Tag 629: Ja oder Nein – Teil 2

von Heiko Gärtner
29.09.2015 20:31 Uhr

Fortsetzung von Tag 628:

Meine erste Reaktion war es, die Situation zu leugnen. Ich befand mich in Wirklichkeit gar nicht auf einer Lebensreise, sondern war in einem netten Urlaub. Es ging mir gut und alles würde sich schließlich von selbst regeln. Hauptsache, niemand merkte, dass etwas nicht stimmte. Wenn ich keine Gefühle hatte, dann brauchte ich auch nicht darüber schreiben, niemand konnte sie lesen und niemand konnte irgendetwas Komisches über mich denken. Das änderte sich erst nach etwas über einem Monat, als Heiko und ich in einem französischen Gemeindehaus vor einem Kamin saßen und ich meinen aktuellen Tagesbericht laut vorlas. Heiko war damals völlig entsetzt gewesen, weil er uns in diesem Bericht überhaupt nicht wieder fand. Ich hatte es geschafft, so zu schreiben, dass ich zwar von unserer Reise, nicht aber von mir selbst berichtete. Ich hatte mich hinter den Worten vollkommen versteckt, so dass ich auch weiterhin die Maske tragen konnte, die ich mir für mein Gesellschaftsleben zurechtgebastelt hatte. Damals kam mir das Gespräch an diesem Abend wie ein Schlag ins Gesicht vor. Nicht wie ein Fausthieb, eher wie ein Schlag mit einem Baseballschläger. Sofort kam Wut in mir auf, gemischt mit Selbstzweifeln, Selbstverurteilung und einer großen Portion Trotz. Ich wollte nichts von dem hören, was Heiko mir da sagte, spürte aber gleichzeitig, dass er damit vollkommen Recht hatte. Die ganze Nacht und den nächsten Tag rumorte es in meinem Kopf wie in einer Dampfmaschine, doch am Abend des Folgetages konnte ich zum ersten Mal einen Bericht schreiben, in dem ich von meinen Gefühlen erzählte. Zum ersten Mal konnte ich ehrlich und echt sein. Ich konnte zu mir stehen, obwohl ich mich klein und unbedeutend fühlte, obwohl ich nicht glücklich war und obwohl mir meine Schwächen vollkommen bewusst waren. Dies war damals mein erster, kleiner Befreiungsschlag gewesen. Der erste von vielen! Ich hatte nun bereits verstanden, dass ich erst einmal Ich sein musste, wenn ich wachsen wollte.

Doch noch immer war ich nicht wirklich angekommen.

Die Angst, diesen Weg zu 100% zu gehen war noch immer da und noch immer machte ich mir mehr Gedanken darüber, was meine Familie und meine Freunde über mich denken könnten, als darüber was ich selber wollte. Es dauerte mehr ein halbes Jahr bis ich soweit war, dass ich wirklich zu mir stehen konnte, mit allen Konsequenzen, die sich darauf auch ergeben mochten. In meinem Fall war eine dieser Konsequenz, dass ich seither keinen Kontakt zu meinen Eltern mehr habe, weil sie sich dafür entschieden, dass sie den von mir gewählten Weg nicht mitgehen können. Eine Entscheidung, die ihr vollkommenes Recht ist und die ich inzwischen auch sehr gut annehmen kann. Doch bis zu jenem Tag war die Vorstellung, dass dies passieren konnte, so schrecklich für mich, dass ich lieber darauf verzichtete, mein Leben zu leben, glücklich und im Frieden zu sein, wachsen und heilen zu können, als dieses Risiko einzugehen.

„Lieber gehe ich in den Tod, als dass ihr enttäuscht von mir seid!“

Dies war der Leitsatz, nachdem ich zuvor mein ganzes Leben gelebt hatte. Jeder große Entwicklungsschritt, den ich machen wollte und von dem ich spürte, dass er an der Reihe war, stand jedoch in einem krassen Gegensatz zu diesem Leitsatz. Wie sollte ich meine Vergangenheit aufarbeiten, wenn ich doch nichts in Frage stellen durfte, das mit meinen Eltern und meiner Kindheit zu tun hatte? Wie hätte ich meine Gefühle ausdrücken und für mich einstehen können, wenn ich doch immer der nette, freundliche Junge sein musste, den meine Eltern in mir sahen? Wie konnte ich meine Schwächen eingestehen und erkennen, dass ich von so vielen Dingen einfach keine Ahnung hatte, wenn meine Eltern doch so stolz auf ihren schlauen Sohn waren? Wie hätte ich jemals erfolgreich werden können, wenn ich unbewusst die Glaubenssätze meiner Eltern übernahm, dass Geld und Erfolg den Charakter zerstören? Wie hätte ich je zu mir stehen können, wenn ich doch immer darauf achten musste, dass sich meine Mutter keine Sorgen um mich machte?

Doch es ging noch einen Schritt weiter. Das System „Lieber verzichte ich auf mein Leben, als euch zu enttäuschen!“ bezog ich nicht nur auf meine Eltern, sondern übertrug es auf all meine Mitmenschen. Nicht nur die Meinung meiner Eltern war mir wichtiger als meine eigene, sondern auch die meiner Freunde, meiner Verwandten und sogar die von Wildfremden. Wie konnte ich mich aber mit Themen wie Gottbewusstsein, Spiritualität und bedingungsloser Liebe befassen, ohne zu riskieren, dass mich meine Freunde für verrückt erklärten? Wie konnte ich die Zusammenhänge unserer Gesellschaft erklären, wenn ich Angst hatte, dass mich jemand als Verschwörungstheoretiker verurteilen würde? Sogar wenn ich früher getrampt bin, wenn ich Wochenendkurse mit Teilnehmern gehalten habe, die ich nie wiedersehen würde oder wenn ich auf der Straße jemanden traf, der sich mit mir unterhielt, war es mir wichtiger einen guten Eindruck zu hinterlassen, als ehrlich, echt und ich-selbst zu sein.

All diese Zusammenhänge machten jede Form der Entwicklung absolut unmöglich. Man kann einen Schein nach außen nicht aufrecht erhalten und sich gleichzeitig im inneren Wandeln. Das funktioniert einfach nicht. Das einzige, was dadurch entstand war, dass ich mich immer wieder im Kreis drehte. Ich war wie eine Ziege, die an einen Pflog gebunden wurde, den sie aber nicht wahrhaben will und die daher jeden Tag unzählige Schritte macht, in der Hoffnung irgendwann in der Freiheit zu landen. Doch egal wie weit sie auch geht, sie läuft nur im Kreis und irgendwann entsteht dadurch eine tiefe Rille, in der kein Gras mehr wachsen kann. Ihr weg wird trostlos und anstrengend, aber Freiheit erreicht sie dadurch nicht. Dazu muss sie erkennen, dass sie angebunden ist und sich von diesem Pflog befreien. Dies aber kann sie nur ganz oder gar nicht tun. Sie kann den Pflog nicht halb herausziehen und dadurch ein bisschen freier werden. Sie kann ihn im Boden stecken lassen, akzeptieren dass sie eine Gefangene ist und sich über die Leckerlis freuen, die man ihr hinwirft, oder sie kann den Pfahl ausreißen und sich damit befreien. Doch dann muss sie auch mit allen Konsequenzen leben. Sie muss akzeptieren, dass der Bauer deshalb vielleicht sauer wird und versucht, sie wieder einzufangen. Sie muss lernen, sich selbst etwas zum Essen und einen sicheren Schlafplatz zu suchen. Und sie muss lernen, wachsam zu sein, damit sie keinen Fressfeinden zum Opfer fällt. Mit den Strategien, die sie als Pflog-Ziege gelernt hat, kommt sie in der Freiheit nicht weit. Sie muss sich das Glöckchen vom Hals reißen, denn sonst wird sie überall gehört und ist eine leichte Beute. Sie muss lernen, sich zu orientieren, Gefahren richtig einzuschätzen und wieder eine Verbindung zu Mutter Natur herzustellen um draußen wieder heimisch zu werden. Dafür aber muss sie zunächst einmal erkennen, dass sie von all diesen Dingen keine Ahnung hat. Auf dem Hof war sie vielleicht die Lieblingsziege des Bauern, der sie täglich lobte, streichelte und der stolz auf sie war. Dies alles ist hier jedoch wertlos. Nur wenn sie das erkennt hat sie eine Chance zu überleben. Wenn sie sich vor einen Wolf stellt und ihn unterwürfig anschaut in der Hoffnung, eine anerkennende Streicheleinheit von ihm zu bekommen, dann wird ihr Ausflug in die Freiheit ein sehr kurzer Trip gewesen sein.

Heiko und ich haben unsere Reise damals in Deutschland begonnen, wo wir bereits viele Erfahrungen sammeln konnten. Wir hatten hier bereits früher viele Wochen in den Wäldern gelebt, kannten die klimatischen Bedingungen, die Risiken und die Angebote, die uns die Natur zur Verfügung stellte. Wir lebten mit Obdachlosen auf der Straße, brachen immer wieder probeweise aus und testeten, wie man hier ohne Geld zurecht kommt. Die deutschen Straßen und Wälder waren also bereits fast wieder eine Komfortzone für uns. Ein Lagerfeuer im Wald und ein Fichtenbett zum Schlafen war wie ein Wohnzimmer und in einer Stadt nach kostenlosem Essen zu fragen war für uns nicht schwieriger, als einkaufen zu gehen.

Wir haben uns also langsam aus unserem Komfortbereich heraus bewegt und so war auch der Prozess des Losreißens ein eher fließender. Natürlich musste auch bei uns der Pflog mit einem Ruck aus dem Boden gezogen werden, aber wir hatten ihn zuvor schon etwas aufgelockert und hatten bereits viele Male auf das Seil gepinkelt, so dass sich der Knoten leichter löste.

 

Paulina hingegen war in ihr neues Leben hineingesprungen. An einem Tag hatte sie noch in einer Agentur als Designerin gearbeitet und den großen Lebensmittelfirmen dabei geholfen, die Menschen mit schönen Bildern von Eiscreme, Fruchtjogurt und Süßgebäck zuckersüchtig zu machen und am nächsten Tag befand sie sich plötzlich in der Vorbereitung für das Leben als Nomadin. Am 14.07.2014 hatte sie noch in Nürnberg gestanden, in einer ihr vollkommen vertrauten Umgebung und am 15.07. fand sie sich plötzlich in Sarajevo wieder, in der Hauptstadt eines Landes von dem sie nichts weiter wusste, als dass es hier sehr viel Krieg gegeben hatte. Wir hatten in einem Land angefangen, in dem es fast immer nahezu eben war, so dass sich unsere Muskeln langsam an den Wagen und die tägliche Anstrengung gewöhnen konnten. Paulina hingegen stieg in einem Gebiet ein, in dem sie gleich an den ersten zwei Tagen mehr als 500 Höhenmeter meistern musste. Wir hatten durch die vielen Kurse und Touren bereits ein Gespür dafür entwickelt, was man auf einer solchen Reise braucht und was nicht. Meine erste Wildniswandertour hatte ich mit 17 gemeinsam mit einem Freund durch Norditalien gemacht. Damals hatten wir in unseren Rucksäcken fast so viel Gepäck wie heute in unseren Wagen. Sogar zusätzliche Zahnputzbecher hatten wir eingepackt und allein unser Zelt wog mehr, als ein Mensch tragen konnte. Dafür war es aber auch fliederfarben mit türkisen Einsätzen. Dass wir damals kaum voran kamen und die meiste Zeit der Reise mit Pause machen und Essen verbrachten, ist also nicht verwunderlich. Doch wir haben viel daraus lernen können. Paulina hat bis auf zwei Pilgerreisen und ihren Besuch bei uns im letzten Sommer hingegen keinerlei Erfahrungen sammeln können, was eine sinnvolle Packliste auf einer Wanderreise anbelangt. Sie musste daher auf das zurückgreifen, was sie wusste und hatte somit am Ende eine Mischung aus Pilgergepäck und Künstleratelier dabei, mit der sie sich kaum mehr bewegen konnte.

Kurz: Die Bedingungen, die sich Paulina für den Beginn ihres neuen Lebens ausgesucht hatte, waren bedeutend härter, als Heikos und meine. Man könnte sagen, dass Heiko und ich als Ziegen im Hobitland abgebunden waren, als wir uns befreiten, während Paulina in Mordor angepflockt wurde. Dementsprechend höher war auch der Druck, den sie von allen Seiten bekam und der sie darauf drängte sich wirklich und wahrhaftig für ihr Leben zu entscheiden. Denn als kleine Ziege in einem Land voller Orks an einen Pfahl gebunden zu sein, kann einfach nicht lange gut gehen. Dies ist auch der Grund, weshalb Heiko in den vergangenen Wochen so oft unruhig wurde. Er spürte, viel mehr noch als ich, denn mit meiner Aufmerksamkeit ist es ja auch noch nicht allzu weit her, dass sich Paulina durch ihre Nichtentscheidung in eine immer größere Gefahr begab. Denn die Unsicherheit, die sie in sich trug, strahlte sie wie mit einem Suchscheinwerfer nach außen. Achtet einmal darauf, wenn ihr das nächste Mal durch die Straßen geht, was für eine Grundhaltung dem Leben gegenüber die Menschen haben, denen ihr begegnet. Ihr werdet feststellen, dass ihr bereits beim ersten Blick verblüffend viel über sie sagen könnt. Die Körperhaltung, die Gangart und -geschwindigkeit, die Trittsicherheit, der Gesichtsausdruck, der Schein in den Augen, der Fokus und das gesamte Erscheinungsbild machen sofort klar, ob sich der entsprechende Mensch etwas gefallen lässt oder nicht, ob er mit sich selbst zufrieden ist, ob er sich mit dem sicher ist, was er tut oder ob er von Selbstzweifeln zerfressen wird. Wenn ihr in einer Stadt seit, dann werdet ihr sicher auch an Menschen vorbeikommen, die den Passanten irgendwelche Flyer, Spendenaktionen, Handyverträge oder anderes Zeug andrehen wollen. Nehmt euch einmal die Zeit, sie zu beobachten und zwar nicht direkt diese Verkäufer, sondern die Personen, die ihnen ins Netz gehen. Ihr werdet feststellen, dass ihr bereits auf 50m voraussagen könnt, wer an ihnen vorbeigehen kann, ohne auch nur angesehen zu werden und wer auf jeden Fall angesprochen und in ein Gespräch verwickelt wird, auch wenn er nicht die geringste Lust dazu hat. Ich habe mich sehr lange gefragt, warum ich immer zu der zweiten Kategorie gehörte, bis mir aufgefallen ist, dass ich diese Menschen quasi direkt eingeladen habe, mich auszuwählen. Sobald mit so ein Flyerverteiler ins Blickfeld trat wurde ich schon unsicher und wusste, er würde mich ansprechen. Also schaute ich kurz hin, dann wieder weg, dann wieder hin, lächelte, weil ich mich unhöflich fühlte und glaubte, es nicht sein zu dürfen und hatte den Schwätzer auch schon an der Backe. Auf meiner Stirn stand in dicken, fetten Buchstaben der Schriftzug „LEICHTES OPFER!“ geschrieben. Die Flyer-Verteiler hingegen standen den ganzen Tag in der Stadt herum und waren frustriert, weil niemand das Zeug haben wollte, das sie selbst für reinen Papiermüll hielten. Sie hatten also keinerlei Interesse an den Menschen, die von vornherein ausstrahlten, dass sie unzugänglich waren und brauchten stattdessen Menschen wie mich. Sie wären ja schön dumm gewesen, wenn sie sich die anderen ausgesucht hätten.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Die Dinge die du zu tun liebst sind kein Zufall, sie sind deine Bestimmung.

Höhenmeter: 340 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 11.090,27 km

Wetter: bewölkt und regnerisch

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Apfelwiese, Vratnitsa, Mazedonien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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