Tag 630: Leichtes Opfer

von Heiko Gärtner
30.09.2015 00:05 Uhr

Fortsetzung von Tag 629:

In den Innenstädten in Deutschland, in denen es meist mit Recht und Ordnung zugeht und in denen man sich sehr sicher sein kann, dass man sicher ist, und das die Flyerverteiler die einzigen sind, die einen belästigen, ist das ganze nicht weiter tragisch. Es ist vielleicht etwas ärgerlich, aber eben nicht gefährlich. Solange wir also in unserem goldenen Käfig aufhalten, führt die innere Unsicherheit lediglich dazu, dass uns unser Chef und unsere Kollegen nicht ernst nehmen, dass wir in Warteschlangen häufiger nach hinten gedrängt werden, dass wir von unseren Eltern bevormundet werden und dass wir nie wirklich unseren eigenen Stil und unseren eigenen Weg finden. Verlassen wir unseren Komfortbereich jedoch, kann diese Unsicherheit tödliche Folgen haben. Bosnien, Serbien und auch Montenegro sind Länder, in denen die Polizei so gut wie keine Präsenz hat. Frauen fügen sich hier meist in die Rolle der unterwürfigen Dienerin für ihren Mann, was man bereits beim Händedruck häufig spüren kann. Gleichzeitig stehen aber auch die Männer meist ihr ganzes Leben lang unter der Fuchtel ihrer Mütter und haben so das Gefühl, dieses Bevormundet-Werden an anderer Stelle wieder auszugleichen, in dem sie besonders männlich wirken wollen. Dieses Ungleichgewicht und der damit verbundene Unfrieden gepaart mit der noch immer tief sitzenden Angst vor einem neuen Krieg, der Hoffnungslosigkeit aufgrund der schlechten Wirtschaftslage, dem permanenten Mangelbewusstsein und dem Glauben, dass man arm ist und daher nicht die Freude im Leben hat, die man eigentlich verdient hätte, führt zu einem großen, unterschwelligen Gewaltpotential. Und dieses wiederum verträgt sich nicht im Geringsten mit dem überaus hohen Alkoholkonsum, der in der Regel mit drei Gläsern Raki zum Frühstück beginnt. Ich will damit nicht sagen, dass die Menschen hier schlechte Menschen sind, denen man nicht trauen kann und denen man unter allen Umständen aus dem Weg gehen sollte. Im Gegenteil, wir haben viele gute Seelen kennengelernt und die Hilfsbereitschaft hier ist wirklich enorm. Aber eben auch die Langeweile und die Frustration und damit die Tendenz, sich das Leben mit jeder Art der Ablenkung irgendwie angenehmer zu machen. Das reicht vom penetranten Gaffen, wenn eine bunte Pilgergruppe vorbeizieht bis hin zu unterschiedlichen Formen der Belästigung, wenn man es nicht schafft, eine klare und eindeutige Grenze zu ziehen. Ein Schild mit der Aufschrift „Opfer!“ oder „Leichte Beute!“ auf der Stirn ist dabei ganz und gar nicht hilfreich.

Am Anfang unserer gemeinsamen Zeit mit Paulina war uns dieser Zusammenhang noch nicht ganz so stark bewusst. Es war mehr ein unterschwelliges Gefühl, dass wir hatten, das wir aber noch nicht richtig greifen konnten. Doch schon nach wenigen Tagen wurde uns die Gefahr das erste Mal gespiegelt, als wir nachts den unerfreulichen Besuch der betrunkenen Kinder bekamen, die wir nicht rechtzeitig wegschicken konnten. Ich nehme mich an dieser Stelle nicht raus. Ich habe mich zwar entschieden, zu mir zu stehen, doch in derartigen Situationen tippe ich noch immer häufig in die gleiche Falle. Ich habe das Gefühl, nicht unhöflich sein zu dürfen, auch wenn es angebracht ist und so lasse ich offensichtlichen Störenfrieden zu viel Spielraum, um es sich bei uns gemütlich zu machen. Die Unsicherheit, die ich in diesem Bereich verspürte, lockte sie an und war wie eine Einladung mit dem Titel: „Große Stör-Party! Jeder, der uns auf den Sack gehen will ist herzlich willkommen!“ So lange wir zu zweit waren, war das meist kein Problem, denn zum einen konnten wir uns immer sichere Plätze suchen und um anderen wurde meine Unsicherheit durch Heikos bestimmtes Auftreten relativ gut wieder ausgeglichen, so dass sich niemand zu lange an uns herantraute, der uns nicht wohlgesonnen war. Mit Paulina waren wir nun aber bereits zwei Unsicherheitskandidaten und ihre Stufe der Unsicherheit übertraf meine noch einmal deutlich. Hinzu kam, dass sie eine Frau war und dass durch unsere gesellschaftlichen Geschlechterbilder Frauen grundsätzlich viel selbstsicherer Auftreten müssen als Männer, um nicht als Opfer angesehen zu werden. Es heißt nicht umsonst „das schwache Geschlecht“. Einem Mann wird von Natur aus mehr Stärke und Sicherheit unterstellt als einer Frau. Das ist nicht unbedingt fair, aber es ist leider so. Außerdem ist bei einem Mann die Gefahr deutlich geringer, dass er einer Vergewaltigung oder einem sexuellen Übergriff zum Opfer fällt. So konnte ich beispielsweise schon zu Unizeiten immer Gefahrlos durch Deutschland trampen, auch wenn ich dabei nur wenig Selbstbewusstsein hatte. Meine innere Opfereinstellung ließ mich ungefährlich und sympathisch wirken und sorgte dafür, dass man mich sogar eher mitnahm, als wenn ich vollkommen in meiner Kraft gestanden hätte. Einmal wurde ich an einer vollkommen ungünstigen Stelle mitten auf der Autobahn sogar von einer ängstlichen Frau mitgenommen, die sich geschworen hatte, niemals einen Tramper einzusammeln, weil ihre Freundin vor Jahren von einem überfallen wurde. Als sie mich sah, hatte sie jedoch das Gefühl, dass ich so unschuldig und harmlos wirkte, dass sie mich nicht hier stehen lassen konnte. Ihre Angst, dass mir etwas passieren könnte war größer, als die, dass ich ihr wohlmöglich etwas antun würde. Die gleiche Geisteshaltung bei einer Frau würde zwar ebenfalls solche Begegnungen anziehen und die Male, in denen ich eine Freundin bei mir hatte, kamen wir im Schnitt mehr als dreimal so schnell weg, wie bei meinen Alleingängen. Aber eine Frau zieht eben nicht nur solche Menschen an. Ein unangenehmer, griesgrämiger, ekelhafter alter Sack, der einen Mann an der Auffahrt sieht, fährt einfach achtlos an ihm vorbei. Sieht er jedoch eine Frau, nimmt er sie wahrscheinlich mit. Doch seine Absicht ist nicht, ihr etwas Gutes zu tun, sondern sich selbst eine Freude zu machen. Und darin liegt die große Gefahr.

In jener Nacht in Bosnien waren es zunächst einmal nur harmlose Jugendliche, die sich einen Streich erlaubt hatten und die im Endeffekt so viel Schiss hatten, dass sie sogar selbst die Polizei riefen. Dies war die erste Stufe des Drucks, der Paulina zu einer Entscheidungsfindung führen sollte. Passender Weise kam auch gleich am nächsten Tag das erste Streitgespräch auf, bei dem es genau um dieses Thema ging.

Wir saßen an einen großen Bagger gelehnt am Wegesrand und erklärten Paulina zum ersten Mal, dass es wichtig war, sich zu entscheiden, ob sie den Weg, den sie eingeschlagen hatte, wirklich gehen wollte oder nicht.

„Bist du bereit, diesen Weg mit allen Konsequenzen zu gehen, ja oder nein?“

Paulina wusste bereits an diesem Nachmittag, dass es ihr Weg war und dass sie ihn gehen wollte, doch sie hatte Angst, vor den damit verbundenen Konsequenzen.

Unsere Reise ist eine Heilungsreise und das bedeutet, dass es nicht nur darum geht, möglichst viele Kilometer zurückzulegen und dabei möglichst viele Sehenswürdigkeiten abzuklappern, sondern darum, wirklich gesund zu werden. Doch um Gesund zu werden, muss man erst einmal erkennen, welche Krankheiten und Schwächen man hat. Um im Frieden mit sich selbst leben zu können, muss man sich zunächst anschauen, wie viel Unfrieden in einem steckt. Um in Freiheit seinen Lebensweg beschreiten zu können muss man zunächst einmal das innere Gefängnis mit all seinen Fesseln, Blockaden, Verpflichtungen und Verstrickungen erkennen. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Das ist nicht nur eine Floskel, es ist ein Naturgesetz. Ohne ein Problem, eine Angst oder eine Krankheit als existent anzuerkennen, kann man es nicht lösen. Schon Einstein sagte: „Wir könnten viel aus unseren Fehlern lernen, wenn wir nicht so sehr damit beschäftigt wären, sie zu leugnen!“ Vielleicht war es auch nicht Einstein, aber darum geht es ja nicht. Wichtig ist, dass wir nicht lernen können, solange wir uns für unsere Fehler oder Schwächen schämen. Ich habe beispielsweise viele Jahre lang versucht, Gitarre zu lernen, mich aber immer dafür geschämt, dass ich es noch nicht richtig konnte. Natürlich gelang es mir, ein paar Akkorde zu klimpern und damit für mich alleine in meinem Zimmer einige Lieder zu begleiten, doch sobald ich vor Publikum spielen sollte, war es mir so unangenehm, dass ich mich stets verspielte. Nach wenigen Versuchen gab ich es dann auf. Meine Scham war so groß, dass ich nicht lernen konnte, weil ich dazu hätte zugeben müssen, dass ich einfach noch nicht gut bin. Ganz ähnlich erging es Heiko bei seinen ersten Versuchen mit der Kontaktjonglage. Als wir Spanien im letzten Frühjahr erreichten, packte er sie zum ersten Mal aus und trainierte damit in den Wartezeiten, die entstanden als ich mich auf die Schlafplatzsuche begab. Er wurde dabei stets von Kindern und Passanten beobachtet, die sich teilweise Stundenlang hinstellen konnten um sich jeden seiner Fehlversuche genau anzuschauen. Am Anfang schämte er sich dafür, dass er den Menschen nicht mehr bieten konnte und es war ihm jedes Mal unangenehm, wenn die Kugel von seinem Arm kullerte und auf dem Boden landete. Schließlich war er dadurch so nervös, das überhaupt nichts mehr klappen wollte. Am Ende packte er frustriert ein und gab die Versuche für diesen Tag auf. Erst als er verstand, dass die Fehler wichtig waren und dass er dazu stehen musste, konnte er die ersten Fortschritte machen.

Was aber hat das nun mit Paulina zu tun?

Auch ihr wurde bewusst, dass sie, wenn sie sich auf eine Heilungsreise begab, zu ihren Schwächen stehen musste. Sie würde die Maske der fröhlichen, makellosen Lebenskünstlerin nicht aufrecht erhalten können. Und da wir unsere Erfahrungen auf unserem Blog stets teilen, würden nicht nur wir ihr wahres Gesicht sehen, sondern jeder, der unsere Berichte liest. Was aber würden dann ihre Freunde von ihr denken? Ihre Bekannten, ihre Familie und ihre Eltern? Sie hatte ihre Gesellschaftsmaske wie jeder andere Mensch auch, ja aus einem guten Grund aufgesetzt: Sie wusste, dass diese Maske zumindest oberflächlich von anderen gemocht wurde. Aber wurde auch die echte, die unperfekte, die schwache Paulina mit all ihren Fehlern und Macken gemocht?

Vor gut einem Jahr hatte ich vor der gleichen Entscheidung gestanden. Entweder ich stand mit allen Konsequenzen zu mir und musste akzeptieren, dass meine Eltern und wahrscheinlich auch viele meiner Freunde deshalb nichts mehr mit mir zu tun haben wollten, oder aber ich musste mich weiterhin hinter der Maske verstecken, die ich immer getragen hatte und musste so tun als wäre ich jemand, der ich überhaupt nicht war. Damals war dieser Schritt eine große Herausforderung gewesen und es hatte mir viel geholfen, dass ich geglaubt hatte, meine Eltern könnten meine Entscheidung verstehen und würden sich nach einer kurzen Streitphase doch noch für mich freuen können. Als ich diesen Irrtum bemerkte, war die Entscheidung bereits getroffen und mir wurde klar, dass es genau so hatte kommen müssen.

Paulina kannte natürlich die Geschichten von meinen Erfahrungen und so kam in ihr nun die Angst auf, dass es bei ihr vielleicht genauso ablaufen könnte. Was war, wenn sie sich automatisch mit der Entscheidung für ihr Leben gegen den Kontakt zu ihren Eltern entscheiden musste? Was war, wenn ihre Mutter und ihr Vater nicht verstehen konnten, warum sie diesen Weg ging, wenn sie deshalb wütend wurden, sie nicht mehr lieben konnten und sie letztlich ganz und gar verstoßen würden? Dieser Gedanke war für Paulina so schwer zu ertragen, dass sie ihn nicht einmal zulassen konnte. Das durfte einfach nicht passieren! Vollkommen gleich, was das auch kosten würde.

Fortsetzung folgt....

 

Spruch des Tages: Wer eine Veränderung will, der muss auch bereit sein, sich zu verändern.

Höhenmeter: 130 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 11.108,27 km

Wetter: bewölkt und regnerisch

Etappenziel: Zeltplatz neben einer Baumschule, Zhilche, Mazedonien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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