Tag 597: Das Feuer im Herzen – Teil 3

von Heiko Gärtner
11.09.2015 16:20 Uhr

Fortsetzung von Tag 596: 

Bei Menschen, die sich in einem solchen Konflikt befinden ist es nicht anders. Der einzige Unterschied liegt darin, dass die Flucht der Maus nur wenige Sekunden dauert, bis sie entweder entkommen ist oder gefressen wurde, während sich der Todesangstkonflickt bei uns Menschen über Tage, Wochen oder gar Jahre hinziehen kann. Bei Paulina bestand er unterschwellig bereits seit vielen Jahren, doch durch die Reise wurde er akut. Es war, als hätte die Katze die ganze Zeit vor ihrem Loch gelauert und nun war sie endlich einmal herausgekrochen um sich ihr zu stellen. Doch damit wurde die Angst so stark, dass sie Paulina vollkommen lähmte. Und obwohl wir wussten, dass dieser Prozess wichtig war, um festzustellen, dass die Katze überhaupt nicht real war, sondern nur in ihrem Kopf existierte, glaubten wir trotzdem, sie davor retten zu müssen. Es war Paulinas Aufgabe, sich der Angst zu stellen, nicht unsere, doch weil wir sie mochten und weil wir die Situation von uns selbst nur allzu gut kannten und daher Mitleid mit ihr hatten, machten wir ihre Aufgabe auch zu unserer Aufgabe. Wir sahen es als persönliche Mission an, das Feuer in Paulinas Herz zu entzünden und ihr auf dem Weg in die Freiheit zu helfen. Doch das ist unmöglich. Gras wächst nicht schneller, nur weil man daran zieht. Jeder Mensch, muss seine schritte selbst machen, auch wenn das bedeutet, dass man ihn dadurch vielleicht verliert, oder dass er sich in Gefahr begibt.

Wir erkannten nicht, dass Paulina wie eine Ertrinkende war, die wild um sich strampelte und die vor Panik jeden mit sich hinabreißen würde, der ihr zu nahe kam. Wir wollten sie vor dem Ertrinken retten und waren gleichzeitig verärgert darüber, dass sie uns für diese Versuche trat und schubste und dass sie keine Dankbarkeit dafür zeigte. Wie aber hätte sie in ihrer Panik anders agieren sollen? In meiner Ausbildung zum Rettungsschwimmer lernte ich damals, dass man niemals an einen Ertrinkenden heranschwimmt, wenn einem das eigene Leben lieb ist. Denn der Ertrinkende greift nach allem, was ihm in den Weg kommt und drückt es mit aller Kraft unter Wasser. Durch seine Panik entwickelt er dabei ein vielfaches seiner Kräfte und so kann man als Retter sogar von einem kleinen Kind umgebracht werden. Dies ist auch der Grund, warum die Baywatch-Bojen erfunden wurden. Wenn man keine Boje hat, die man dem Ertrinkenden hinwerfen kann, damit er sich an ihr festkrallt, kann man nur eine Sache machen. Man muss in sicherem Abstand warten, bis der Ertrinkende so erschöpft ist, dass er ohnmächtig wird. Erst dann kann man zu ihm schwimmen und ihn retten.

Bei Paulina lief die Sache natürlich etwas anders, da sie ja nicht wirklich am ertrinken war. Aber die Panik in ihr war so groß, dass sie aus versehen jede Form der Beziehung zerstörte, wenn sie ihr zu nahe ging. Oft sprachen wir darüber, was die Probleme waren, versuchten ihr Hinweise zu geben, wie sie sie lösen konnte und bemühten uns, ihr zu erklären warum sie so handelte, wie sie handelte. Doch es war unmöglich für sie es nachzuvollziehen, weil die Angst einfach zu groß war. Sie strampelte gegen jedes Lösungsangebot an und zog es in die Tiefe. Viel zu spät erkannten wir, dass wir sie gehen lassen mussten. Es half ihr nichts, wenn wir ihr erklärten, wie die Dinge unserer Meinung nach zusammenhingen. Sie musste es selbst erfahren. Sie musste erst vor Erschöpfung unter Wasser sinken, damit ihr klar wurde, dass sie auf diese Weise nicht das Ufer erreichen konnte. Die Gefahr, dass sie dabei wirklich ertrank bestand natürlich und sie besteht noch immer. Wir können sie nun nicht mehr beschützen, können nichts an ihrer Situation ändern, in die sie sich gebracht hat und in die sie sich noch bringen wird. Sie muss den Weg alleine meistern. Aber nur dann kann sie ihn wirklich gehen.

Seit ihrem ersten Tag in unserer Herde wurde deutlich, dass die Unsicherheit, die sie aufgrund der widersprüchlichen Ansichten von ihrem Herz und ihrem Verstand in sich trug, nicht nur auf sie selbst wirkte. Das ständige Aufflackern und Auslöschen des Feuers in ihr, hatte sie so sehr verunsichert, dass sie selbst nicht mehr wusste, was sie wollte und was nicht. Sie spürte es zwar, aber sie vertraute sich nicht mehr. Jeder, der einen Zweifel verlauten ließ, weckte die Zweifel in ihr und brachte ihre Entschlüsse wieder ins Wanken. Diese Unsicherheit, die sie aussendete, sorgte dafür, dass sie besonders viele Situationen anzog, die ihr die Unsicherheit spiegelten. Wenn jemand vollkommen klar in ein Autohaus geht, weiß was er will, wie viel er bereit ist zu zahlen und sich nichts vormachen lässt, dann wird der Verkäufer kaum versuchen, ihm irgendetwas aufzuschwatzen oder ihn übers Ohr zu hauen. Merkt der Verkäufer jedoch, dass sein Kunde keine Ahnung hat und auch nicht weiß, was er will, dann wäre er kein guter Geschäftsmann, wenn er nicht das Beste aus dem Kunden herausholen würde. Ähnlich war es auch mit Paulina auf der Reise. Wenn wir nach etwas zum Essen fragten, dann wurden wir oft eingeladen uns zu setzen und den ganzen Nachmittag zu verquatschen. Wir bekamen Zuckersäfte vorgesetzt und Raki angeboten und man konnte sich diesen Angeboten nur erwehren, wenn man vollkommen klar war. Nur dann war es möglich sie abzulehnen, so dass es die Gastgeber auch hinnehmen konnten. Wenn sie spürten, dass man selbst nicht sicher war, dann entschieden sie für einen und das hatte meist nichts mit dem zu tun, was man selbst gerne wollte. Diese Gespräche mit unseren Gastgebern waren relativ deutliche und einfache Spiegel, denn die Menschen meinten es ja stets gut mit uns und wenn man es nicht schaffte, ihre Angebote abzulehnen, dann verlor man etwas Zeit in der man meist mit peinlichem Schweigen inmitten einer Gruppe von Menschen im Wohnzimmer oder auf der Terrasse saß. Doch leider waren dies nicht die einzigen Spiegel für Unsicherheit. Zusammen mit dem Glauben, dass andere Schuld am eigenen Glück und am eigenen Leid sind, entstand die Opferhaltung, die wir bereits ein paar mal beschrieben haben. Paulina trat nicht als selbstbewusste Frau sondern als schüchternes Mädchen auf und war dadurch wie ein Magnet für Männer, die ihr nachstellen wollten. Zunächst waren es nur übermütige Jungen, dann Halbstarke, die unser Camp mit ihren Autos umkreisten. Weil Heiko kein Problem damit hat, laut und bedrohlich zu werden, waren beide Situationen relativ leicht zu entschärfen. Dennoch stellten sie eine Gefahr für die ganze Gruppe dar. Eine Gefahr, die immer größer wurde, je länger Paulina ihre Opferhaltung aufrecht erhielt. Schließlich war es ein volltrunkener, erwachsener Mann, der nachts in ihr Zimmer kam und plötzlich neben ihrem Bett stand. Eine Nacht später kam ein weiterer Mann, der nachts Paulinas Zelt aufsuchte und den Heiko gerade noch vertreiben konnte, bevor er sich daran zu schaffen machte. Zwei mutmaßlich potentielle Vergewaltiger in so kurzer Zeit zeigten deutlich, dass Paulina das Risikomanagement unserer Reise vollkommen durcheinander geworfen hatte. So lange sie bei uns war, waren wir stets dabei, sie vor diesen Gefahren zu schützen. Wenn es hart auf hart gekommen wäre, dann hätten wir uns auch dazwischen geworfen und möglicherweise selbst schwere Verletzungen davon getragen, um sie zu schützen. Hinzu kamen weitere Gefahrenquellen. Durch die häufigen Diskussionen und die immer wiederkehrende Frage, ob Paulina bei uns bleiben wollte oder nicht, verloren wir teilweise mehrere Stunden in denen wir eigentlich hätten wandern wollen. So kamen wir oft zeitlich in Verzug, mussten im Halbdunkeln noch nach einem Platz suchen und gleichzeitig etwas zum essen auftreiben. Je stärker die Unsicherheit in ihr wurde, desto größer wurden auch die Risiken, die durch diese Situationen entstanden. Sie selbst hatte hingegen noch kein Gefühl dafür, was eine irrationale Angst und was eine wirkliche Gefahr war. So blieb sie oft stehen und machte Pausen am Straßenrand in der Angst, sich selbst zu überfordern, ohne dabei auf das Gewitter zu achten, dass über ihr zusammenbraute. Was aber wäre gewesen, wenn sie ihr Zelt wirklich im Dunkeln und bei strömendem Regen hätte aufbauen müssen? Sie wäre schier daran verzweifelt.

So spürten wir unterschwellig, dass wir uns selbst in immer größere Gefahr brachten, dadurch dass wir glaubten, für Paulina verantwortlich zu sein. Am Anfang unserer Reise hatten wir es uns zu einem unserer Grundsätze gemacht, dass wir stets auf uns achteten und nichts machten, was unsere Reise oder unser Leben in Gefahr brachte, wenn es nicht unbedingt nötig war. Nun aber warfen wir diese Grundsätze einfach beiseite, weil wir die Idee einfach nicht loslassen wollten, dass wir nun ein Leben als Herde führten. Wir wollten so sehr, dass Paulina es schaffte, dass wir gegen unser eigenes Herz und gegen unsere eigene Vernunft handelten. Doch damit halfen wir weder uns noch Paulina. Immer wieder versuchten wir ihr zu erklären, wie wichtig es war, loszulassen, damit man vorankam. Doch wir selbst konnten es ebenfalls nicht. Und so hielten wir uns alle drei gegenseitig in einem Leidenskreis gefangen, der sich immer schneller zu drehen begann und in dem wir immer weiter versanken. Paulina war der perfekte Lernpartner, den wir brauchten, um unsere eigenen Themen zu erkennen und zu verstehen. Der Unfrieden in ihr, zeigte uns den Unfrieden in uns selbst, allein dadurch, dass wir jedes Mal auf sie einstiegen. Ihre Unsicherheit führte uns vor Augen, wie viel Unsicherheit noch immer in uns selbst steckte. Und ihre Opferhaltung führte uns unseren eigenen Retterkomplex vor Augen. Wir machten ihre Themen zu unseren und wollten gegen ihre Ängste gewinnen. Auch wir waren am Ende wie ertrinkende, die verzweifelt nach jedem Strohhalm griffen, obwohl sie wussten, dass es nichts bringen würde.

Hätte es eine Möglichkeit gegeben, wie wir als Gruppe hätten zusammenbleiben können? Sicher! Doch es gab keine, die wir in diesem Moment hätten wählen können, weil wir nicht bereit und nicht in der Lage dazu gewesen wären. Gesünder und entspannter wäre es für uns alle drei gewesen, wenn wir schon deutlich früher hätten loslassen können. Doch auch das konnten wir nicht. Es musste genau so kommen, wie es kam, damit wir verstehen konnten, was in uns und zwischen uns los war. Wir konnten Paulinas Feuer in ihrem Herzen nicht am Brennen halten und das war auch nie unsere Aufgabe. Und doch haben wir es versucht. Es war wichtig, es zu versuchen und damit zu scheitern, damit wir lernen konnten, dass es nicht funktioniert.

Auch für Paulina waren die vergangenen Wochen ebenso wichtig, wie die Trennung. Wir haben nun bereits einige Nachrichten von ihr bekommen, und so wie auch uns, ist ihr vieles nun im Nachhinein klar geworden. Vielleicht wird sie euch eines Tages selbst davon erzählen. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. Es ist nicht aller Tage Abend und vielleicht braucht unsere Herde die Zeit der Trennung um anschließend wirklich zusammenwachsen zu können. Vielleicht geht auch jeder seiner Wege. Vielleicht passiert auch etwas ganz anderes. Niemand weiß es. Niemand weiß, ob Paulina nun den Frieden in sich selbst wieder herstellen kann, um dann gestärkt in einen neuen Lebensabschnitt zu gehen. Niemand weiß, ob letztlich ihr Herz oder ihr Verstand die Oberhand gewinnt. Die Zeit, wird es zeigen.

Dies wollten wir euch erzählen, damit ihr die Ereignisse der letzten gemeinsamen Tage vielleicht ein bisschen besser verstehen könnt. Als Paulina zu uns kam, war sie einverstanden damit, dass wir auch über ihre Themen, Gefühle und Gedanken schreiben. Doch durch die wandelnden Ereignisse und die immer wiederkehrende Unsicherheit, war sie sich am Ende auch darüber nicht mehr ganz sicher. Deshalb haben wir ihr einen neuen Namen gegeben und deshalb werden wir auch nicht alles schreiben, was sich ereignet und was sie über sich selbst erfahren hat. Wir möchten jedoch so viel erzählen, dass die Hintergründe klar werden und dass nachvollziehbar bleibt, warum wir und sie, so gehandelt haben, wie wir gehandelt haben. Es geht dabei nicht darum, auf den Schwächen, Problemen und Lebensthemen herumzuhacken, die einer von uns dreien oder alle drei hatten bzw. haben. Es geht viel mehr darum, anhand von unseren Geschichten Ideen-Anstöße zu geben, warum wir Menschen im Allgemeinen so funktionieren, wie wir funktionieren und warum es kaum eine Beziehung gibt, die wirklich auf bedingungsloser Liebe basiert und die nicht nur eine Handelsgemeinschaft ist, bei der es um einen Austausch von Anerkennung geht.

 

Spruch des Tages: Nur ein Vogel, den man freilässt, kann auch zurückfliegen

 

Höhenmeter: 220 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 10.490,27 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Ferienhaus auf dem Pferdehof, Bitine, Montenegro

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare