Tag 584: Grenzübertritt – Teil 1

von Heiko Gärtner
12.08.2015 18:57 Uhr

Nachdem die Polizisten verschwunden waren, machte ich mich auf die Suche nach Nahrung im nahegelegenen Dorf. Außerdem war ich gespannt, ob ich dabei vielleicht der Frau begegnen würde, die uns angeschwärzt hatte. Wenn dem so war, schaffte sie es jedenfalls sich so gut zu verstellen, dass man es ihr nicht anmerkte. Ich begegnete einer Familie aus Wien, die jeden Sommer hier Urlaub machte und deren Garage voll war mit riesigen Tonnen, bis zum Rand gefüllt mit faulenden Pflaumen. Zunächst dachte ich, es sei eine besondere Methode um Obst zu quälen, das man nicht mochte, aber dann wurde mir erklärt, dass es sich dabei um den ersten Vergärungsprozess zur Herstellung von Pflaumenschnapps handelte. Später traf ich dann noch ein älteres Pärchen und eine Oma, die mich zunächst nicht verstand, dann aber kaum noch aufhören konnte, mir Lebensmittel zu schenken. Wir waren für den Abend also gut ausgestattet.

Kaum war ich wieder im Lager und hatte mit dem Kochen begonnen, bekamen wir erneut besuch. Diesmal waren es jedoch kleine Kinder auf Motorrollern für die sie eigentlich viel zu jung waren. Sie waren neugierig und wollten am liebsten gleich in unser Zelt kriechen um es sich von Innen anzuschauen. Als ich ihnen jedoch sagte, dass Heiko arbeitete und dass wir nach einem anstrengenden Tag etwas Ruhe bräuchten begannen sie sofort zu flüstern und ließen uns kurz darauf wieder alleine.

Paulina oben auf ihrem Berg hörte die Dinge jedoch etwas anders. Sie konnte nicht sehen, wer da kam und dass die Kinder gerade einmal sieben bis neun Jahre alt waren. Sie hörte nur den Motorenlärm von Rollern und wurde sofort an die Nacht hinter der Stadt zurückerinnert. Sie versuchte ruhig zu bleiben, spürte aber, wie die Angst in ihr stärker wurde. Leider konnte sie das noch nicht als etwas Positives annehmen, denn genau diese Angst war ja eigentlich der Grund, warum sie überhaupt auf dem Berg saß. Sie wusste ja, das keine Gefahr bestand und dass es nur darum ging sich ihren eigenen inneren Ängsten zu stellen. Doch dazu war sie nicht bereit.

Kurz bevor es dunkel wurde hörten wir ein Knacken und Knistern. Dann kam Paulina aus dem Gebüsch. Sie hätte es zwar noch ein bisschen ausgehalten, hatte aber Angst davor, was passieren würde, wenn es ganz dunkel wurde. Denn dann hatte sie keine Möglichkeit mehr umzukehren und ins Zelt zu wandern. Wenn sie aufgeben wollte, dann musste sie es jetzt tun, solange es noch sicher war. Später gab es nur noch die Möglichkeit es durchzuziehen. Dieses Muster, also das verfrühte Aufgeben aus Angst, dass es vielleicht später kein Zurück mehr gab, sollte uns in den kommenden Tagen noch häufiger begegnen. Vielleicht war dies die wichtigste Erkenntnis, die Paulina aus ihrer Visionssuche heute ziehen konnte.

Noch hatte sie nicht vor, ganz aufzugeben. Sie wollte lediglich unten in der Nähe unseres Zeltes sitzen, weil sie sich hier sicherer fühlte, für den Fall, dass doch wieder böse Jugendliche kamen. Dass es in ganz Bosnien wahrscheinlich keinen sicheren Platz vor Betrunkenen gab, als ihre Mulde im Wald und dass sie diesen Ort nun gegen den Präsentierteller vor unserem Zelt eingetauscht hatte, wurde ihr erst am Morgen bewusst. Auch dies war eine wichtige Lektion. Die Handlungen, die sie aus Angst heraus tätigte führten in den meisten Fällen nicht zu einer Erhöhung der Sicherheit, sondern des Risikos. Wenn wirklich eine Schlägerbande in der Nacht gekommen wäre, dann war nun Paulina unser Schutz und nicht mehr wir Paulinas. Das fühlte sich für uns zwar ganz gut an, aber es war ja nicht der Sinn der Sache.

Später in der Nacht kam noch mehr Angst zu den bereits vorhandenen Ängsten hinzu und Paulina begann ihr Zelt aufzubauen, um sich hineinzulegen. Es war kalt, nass und ungemütlich und sie wollte sich nicht länger mit sich selbst beschäftigen. Also legte sie sich auf ihrer Isomatte unter der halb aufgebaute Zeltplane in den Schlafsack und schlief ein.

Als Heiko am frühen Morgen noch schlaftrunken aus dem Zelt kroch um seine Morgentoilette zu verrichten wäre er um ein Haar über die schlafende Paulina gestolpert. Vollkommen überrascht schaute er auf den schlaffen, grünen Zeltplanenhaufen, der da auf der Wiese lag und vergaß dabei sogar, dass er eigentlich pinkeln musste.

„Was ist denn hier los?“ fasste er seine Überraschung in Worte.

Paulina kroch unter der Plane hervor und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Es dauerte nicht lange und wir hatten das nächste Krisengespräch.

„Ich wollte ja durchhalten, aber ich konnte einfach nicht! Die Angst war zu groß!“ sagte Paulina kleinlaut und schämte sich bereits jetzt schon dafür.

„Ich dachte, dass es genau darum ging!“ sagte Heiko und konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. „Ich dachte, du wolltest deine Angst wahrnehmen und in sie hinein spüren, anstatt dich schon wieder abzulenken und dich davor zu verkriechen. Genau darum geht es doch gerade. Es sind ja die gleichen Ängste, die in der Nacht kamen, die dich auch davon abhalten, ganz hier zu sein. Wie willst du es schaffen, dich ihnen im Leben zu stellen, wenn du es nicht einmal bei einer Übung schaffst? Es tut mir leid, ich möchte wirklich gerne sehen, dass Fortschritte da sind und dass es mit uns klappen kann, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich kann’s mir nicht vorstellen. Du hast einfach keine Absicht, keine Ernsthaftigkeit bei der Sache. Für dich ist das ein Spiel und ja, es geht darum, dass wir ein Leben in spielerischer Leichtigkeit leben wollen. Aber das geht eben nur, wenn man bereit ist, die Dinge loszulassen, die einem die Leichtigkeit nehmen. Und ich weiß einfach nicht, wie du das schaffen willst!“

Zunächst waren dies natürlich keine Worte, die Paulina gerne hörte, doch bald wurde klar, dass es im Grunde ihre eigenen Gedanken waren. Das Problem war nicht, dass wir ihr die Wandlung nicht zutrauten, sondern dass sie es selbst nicht tat. Und je mehr sie an sich selbst zweifelte, desto schwieriger wurde es auch für uns, unsere Zuversicht beizubehalten. Erst als uns das bewusst wurde, wurde und auch klar, wie viel Lehre dennoch in der Visionssuche gesteckt hatte. Denn allein durch ihre Gedanken- und Handlungsabläufe in dieser einen Nacht konnte sie bereits fast all ihre Blockaden und geistigen Gefängnisse erkennen. Angefangen bei der Strategie lieber zu früh aufzugeben, als ein scheitern zu riskieren, über die Angst davor, die eigenen Ängste anzuschauen, bis hin zu der Taktik vor einer Herausforderung davonzulaufen oder sich wie in diesem Fall tot zustellen und einfach einzuschlafen.

Nach dem kurzen Resümee brachen wir auf und wanderten zurück zur Hauptstraße. Kurz bevor wir sie erreichten kam eine kleine, strupselige und völlig verwahrloste Babykatze aus dem Gebüsch auf uns zugestolpert und schaute uns mit riesigen Augen an. Sie war vollkommen fertig und wirkte, als würde sie hier draußen nicht mehr lange überleben. Gleichzeitig war sie aber auch so niedlich, dass wir sie einfach hochheben und knuddeln mussten. Paulina hätte sie am liebsten mitgenommen, nicht nur, weil ihr die Katze unendlich Leid tat, sondern auch, weil sie sich ein bisschen darin wieder erkannte. Auf eine gewisse Art und Weise, war der kleine, zottelige Vierbeiner in genau der gleichen Situation, wie sie selbst. Natürlich kannten wir die Vorgeschichte der Katze nicht und wir wussten auch nicht, warum sie ohne Mutter allein in diesem Gebüsch lebte, eine ganze Ungezieferzucht in ihrem Fell eröffnet hatte und kurz vor dem Verhungern war. Doch auf irgendeine Art und Weise hatte sie genau diese Situation in ihr Leben gezogen und stand nun vor dem Problem, dass sie lernen musste, damit umzugehen. Ohne Mutter hatte sie nicht gelernt, für sich alleine zu sorgen. Sie wusste nicht wie man jagt, wie man an ausreichend Nahrung kam, wie man sein Fell pflegte und wie man sein Leben selbst in den Griff bekam. Dafür aber sorgte sie mit ihrer Aura der Hilflosigkeit dazu, dass jeder der sie sah, sofort das Gefühl hatte, sich um sie kümmern zu müssen.

Paulina steckte in einer ganz ähnlichen Situation. Auch sie hatte nicht gelernt, wie sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und selbst für sich sorgen konnte. Ohne fremde Hilfe war sie aufgeschmissen und würde nicht lange überleben. Diesen Umstand strahlte sie nach außen und zog damit fast ununterbrochen Kümmerer an, die sich um sie sorgten. Wohin wir auch kamen, überall traf sie auf Mütter, die sie sofort umsorgten, die ihr jede Arbeit abnehmen und die sie mit Unmengen an Nahrung aufpäppeln wollten. Wie bei der kleinen Katze war auch ihre beste Überlebensstrategie ihre offensichtliche Hilflosigkeit, durch die sie dafür sorgte, dass sie am Leben gehalten wurde. Gleichzeitig verhinderte dieses Umsorgtwerden jedoch auch, dass sie selbst etwas lernen konnte. Denn zum einen wurde sie von jeder Lernchance ferngehalten und zum anderen war ihr ja auch bewusst, dass sie überhaupt nicht lernen musste, weil ja immer, wenn es schwierig wurde, jemand kam, der sie aus dem Schlamassel befreite. Alle von euch, die unser Reisetagebuch von Anfang an gelesen haben, verstehen nun sicher langsam, was ich mit den Parallelen zwischen Paulina und mir meine.

Wir waren nun also wieder an dem Punkt, an dem wir auch heute Morgen nach der Visionssuche schon einmal waren: Der fehlenden Absicht. Wenn ich weiß, dass mir immer geholfen wird, wenn etwas zu schwierig für mich ist, warum sollte ich dann etwas lernen wollen? Warum sollte ich Energie aufwenden, wenn ich doch auch einfach schauen kann wie eine kleine, getretene Katze und alles regelt sich von selbst? Natürlich kann ich auf diese Weise niemals wachsen, niemals produktiv, erfolgreich oder selbstständig werden, kann nie mein eigenes Leben leben sondern bin immer von anderen abhängig. Dafür aber habe ich es in meinem Opferdasein warm und bequem. Das ist doch nicht schlecht, oder?

Das Problem ist natürlich, dass ein Opferdasein nicht nur Kümmerer und Ersatzmütter sondern auch Täter anzieht. Ich lebe also nicht nur bequem sondern auch in stetiger Angst, ich bin nie frei, nie leicht, nie fröhlich und nie ich selbst. Außerdem kann ich natürlich meine Lebensaufgabe nicht erfüllen, kann nicht meinem Herzen folgen nicht meine Träume verwirklichen, nicht zu mir stehen und mache mich so ganz automatisch selbst krank. Mehr noch, ich benötige die Krankheiten ja, denn wenn ich vollkommen gesund und munter bin, wenn ich vor Kraft und Energie nur so strotze, dann nimmt mir niemand mehr meine Opferrolle ab und meine Überlebensstrategie muss scheitern.

All diese Argumente führen dazu, dass einem das eigene Opferdasein irgendwann gehörig auf den Leim geht und man es unbedingt ablegen will. Nur kommen diese Argumente zunächst meist nicht weiter als bis in den Verstand, wo sie dann mit den Gewohnheiten abgewogen und auf den Stapel mit „Gute Idee, schau ich mir mal an, wenn ich Zeit habe!“ gelegt werden. Die Bequemlichkeit und die Gewohnheit siegen und führen dazu, dass man auch wenn man es besser weis immer wieder in die alten Muster zurück fällt. Der Wille ist zwar da, aber es fehlt die Bereitschaft.

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Jede Grenze ist wie ein Tor in eine neue Welt.

 

Höhenmeter: 230 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 10.309,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, Rudine, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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