Tag 585: Grenzübertritt – Teil 2

von Heiko Gärtner
12.08.2015 19:07 Uhr

Fortsetzung von Tag 584:

Wie aber kann man die Bereitschaft herstellen? Sie kommt dann, wenn unser ganzer Organismus beschließt, dass es schwieriger, absträngender und leidbringender ist, den alten gewohnten Weg beizubehalten, als ihn zu verlassen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wir finden eine neue Überlebensstrategie, die noch bequemer und leichter ist als die alte, oder aber der Leidensdruck in uns wird so groß, dass es uns unmöglich wird, den alten Weg weiter zu beschreiten. Die erste Variante gibt es leider nur selten und wenn, dann führt sie meist dazu, dass wir noch tiefer in ein problematisches Muster rutschen. Wir könnten beispielsweise auch noch zum Saufen anfangen, wenn wir uns eh schon scheiße fühlen. Das ist eine neue Strategie, die noch leichter ist als Selbstmitleid im nüchternen Zustand, aber sie wird uns wahrscheinlich nicht wirklich weiter bringen. Die zweite Variante ist weitaus häufiger und sie ist die Ursache einen Großteil des Leides, das uns in unserem Leben widerfährt.

Nehmen wir als Beispiel einmal den überzeugten Couchpotatoe Fritz, der nichts lieber macht, als den ganzen Tag lang vor dem Fernseher zu sitzen und Chips in sich hineinzufuttern. Diese Beschäftigung ist ein wirklich bequemer Lebensweg, der nahezu keine Risiken birgt, so dass Fritz eigentlich keine Motivation hat, je wieder aufzustehen. Dann kommt es jedoch urplötzlich zu einem tragischen Ereignis, das er nicht einkalkuliert hat. Seine Chipspackung ist leer, so dass er nicht weiter futtern kann. Eine Zeit lang ist es trotzdem noch bequemer, einfach sitzen zu bleiben und weiter auf den Fernseher zu starren, doch schließlich wird der Leidensdruck in Form von Chips-Hunger so groß, dass er seinen alten, gewohnten Pfad verlässt und seinen Hintern in Bewegung setzt um aus dem Supermarkt neue Chips zu holen. Dieser Weg in den Supermarkt, der ihn hinaus in die Welt führt, wo er neue Erfahrungen machen kann, ist eine Chance für ihn, sein Leben grundsätzlich noch einmal zu ändern. Es ist eine Art Wink mit dem Zaunpfahl. Bei anderen Menschen wäre dieser Wink vielleicht ein Schnupfen, ein Beinbruch, eine Kündigung oder ein anderes Ereignis, das störend aber noch nicht katastrophal ist. Theoretisch könnte man solch ein Ereignis zum lernen nutzen und sich dadurch aus seinen alten Mustern befreien. Doch als moderne Gesellschaft haben wir natürlich vorgesorgt und eine ganze Reihe an Möglichkeiten entwickelt, wie wir den Leidensdruck wieder senken können, ohne dass wir etwas verändern müssen. Fritz zum Beispiel hat herausgefunden, dass der Pizza-Dealer seines Vertrauens auch Chips-Packungen liefert. Mit seiner neuen Schließanlage für die Eingangstür kann er nun sogar per Fernbedienung vom Sofa aus die Tür öffnen und den Boten bitten, die Packung direkt neben ihn zu stellen. Wenn es um Krankheiten geht sind diese Strategien mit Schmerzmitteln oder symptomlindernden Medikamenten vergleichbar. Um Fritz nun dazu zu bewegen trotzdem noch von seinem Sofa aufzustehen, bedarf es also eines größeren Problems, das einen höheren Leidensdruck aussendet. Beispielsweise könnte der Fernseher kaputt gehen oder die alte Dame in der Wohnung über Fritz lässt ihre Wanne überlaufen so dass Fritz von oben das Wasser auf den Kopf tropft. Es könnten natürlich auch Dinge passieren, die Fritz direkt betreffen, die ihn also Krank machen. Wenn er einen Hüftschaden bekommt, wird das kaum etwas ändern, da es ihn nur von Dingen abhält, die er eh nicht tut. Wird er jedoch Blind oder bekommt er eine Chips-Allergie, so wird dieser Leidensdruck wieder zu einer Lebensveränderung führen. Das Problem bei all den kleinen Zeichen ist jedoch, dass sich Fritz immer wieder um sie herum mogeln und sie ignorieren kann. Er wird also so lange auf seiner Couch sitzen bleiben oder sich Wege suchen, um wieder dorthin zurück zu kommen, bis der Leidensdruck so hoch ist, dass ihm ein Leben als Couchpotatoe einfach nicht mehr möglich ist. In letzter Konsequenz, wenn er also durch gar nichts lernen wollte, bedeutet dies, dass nur noch der Tod ihn zu einer Änderung überzeugen kann. Doch was hat das ganze jetzt mit Paulina zu tun?

Anders als Fritz, der davon überzeugt ist, dass sein Leben auf dem Sofa das beste ist, das man überhaupt führen kann, hat Paulina bereits verstanden, dass ihre unbewusste Opferhaltung ihr vor allem viel Freude, Freiheit und Leichtigkeit nimmt und ihr ist bewusst, dass sie diese alte Strategie ablegen muss, wenn sie wachsen und erfolgreich werden will. Sie hat also bereits den Willen sich zu wandeln. Genau wie bei Fritz ist ihr Organismus jedoch noch immer darauf trainiert, stets den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, wodurch sie immer wieder in die alten Muster zurück fällt. Durch ihren Entschluss hat sie aber bereits Ja zu den Wandlungsboten gesagt, wodurch sie nun auch verstärkt Dinge in ihr Leben zieht, die ihren Leidensdruck und damit ihre Wandlungsbereitschaft erhöhen. Alles um sie herum zeigt ihr, dass es an der Zeit ist, den alten Pfad des Opferlamms zu verlassen und die Verantwortung für ihr Leben selbst zu übernehmen. Doch wie Fritz findet sie stets eine neue Strategie, diese Aufforderungen zu umgehen und zur Couch der Bequemlichkeit zurückzukehren. Und genau dies brachte Heiko und mich nun in eine prekäre Lage, da wir Paulina ja auf ihrem Wandlungsweg unterstützen wollten. Nur wussten wir nicht, wie wir das am besten tun konnten.

Vielleicht erkläre ich es zunächst einmal am Beispiel der Katze. Das kleine Zottelwesen war hier ausgesetzt worden und wenn wir es zurück ließen, dann bestand eine relativ große Wahrscheinlichkeit, dass es ums Leben kam. Auf der anderen Seite bestand aber gerade in dieser Gefahr auch eine unglaubliche Chance, denn die Katze bekam dadurch einen unglaublich hohen Leidensdruck und somit auch eine starke Absicht sich zu entwickeln. Wenn sie also überlebte, dann wurde sie wahrscheinlich die zäheste und widerstandsfähigste Katze in ganz Bosnien und nichts im Leben konnte ihr mehr etwas anhaben. Wann immer sie in ihrem späteren Leben in eine Gefahrensituation kam, würde sie sagen: „Oh, das war heikel, aber es war ein Dreck gegen das, was ich als kleine Mieze überstanden habe!“

Nahmen wir sie jedoch mit und sorgten für sie, dann konnten wir ihr vielleicht das Leben retten, doch sie würde wohlmöglich nie lernen, sich selbst zurecht zu finden. Sie würde immer Abhängig von uns sein und nie erfahren was es bedeutete, eine wilde, freie und unbändige Katze zu sein.

Nicht anders war es mit Paulina. Sie war zu uns gekommen um zu lernen, ihren eigenen Lebensweg zu gehen und ganz sie selbst zu werden. Sie wollte von der Couchpotatoe wieder zu einer Einheimischen in der Natur werden. Die Frage war nur, ob wir ihr dabei gerade wirklich halfen, oder ob wir ihr im Weg standen. Die vergangenen Tage hatten gezeigt, dass sie keinerlei Absicht in sich trug. Auch wenn wir wie gestern Morgen drohten, sie einfach auszusetzen, wussten wir alle drei, dass wir sie immer wieder aus der Scheiße ziehen würden, wenn es nicht anders ging. Es war klar, dass wir sie nicht zurückließen und somit gab es auch keinen Grund für sie, sich zu entwickeln. Die Frage war also, taten wir ihr wirklich etwas gutes, in dem wir sie beschützten. Denn der Leidensdruck würde stetig weiter anwachsen und wenn es schlecht lief konnte ihr Leben damit zu einem einzigen, langen und mühsamen Leidensweg werden, an dessen Ende sie keinen Schritt weiter war als jetzt. Es könnte so werden wie bei Fritz, der sein ganzes Leben lang auf seinem Sofa hockt, sich am Ende kaum mehr bewegen kann, kein Sonnenlicht mehr kennt und schließlich an Herzverfettung stirbt. Dieses Leben ist nur dann möglich, wenn sich irgendjemand, wahrscheinlich Fritz’ Mutter, permanent um ihn kümmert und dafür sorgt, dass er immer in seiner Wohnung sitzen bleiben kann. Sie beschützt ihn, aber sie hilft ihm nicht. Helfen würde sie ihm, wenn sie ihn vor die Tür setzt und dadurch zwingt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es kann sein, dass er dabei stirbt, doch wenn nicht, dann besteht zumindest die Chance, dass er ein freies und erfülltes Leben führt.

Wenn sich also wirklich herausstellen sollte, dass Paulina keinen Weg fand in unserer Gruppe zu lernen, weil wir sie automatisch, auch wenn wir es nicht wollten immer vor den eigentlichen Lernaufgaben beschützten, war es dann vielleicht doch besser, wenn wir uns trennten? Musste Paulina vielleicht erst einmal eine Weile alleine um die Welt ziehen, bis sie bereit war, in einer Gruppe zu lernen? Auch für mich selbst habe ich mir diese Frage mein ganzes Leben lang und auch auf dieser Reise immer wieder gestellt. Bis heute habe ich keine Ahnung, ob es besser gewesen wäre, wenn ich für eine längere Zeit einmal alleine unterwegs gewesen wäre um wirklich zu 100% auf mich gestellt zu sein. Ich weiß nicht, ob ich dann nicht vieles schneller bestanden hätte und vielleicht würde ich dann nun bereits Dinge verstehen, die mir so noch immer ein Rätsel sind. Aber ich weiß sicher, dass ich mir viele Fragen alleine nicht gestellt hätte und dass ich mir wie Fritz viele Ausweichstrategien gesucht hätte, um es auch alleine wieder bequem zu haben. Vielleicht wäre ich nun viel weiter, vielleicht wäre ich aber auch irgendwo hängen geblieben und wäre von meinem Lebensweg weiter weg als je zuvor. Es ist schwer, darüber zu spekulieren. Und vielleicht ist auch dies einer der Gründe, warum ich auch in Bezug auf Paulina nicht sagen konnte, was hilfreicher für sie war.

Auch was die Katze anbelangte wussten wir es nicht. Wir brachten es jedoch nicht übers Herz, sie zurück zulassen und ihrem Schicksal auszuliefern. Mitnehmen konnten wir sie natürlich auch nicht, vor allem deshalb, weil wir uns wenige Kilometer vor der Grenze befanden und ja eh schon eine illegale Einwanderin dabei hatten. Also gingen wir noch einmal zurück zu der Familie aus Wien, die ich am Vorabend kennengelernt hatte. Es waren nette Leute und die drei Kinder hatten sicher nichts dagegen, sich in ihrer Ferienzeit um ein kleines niedliches Findelkind zu kümmern. Außerdem lebten die Cousins und Cousinen gleich neben an und konnten auch dann noch für die Katze sorgen, wenn die Urlauber in ein paar Wochen wieder nach Österreich fuhren.

Wie erwartet wurde unser Findelkind herzlich aufgenommen. Die Katze der Familie hatte gerade erst junge bekommen und so lebten eh schon 12 Babykatzen auf dem Hof. Da kam es auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr an. Die Cousine stellte ein Schälchen mit Milch auf den Boden und unser kleines Sorgenkind begann sofort zu schlecken. Hier konnten wir sie mit einem guten Gefühl zurücklassen.

Doch die Frage blieb. Ging es wirklich darum, dass wir ein gutes Gefühl hatten? Niemand würde jemals sagen können, ob wir der Katze damit einen Gefallen getan hatten oder nicht. Schließlich hatten wir die gleiche Situation in Spanien auch schon einmal. Damals war die Katze, die wir gerettet hatten wenige Tage später im Heim gestorben. Wäre sie vielleicht noch am Leben, wenn wir sie einfach in der Stadt ausgesetzt hätten, wo sie zwar viele Möglichkeiten hatte, aber trotzdem auf sich allein gestellt war?

Knapp zwei Stunden später erreichten wir Bratunac, die letzte bosnische Stadt vor der Grenze. Zwei Mal wechselten wir die Straße um Polizisten auszuweichen, damit wir nicht noch unnötig kontrolliert wurden. Kurz vor dem Ortsausgang kamen wir an ein Kirchenzetrum, das aussah als wäre es ein geeigneter Schlafplatz. Doch der Pfarrer sah das etwas anders. Immerhin speiste er uns mit zwanzig Euro ab, was zwar nicht ganz das war, was wir uns erhofft hatten, was uns aber mindestens genauso freute.

Dann kam die Stunde der Wahrheit. Die Straße führte aus der Stadt hinaus zu einer rostigen alten Brücke. Hier befand sich der Grenzposten.

„Machs gut Paulina!“ sagte Heiko scherzhaft. „Es war schön mit dir! Ich hoffe du schreibst uns einmal eine Karte aus dem Gefängnis! Oh, warte! Wir müssen noch ein Foto von dir machen! Wer weiß, ob wir später noch einmal die Gelegenheit dazu bekommen.“

Ich weiß nicht genau warum aber aus irgendeinem Grund fand Paulina das nicht so witzig.

„Oh, wo kommt ihr denn her?“ fragte uns der junge Grenzbeamte auf Deutsch als wir in die Nähe des Häuschens kamen. Er war sichtlich erfreut und guter Laune. Wir begannen gleich mit ihm zu plaudern und er übersetzte unsere Geschichte für seine Kollegen. Dann kamen wir an den Schalter mit dem Mann der unsere Pässe kontrollierte. Er schaute sie sich zunächst nur flüchtig an, weil er nebenbei telefonierte. Dann aber stolperte er über eine Ungereimtheit, die er nicht verstand. Er deutete auf meinen Pass und sagte etwas, das soviel hieß wie: „Hey, hier ist zwar ein Einreisestempel, aber hier steht, dass ihr auch schon wieder ausgereist seit!“

Ich nahm den Pass, grinste und blätterte bis auf die letzte Seite, wo sich der zweite Einreisestempel neben dem von Andorra befand.

Jetzt grinste auch der Beamte, schüttelte den Kopf und sagte so etwas wie „Jaja, diese Beamten!“ und schlug in alle drei Pässe einen Ausreisestempel hinein, ohne noch einmal nachzuschauen. Damit hatte sich das Problem für Paulina erledigt. Sie war nun offiziell ausgereist und konnte nun frei nach Serbien wieder einreisen. Ein dicker Stein fiel uns allen dreien vom Herzen und platschte mitten in den Grenzfluss.

„Das war fast ein bisschen langweilig!“ scherzte ich, als wir den Fluss überquerten.

Mit der Überquerung dieses Flusses verließen Heiko und ich nun zum zweiten und vorerst letzten Mal das Land, das nun für mehr als zwei Monate unsere Heimat war. Für so ein kleines Land ist das eine erstaunlich lange Zeit. Von allen Ländern, die wir bisher bereist haben, war Bosnien ohne jede Frage das anstrengendste und härteste, gleichzeitig aber auch eines der schönsten und spannendsten gewesen. Wir hatten hier viel lernen dürfen und zum ersten Mal konnten wir uns ungefähr vorstellen, was uns wohl erwartete, wenn wir Europa wirklich verlassen und uns hinaus in Regionen mit echter Wildnis wagen würden. Es kam uns ein bisschen so vor, als wäre Bosnien eine Art Trainingslager für zukünftige Abschnitte gewesen. Gleichzeitig wurde uns hier erst richtig bewusst, wie viel Komfort uns auch Italien geboten hatte. Dort hatte es zwar zumindest am Ende wenig bis keine Abwechslung gegeben, doch die Gewissheit, dass es in jeder kleinen Ortschaft einen Pfarrer gab, bei dem man schlafen konnte und der einen auch noch mit reichlich Essen versorgte, war schon echter Luxus gewesen. Immer wieder auch so ein Land zu haben, in dem es eine Infrastruktur gab, wäre schon eine feine Sache. Vielleicht erwartete uns das ja in Serbien.

Spruch des Tages: Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Wille und Bereitschaft.

 

Höhenmeter: 150 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 10.317,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, nahe Alin Potok, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare