle. Du bist das arme Hascherl das nach Anerkennung und Liebe schreit, aber die können wir dir nicht geben. Das kannst du nur selbst. Du versuchst gerade, dich vor dir selbst zu verstecken und würdest dich am liebsten selbst aus deinem eigenen Körper schmeißen. Und das überträgst du nach außen. Du kannst nicht ehrlich zu dir sein und auch nicht zu anderen, weil du Angst hast, dann keine Aufmerksamkeit mehr zu bekommen. Aber genau das ist der Grund, weshalb du jeden aus deinem Leben vertreibst. Deine Freunde, deine Familie und gerade sogar uns.

„Aber ich weiß doch überhaupt nicht mehr, wer ich bin!“ schluchzt sie, „Ich habe das Gefühl, dass mein ganzes Weltbild gerade zerbricht und ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Ich habe keine Ahnung, wer ich bin!“

„Nein!“ sagte ich, „das ist nicht das Problem. Wenn es wirklich so wäre, dass du nicht wüsstest, wer du bist, dann wärest du wie eine leere Vase, die offen und bereit dafür ist, neues in sich aufzunehmen. Dann würdest du nicht trauern und wärest auch nicht verzweifelt. Du wärest gespannt und interessiert herauszufinden, wer du bist. Das Problem ist, dass du ein klares Konzept hast, wer du bist. Du glaubst es zu wissen und merkst gerade, dass dieses Konzept eine Lüge ist, die langsam zerplatzt. Das macht dich so fertig, das du dieses bröckelnde Konzept nicht loslassen kannst.“

Paulina nickte und sagte dann: „Ich habe einfach eine wahnsinnige Angst, die Kontrolle zu verlieren!“ Als sie das ausgesprochen hatte, war sie zumindest für einen Moment lang wirklich bereit die Kontrolle loszulassen. Die Tränen brachen nun aus ihr heraus und sie weinte bitterlich. Dieses Mal aber war das Weinen echt. Und genau in dem Moment, in dem sie dich Aufmerksamkeitstränen in echte Tränen verwandelten, stimmte auch die Natur mit ein. Obwohl der Himmel fast wolkenlos war fielen dicke, schwere Tropfen herab. Eine Weile ließen wir sie einfach auf uns hernieder prasseln, dann wurde es etwas zu nass und wir setzten uns unter einen Baum. Es regnete genau so lange, wie Paulina weinte. Dann hörte es auf.

Doch was sollten wir nun machen? Bewusst eine Entscheidung zu treffen war keinem von uns möglich, also befragten wir unsere Muskeln. Wir hatten Kraft. Paulina sollte also bei uns bleiben. Lediglich unsere Köpfe führten einen Streit und waren langsam alle drei der Meinung, dass eine Trennung vielleicht besser war. Doch unsere Herzen und unsere Seelen sahen das anders. Die aufkommenden Konflikte waren kein Zeichen dafür, dass es nicht passte, sondern viel mehr ein Teil des Weges, den wir zusammen gehen sollten. Wir waren ja nicht einfach nur drei Leute, die gemeinsam durch den Balkan liefen. Wir hatten uns nicht ohne Grund getroffen, sondern waren alle drei miteinander vernetzt. Heiko und Paulina waren Dharmapartner, die gemeinsam als Paar ihren weg beschreiten sollten. Dies war auch der Grund dafür, warum jeder in der Lage war, den anderen so schnell zur Weißglut zu bringen. Sie passten wie zwei Puzzlestücke ineinander und zeigten dem jeweils anderen stets die eigenen Schachstellen auf. So wie Heiko Paulina ihre Ängste spiegelte, führte auch Paulina Heiko seine eigenen vor Augen. Sie zeigte ihm seine Ungeduld, seinen Jähzorn und sein Kümmerer-Ich, das stets verhindern wolle, dass ein anderer eine Dummheit begeht, egal wie wichtig sie für diesen Menschen gerade war.

Paulina und ich hingegen waren Spiegelpartner, wie sie treffender nicht sein konnten. Wir hatten nicht die konträren sondern in nahezu allen Bereichen fast identische Themen. Das fing bei der Harmoniesucht, der Unstrukturiertheit und den Selbstzweifeln an und ging bis zur Sexualität, dem Umgang mit Geld und dem Bezug zur Nahrung. Wenn einer irgendwo ein Problem hatte, dann konnten wir fast sicher sein, dass der andere es auch kannte. Allein aus diesem Grund konnte ich in den letzten zehn Tagen schon mehr über mich selbst lernen als je zuvor. Gleichzeitig hatte ich viele Phasen, die Paulina nun durchmachte auch gerade erst durchgemacht und wusste daher noch sehr gut, wie es mir dabei gegangen war, so dass ich auch ihr nun weiterhelfen konnte. Natürlich war diese Kombination für keinen von uns dreien immer ein Zuckerschlecken und so kam es dann zu Situationen wie dieser, dass einer oder gleich alle drei aufgeben wollten. Doch das schien ganz offensichtlich nicht unser Weg zu sein. Zumindest im Moment nicht. Denn was die Zukunft bringt, das weiß man ja nie.

Wir beschlossen also, nicht weiter bis in die Stadt zu gehen, vor allem, da wir durch die langen Gespräche viel Zeit verloren hatten. Wir gingen von der Straße ab, durchquerten ein kleines Dorf und machten uns dahinter auf die Suche nach einem Zeltplatz. Dabei begann es wieder zu regnen. Offensichtlich hatte der Himmel die Idee mit dem Weinen nicht so schlecht gefunden und machte damit noch ein bisschen weiter.

Der Platz, für den wir uns entschieden, war ein kleines Fußballfeld hinter einem schmalen Bachlauf. Er befand sich direkt am Wald und lag vollkommen geschützt in einem schmalen Tal. Diese günstige Lage brachte Heiko auf eine Idee.

„Was hältst du davon, Paulina“, fragte er, „wenn du heute noch einmal eine Visionssuche machst, so wie damals in Spanien. Hier ist es sicher und wenn du dort an diesen Hang hoch gehst, dann kann niemand zu dir kommen, der nicht erst an uns vorbei muss. Ich denke, es wäre eine gute Gelegenheit dir noch einmal vollkommen klar darüber zu werden, was du willst und welche Ängste dich dabei blockieren.“

Paulina sprudelte nicht gerade über vor Begeisterung und beim Gedanken an eine Nacht alleine im Wald kam sofort ein ganzer Angst-Cocktail in ihr auf, doch sie teilte Heikos Meinung, dass es ihr sicher gut tun würde.

Während ich unser Zelt aufbaute, begleitete Heiko Paulina den Berghang hinauf. Oben fanden sie eine kleine Mulde, in die sie sich hineinsetzen konnte. Da wir diesmal kein Mehl und auch keinen Reis mehr hatten, streute Heiko einen Schutzkreis aus Brotkrümeln um sie herum. Dann kam er zurück.

Kaum hatte er das Lager erreicht, bekamen wir auch schon unerwarteten Besuch. Ein Polizeiauto fuhr vor und hielt direkt neben dem Sportplatz an.

„Dober Dan!“ - „Guten Tag!“ grüßten wir die beiden Beamten freundlich und luden sie ein, ob sie nicht mit uns Picknicken wollten. Sie wollten aber seltsamerweise nicht. Dafür wollten sie wie immer unsere Ausweise sehen.

„Ihr seit doch zu dritt, oder?“ fragte der größere von beiden in gebrochenem Englisch.

Zunächst wollten wir verneinen, weil es uns ein bisschen kompliziert erschien, zu erklären, warum Paulina allein im Wald in einem Brotkrümelkreis saß. Doch die Beamten wussten bereits, dass wir zwei Männer und eine Frau waren. Später erklärten sie uns, dass eine Frau aus dem Dorf sie allarmiert hatte, weil sie drei verdächtige Fremde gesehen hatte. Darunter sei auch eine Frau gewesen, die geweint habe und die anschließend von den Männern in den Wald geführt worden war. Das nenn ich mal wachsame Nachbarn.

Selbst mit perfekten Sprachkenntnissen wäre die Sache mit der Visionssuche schon etwas kompliziert gewesen und so erzählte Heiko dem Wachmann, dass Paulina sich gerade frisch machen wollte und deshalb im Wald war.

„Sie wissen ja“, meinte er flapsig, „Frauen brauchen da immer etwas länger!“

Der Polizist lachte und sein Ärger über die Frau, die ihn vollkommen unnötiger Weise hier raus aufs Land gejagt hatte, wich langsam einer guten Laune über die außergewöhnliche Begegnung, die er mit uns hatte. Anschließend zeigten wir ihm noch unseren Weltreise-Trailer und begannen nett mit ihm zu plaudern. Wenige Sekunden später stellte sich heraus, wie wichtig dieser Sympathiebonus war, denn sein Kollege kam nun mit den Ausweisen auf uns zu. Ich verstand zwar kein Wort, doch seine Gesten machten deutlich, dass er wissen wollte, wo der Einreisestempel in Paulinas Pass war. Zuversichtlich blätterte ich ihn durch, musste aber feststellen, dass sie tatsächlich keinen hatte. Bei ihrer Einreise war ihr Reisepass zwar kontrolliert worden, doch der Grenzbeamte hatte ihr keinen Stempel verpasst. Er musste es vergessen haben. Damit war sie nun eine illegale Einwanderin, was ihr eine Menge Ärger einbringen konnte. Wie dieser Ärger aussah wussten wir nicht, aber wahrscheinlich hatte man hier Glück, wenn man mit einer saftigen Geldstrafe davon kam.

Mit einer Mischung aus Englisch und Bosnisch sowie unter gezieltem Einsatz von Händen und Füßen erklärten wir den Beamten, dass Paulina mit einem Postauto gekommen uns auch kontrolliert worden war, dass wir sie in Sarajevo getroffen hatten und dass auch wir ahnungslos waren, warum sie keinen Stempel bekommen hatte.

„Gibt das ein Problem?“ fragte Heiko.

Der Mann schüttelte nur den Kopf. Es müsse alles durchgegeben und überprüft werden, aber das ginge schon in Ordnung. Wir plauderten noch eine weitere halbe Stunde und warteten, das irgendetwas passierte. Dann sagte der Polizist, er müsse Paulina noch einmal persönlich sehen. Sie war zum Glück in Hörweite und so konnten wir nach ihr rufen. Ein kurzer Blick auf das Passfoto und dann auf ihr Gesicht genügte und die beiden waren zufrieden. Sie bedankten sich noch einmal und verschwanden. Erleichtert atmeten wir auf. Das hätte auch schief gehen können! Doch ganz überstanden war es noch nicht. Schließlich musste Paulina ja auch wieder aus Bosnien ausreisen. Spätestens an der Grenze würde sich zeigen, ob es ein Problem gab oder nicht. So lange konnten wir nur abwarten und Tee trinken. Oder in Paulinas Fall zurück in den Wald zu ihrem Baum gehen.

Spruch des Tages: Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu Riskieren? (Vincent van Gogh)

 

Höhenmeter: 515 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 10.299,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, 4km vor Zlatibor, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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