Tag 624: Nicht richtig

von Heiko Gärtner
19.09.2015 02:42 Uhr

Fortsetzung von Tag 623:

So hat auch er Gaben in sich, die er nicht verstehen kann und die auch kein anderer wirklich versteht. Trotz der vorrübergehenden Distanz weiß ich oft genau wie er sich fühlt, denn auch ich habe mich in meiner Kindheit oft nicht verstanden gefühlt. Vielleicht spürt auch er, dass ich ein Spiegel für ihn bin. Und ebenso wie mich Hans erschreckte und ängstigte, als ich als Kind in seinen Spiegel schaute, mache ich ihm nun vielleicht ebenso sehr Angst. In mir sieht er, was seine eigene Aufgabe ist und er erkennt, dass auch er besondere Gaben hat, die ihm nicht umsonst geschenkt wurden. Damit kommen sicher auch die gleichen Fragen in ihm auf, die sich jeder an seiner Stelle fragen würde: Wie will ich meiner Aufgabe nachkommen? Schaffe ich das überhaupt? Was ist, wenn mich keiner mehr liebt, weil ich anders bin?

So wie Hans mein Spiegel war, bin ich vielleicht für meinen Neffen auch ein ungeliebter Spiegel. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur das er Fähigkeiten hat die besonders sind. Immer öfter höre ich Geschichten von meinen Eltern über meinen Patenjungen, die keinen Zweifel daran lassen, dass auch er ähnliche Gaben in die Wiege gelegt bekommen hat, wie ich und Hans. Vielleicht existiert deswegen eine unbewusste Angst in der Familie, dass auch meinem Neffen etwas zustoßen könnte.

Noch eine andere Sache finde ich in diesem Zusammenhang äußerst auffällig. Kurz nach seiner Geburt erlebte mein Neffe in einem Krankenhaus eine Situation dich ich persönlich als eine Misshandlung beschreiben würde. Ja ich weiß, das würde nicht jeder so sehen wie ich und doch bin ich davon überzeugt, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass er es selbst als einschneidendes Ereignis erlebt hat, auch wenn es für einen Außenstehenden vielleicht nicht so dramatisch wirken mochte. Aber bedenkt dabei auch, dass bei mir in der frühen Kindheit ein platzender Ballon ausreichte, um eine Schiene auszulösen, die später zum Tinnitus führte.

Meine Schwester sollte ihren Sohn in einem sehr kalten Raum ausziehen zur Untersuchung. Der Doktor kam nicht und die Körpertemperatur des Jungen fiel so schnell in den Keller, das er das Bewusstsein verlor und zu atmen aufhörte. Erst als meine Schwester vor Angst schrie, kamen die Doktoren und halfen ihrem Sohn. Es wäre rein gar nichts passiert, wenn mein Neffe in dem kalten, sterilen Raum nicht solange hätte warten müssen. Fragt euch doch einmal: Ist das nicht seltsam?

An Hans wurden Menschenversuche durchgeführt und das Leben seines Großneffen wurde bedroht, weil sich Doktoren nicht um ihn kümmerten? Ja viel mehr noch, durch die Situation mit Hans ist auf die Schulmedizin ein Hass in der Familie entstanden der nicht spürbar ist aber unterschwellig schwelt. So haben sich sowohl meine Schwester als auch ich jeder auf seine Art für einen medizinischen Beruf entschieden. Sie arbeitet in einer Amputationsklinik und ich beschäftige mich seit Jahren mit der weißen Mafia und der Suche nach wirkungsvollen Alternativen. Kann es sein, dass auch hier das Familiensystem mitgewirkt hat? Auch Hans musste viel Zeit in kalten, kargen Räumen verbringen. Ich sah ihn in meiner Vision in einem Raum bitterlich frieren und er war blau und konnte kaum mehr atmen.

Zufall?

Ich weiß es nicht.

Vielleicht sind es nur tausend Zufälle und doch könnte es auch ein riesiges Netzwerk an indirekten Übereinkünften sein, weil eine Seele verschwiegen wurde und auf dieser Welt vor Schmerz gefesselt war. Es ist verworren und doch handeln wir alle aus einem System heraus, das ich gerade lösen will.

Mir kommt es nur so vor, als würde nun meine Schwester unbewusst auf die gleiche Weise handeln, wie seiner Zeit die Brüder von Hans. Klar liebt sie mich ohne Ende und ich spüre auch, dass sie mich vermisst. Und doch gibt es da etwas, das den Austausch zwischen uns blockiert. Wir haben zu keiner Zeit etwas Böses getan und keiner von uns wollte dem anderen schaden. Dennoch gibt es dieses dumpfe Gefühl einer Schwere in unserer Beziehung, das verhindert, dass zwischen uns ein leichtes und lockeres Geschwistergefühl entsteht. Je mehr ich mich mit der Familiensystematik von Hans beschäftige und je mehr ich verstand, dass ich von ihm besetzt war, desto mehr wird mir klar, warum wir uns zum Teil unbewusst ablehnen mussten. Wir waren wie Feuer und Wasser. Ich war der ungenaue Rechtschreibteufel, der – bildlich gesprochen – in der Psychiatrie landen sollte und meine Schwester war das übergenaue Highlight in der Schule, zu dem alle aufsahen. Sie war wie die Brüder von Hans. Für sie gab es keine Gefahr, dass sie abgeholt werden sollte. Sie waren ja richtig und passten ins Muster, während Hans und ich aus dem Rahmen fielen. Die unbewusste Angst war nicht nur die, das man abgeholt werden könnte, sie bestand viel mehr auch darin, dass man vergessen und am Abstellgleis zum sterben liegen gelassen wird.

Wahrscheinlich Hans mir deswegen diese vielen subtilen Botschaften in mein Leben gegeben, um mich von dieser Angst befreien zu können. Er hat sich damals verlassen gefühlt. Man hat Hans links liegen gelassen, nur weil er gegangen ist. Man hat seine Existenz verdrängt. Man hat ihn verleugnet, weil er eben nicht richtig war.

Also wollte ich durch diesen Familienprägungscode immer richtig sein, ich wollte immer der erste, der beste sein. Dazu gehörte auch, dass ich der perfekte Onkel für meinen Neffen sein wollte, was mir aber durch den Tinnitus nicht möglich war.

Aber nicht nur ich reagierte auf die Familienprägung. Auch meine Mutter hatte diesen Code in sich und wollte deswegen stets das perfekte Kind, das niemals als nicht-richtig eingestuft werden könnte, so dass es Gefahr lief abgeholt zu werden. Ihre Angst war so groß, dass sie uns teilweise wie eine Lehrerin dazu erziehen wollte. Wahrscheinlich habe ich deswegen immer geweint, wenn ich nicht der Erste beim Judo wurde oder eine schlechte Note bekam. Vermutlich wollte ich deswegen immer die richtige Frau für mein Leben finden, die perfekt ist, so dass ich in das Bild der Gesellschaft passe.

Ein weiterer Satz, den ich in den Morgenstunden aufgeschrieben hatte war: „Liebe von anderen ist mehr wert als meine eigene Liebe.“

Warum trug ich diesen abstrakten Satz in mir? Warum konnte ich für mich nicht wahrnehmen, dass meine Liebe die gleiche Liebe ist, die ich von anderen erhalten kann? Warum konnte ich nicht sehen, dass ich ein Wassertropfen im Ozean der Liebe bin also stets von Liebe umgeben werde?

Zum einen habe ich in der Kindheit gelernt, dass ich nicht richtig bin und dass ich nur dann Liebe und Anerkennung bekomme, wenn ich eben richtig bin. Ähnlich erging es auch Hans. Er wurde der Familie entrissen, weil er in den Augen anderer nicht richtig war. Ergo, wenn ich nicht richtig bin, werde ich der Liebe der Eltern entrissen. Vielleicht wollte ich deswegen immer richtig für meine Eltern sein. Aus diesem Grund konnte ich meine Lebenswünsche nie klar und deutlich äußern. Ich dachte immer ich würde sie damit verletzen. Meine Lebensbestimmung empfand ich sogar als unangemessen für meine Eltern. Ich wollte eben der Sohn sein, den man nicht wegschickt. So sagte ich nicht nur einmal: „Wenn ihr mich nicht wollt wie ich bi,n dann gehe ich einfach und komme nie wieder.“

Ich sagte durch den Satz aus: „Ich weiß, ihr habt Hans weggeschickt, weil er nicht richtig ist und wenn ihr mich als nicht richtig bezeichnet, gehe ich lieber freiwillig, als dass ihr mir in die Augen sagt, dass ihr mich nicht liebt, denn diese Schmach würde ich nicht überstehen. Hans größte Seelenverletzung war nämlich die, dass er glaubte, dass seine Familie ihn nicht liebte und er deswegen gehen musste. Er glaubte, dass seine Familie die Abholer nicht aufhalten wollte. Er wusste nicht, dass sie machtlos waren. Auch in Beziehungen schoss mir solch ein Satz oder ein ähnlicher häufig über die Lippen.

„Dann passen wir einfach nicht zusammen. Ich oder du, einer von uns ist nicht richtig, vielleicht sogar wir beide.“

Es ging immer um das Nicht-richtig-sein. Wenn jemand nicht ganz ist, also vollkommen gesund, dann kommt er weg und wird einem entrissen. Nur wenn man perfekt also richtig ist, wird man nicht entrissen. Deswegen hatte ich immer Angst, wenn ein Partner Lebensthemen hatte, dass er wegen diesen von mir entrissen werden könnte. Und warum sollte ich in Liebe investieren, wenn derjenige dann eh wieder geht oder wegkommen muss?

So fühlten die Brüder von Hans diesen Schmerz und daher musste auch ich die gleiche Angst in mir spüren. Wenn ich einen Menschen in mein Herz lasse und er nicht richtig ist, wird er mir entrissen. So haben sich die Brüder von Hans gefühlt. Ihr Gefühl war: Weil Hans ein Handicap hatte, wurde er abgeholt und uns entrissen.

Da die Brüder nie über ihren Schmerz und ihre Gedankenmuster sprechen konnten, blieb dieses Lebensthema unverarbeitet in der Familie bestehen. Hans hatte durch diese Zusammenhänge nicht den richtigen Platz im Familiensystem eingenommen und genau deshalb konnte er auch nicht ins Licht gehen. Durch diesen Zusammenhang konnte aber auch die Familie keine Rue finden und übergab das Schuldzepter von einer Generation zur nächsten weiter.

 

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Wie viel Leid könnten wir uns ersparen, wenn wir aufhören würden zu glauben, dass wir nicht richtig sind?

Höhenmeter: 140 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 11.015,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, in der Nähe von Hallac i Madadh, Kosovo

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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