Tag 632: Gegen den Strom

von Heiko Gärtner
30.09.2015 02:15 Uhr

Fortsetzung von Tag 631:

Heiko versuchte ihr den Unterschied zwischen Überarbeiten und Erfolgreich-Sein zu erklären: „Paulina, wir verlangen ja überhaupt nicht von dir, dass du noch mehr leistest. Darum geht es nicht. Im Gegenteil, du bist ja wirklich die ganze Zeit am Rotieren und musst wirklich aufpassen, dass du dich nicht selbst ins Burnout schießt. Das Problem ist ja nicht, das du nichts tust, sondern dass du dabei auf der Stelle tappst. Es ist, als würdest du den ganten Tag gegen den Strom schwimmen. Am Abend bist du dann vollkommen aus der Puste aber keinen Meter weitergekommen. Ich weiß nicht was es ist, aber irgendetwas blockiert dich, so dass du keinen Abschluss machen kannst.“

„Was meinst du denn damit?“ fragte Paulina.

„Ich erkläre es dir einmal an einem Beispiel! In meiner Zeit bei der Allianz habe ich stets versucht, meine Arbeit so entspannt wie möglich zu machen. Aber ich war ein guter Verkäufer. Das heißt ich konnte am Vormittag bereits einige große Geschäftsabschlüsse machen und mich dann am Nachmittag irgendwo auf eine Wiese legen. Das was du gerade machst ist aber das Gegenteil. Du rennst von morgens um 6:00Uhr bis nachts um halb elf von einem Kundentermin zum nächsten, führst intensive Gespräche, berätst jeden, versuchst alles, was möglich ist, hast aber Angst, wirklich einen Abschluss zu machen. Am Ende gehst du dann ohne Vertrag wieder und musst es beim Nächsten noch einmal versuchen. Wenn du jetzt zu deinem Chef gehst, wird der natürlich sauer, weil du unterm Strich nichts erreicht hast. Es interessiert ihn nicht, dass du dir den Arsch aufreißt. Er will Ergebnisse sehen. Und das ist auch hier das Problem. Du tust und machst und werkelst, kommst damit aber nicht voran. Die Frage ist nur: Warum?“

Im Laufe des Gesprächs kamen wir dabei auf mehrere Kernpunkte. Zum einen hatte sie noch immer das Gefühl, dass sie arbeiten MUSS. Es ist nichts, das sie mit Freude macht, sondern etwas, von dem sie glaubt, dazu verpflichtet zu sein. Das wurde besonders deutlich am Beispiel des Orientierungstextes. Die Idee war es eigentlich, dass sie sich ein Thema aus einem Survivalbuch heraussucht, das sie besonders interessiert und über das sie mehr lernen will. In ihr war jedoch noch immer das Arbeitskonzept, das sie in der Schule und in der Uni gelernt hatte, nachdem man Themen strukturiert und der Reihe nach abarbeitet. So entschied nicht Paulina, dass sie sich mit dem Thema Orientierung befasste, sondern das Buch, in dem es Orientierung als erstes Kapitel aufführte. Nachdem sie angefangen hatte, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, gaben wir ihr verschiedene Informationen und Unterlagen, die wir dazu schon einmal zusammengetragen hatten. Diese waren dafür gedacht, sie beim Forschen zu unterstützen. Beim Durchlesen merkte sie jedoch, dass nichts über GPS-Systeme darin stand und ging nun davon aus, dass es ihre Pflicht sei, diese Lücken zu schließen. Da sie selbst jedoch noch nie mit einem GPS-System gearbeitet hatte, von ein paar Geo-Cache-Erfahrungen einmal abgesehen, kam ihr das Thema quälend langweilig vor und sie musste sich zwingen, sich damit zu beschäftigen. Dementsprechend schlecht kam sie damit voran, da sie immer gegen einen inneren Widerstand arbeiten musste. Da sie den Text ohne jede Freude schrieb wurde er auch nicht besonders gut und sie ärgerte sich anschließend über die mangelhaften Ergebnisse. So konnte man ihn nicht veröffentlichen, da war sie sich sicher. Doch genau darum ging es ja. Wenn einem eine Sache keinen Spaß macht, dann sollte man sie nicht machen. Alles, was ohne Liebe getan wird, kann auch nicht positiv sein. Ein Text, den der Autor nicht gerne geschrieben hat, kann auch von einem Leser nicht gerne gelesen werden. Wie will man das Interesse von anderen für eine Sache wecken, die man selbst zum Kotzen langweilig findet?

Das zweite Problem war auf eine gewisse Weise mit dem ersten verbunden. Paulina wusste nicht, was sie wirklich gerne machte. Es gab keinen roten Faden in ihrem Leben, an den sie sich halten konnte, weil sie nicht wusste, was ihre Lebensbestimmung war. Auch dies hing wieder mit der Entscheidung zusammen, dass die Meinung anderer wichtiger war, als die eigene. Denn wenn man sich für andere verbiegen will, dann geht das nur, wenn man seine Herzensstimme zum schweigen bringt. Solange sie mit einem spricht spürt man, wie sehr man gegen sich selbst handelt und das kann auf Dauer nicht gut gehen. Wenn man in jeder Sekunde deutlich spürt, was das richtige für einen ist, es aber nicht tut, wird man irgendwann verrückt. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten. Entweder man folgt der Stimme in seinem Herzen oder man unterdrückt sie so stark, dass man vergisst, dass man sie überhaupt hat. Ohne diese Stimme weiß man aber auch nicht mehr, was wirklich zu einem gehört. Man hat keine Ahnung, was die eigenen Talente, Wünsche und Leidenschaften sind. Man weiß nur, dass es sie geben muss und befindet sich daher stets auf der Suche danach. Dadurch ergibt sich jedoch eine Sache, die einen sehr stark in die Irre leitet und die mir jetzt in diesem Moment erst bewusst wird. Ich erkläre es am besten an meinem eigenen Beispiel, denn ich bin ja ebenso ein Profi im Verdrängen der inneren Stimme, wie Paulina.

Wann immer ich in meinem Leben einen Menschen gesehen habe, der vollkommen in einer Sache aufging, war ich sofort fasziniert. Es war dabei völlig egal, was es war. Ein guter Freund von mir war beispielsweise ein Meister im Gitarre-Spielen und kaum hatte ich ihn das erste Mal spielen gehört, war mir klar, dass ich auch lernen wollte, so zu spielen wie er. Eine Freundin, spielte jedoch genauso gut Klavier und als ich ihr zuhörte war mir klar, dass ich auch dies erlernen wollte. Genauso erging es mir mit einem anderen Freund, der ein Virtuose am Schlagzeug war. Doch sobald ich eines dieser Instrumente zu lernen begann, merkte ich schon bald, dass es mich einfach nicht befriedigte. Ich musste mich zum Spielen zwingen und ärgerte mich, wenn ich nicht wirklich vorankam. Später schaute ich mir mit Heiko dann Videos mit verschiedensten Straßenkünstlern an und wollte Tanzen, Jonglieren und lauter andere Dinge lernen. Egal was es war, ob im musikalischen, künstlerischen, sportlichen oder handwerklichen Bereich, ich wollte es lernen. Sobald ich jedoch begann, hatte ich keine Lust mehr darauf und lernte am Ende gar nichts. Wo also war der Haken?

Die ganze Zeit über hatte ich geglaubt, dass mich das Instrument, die Kunst oder die Technik fasziniert hatte, doch das war nur zu einem kleinen Teil der Fall. Was mich wirklich faszinierte, waren die Menschen, die ihre Passion gefunden hatten und sie so voller Energie und Leidenschaft verwirklichten, dass sie ganz darin aufgingen. Das war es, was ich von ihnen lernen wollte. Ich war also nicht fasziniert von der Fähigkeit, sondern von der Passion, mit der sie ausgeführt wurde. Diese wollte ich auch erlernen. Doch weil ich beides miteinander verwechselte, glaubte ich, dass ich die entsprechende Fähigkeit erlernen muss, um glücklich zu werden. Deshalb interessierte ich mich für alles, da alles ein Schlüssel zur Glückseligkeit sein konnte. Doch wenn ich mich damit beschäftigte, merkte ich, dass es einfach nicht meins war und ich damit nicht weiter kam. Der Fehler lag darin, dass ich versucht hatte, das zu imitieren, was andere Begeisterte, anstatt nach dem zu suchen, was mich begeisterte. Und dieses Problem hatte nun auch Paulina. Sobald wir ihr von einem Thema erzählten, das uns begeisterte, war sie sofort Feuer und Flamme, doch wenn sie begann, sich damit auseinanderzusetzen spürte sie, dass es anstrengend wurde und ihr keine Freude machte. Sofort wirkte etwas anderes verlockender, denn möglicherweise steckte hierin der Schlüssel zum Glück. Doch das tat er auch nicht, also vielleicht im nächsten, oder im übernächsten, oder, oder, oder. Auf diese Weise war es natürlich unmöglich, dass sie etwas fertigstellen konnte, ebenso, wie es mir unmöglich war, ein Instrument oder eine Kunst zu erlernen.

Wie aber findet man nun seine Passion? Zunächst einmal müssen wir erkennen, dass es nicht darum geht, irgendwo hinzukommen. Wir werden nicht glücklicher oder zufriedener, wenn wir irgendetwas können, etwas erschaffen haben, etwas besitzen oder wissen, wo unser Weg ist. Glückseligkeit liegt niemals in der Zukunft, sondern immer im gegenwärtigen Augenblick. Der Lebensweg ist kein fernes Ziel, das wir erreichen müssen, um dann endlich glücklich zu sein. Es ist der Weg, auf dem wir uns jetzt gerade befinden und der Schritt, der wichtig ist, ist der, den wir jetzt in diesem Augenblick tun. Solange wir glauben, irgendwo ankommen zu müssen, können wir niemals wahrhaft glücklich werden. Es geht nicht darum, etwas im Außen zu verändern. Auch nicht uns selbst. Alles ist so vollkommen, wie es jetzt gerade ist. Die Kunst, die es zu erlernen gilt, ist es, den gegenwärtigen Augenblick so anzunehmen und zu lieben wie er ist. So lange wir Instrumente, malen, kämpfen oder sonst irgendetwas lernen, weil wir glauben dadurch glücklicher und zufriedener zu werden, können wir dabei keine Freude empfinden. Das ist nichts anderes, als wenn wir glauben, dass uns unser Beziehungspartner glücklich machen wird. Das ist unmöglich. Wir können nur dann eine glückliche Beziehung führen, wenn wir mit uns im Frieden sind und wenn wir ohne den Partner genauso glücklich sind, wie mit ihm. Es ist egal, ob wir etwas können, besitzen und verstehen oder nicht. Wenn wir uns ohne diese Fähigkeit, diesen Besitz oder dieses Verständnis in Frieden, Liebe und Glückseligkeit befinden, dann werden wir es auch mit ihnen. Wenn nicht, dann werden sie nichts daran ändern. Es geht nicht um eine Veränderung im Außen, sondern um einen Standpunktwechsel. Wenn wir uns selbst, die Welt und unser Leben vollkommen annehmen können, so wie wir jetzt sind, dann kann auch eine Wandlung stattfinden. Dann spüren wir von ganz alleine, was zu uns gehört und was nicht. Dann finden wir unsere Passion, ohne überhaupt danach zu suchen. Es geht uns dann nicht mehr darum, der Beste in diesem Bereich zu werden oder etwas besonders zu erschaffen. Wir beschäftigen uns ganz einfach damit, weil es uns jetzt in diesem Augenblick Spaß macht und unser Herz zum Strahlen bringt. Und ehe wir uns versehen sind wir in der Lage, Dinge zu tun, die anderen wie bloße Magie erscheinen.

Doch zurück zum Streitgespräch mit Paulina. Denn auch dieser Grund war noch nicht der Kernpunkt, sondern nur ein Verstärker. Der Hauptpunkt, lag wieder in der gleichen Nichtentscheidung verborgen, um die es sich eigentlich schon die ganze Zeit dreht. Wer etwas erschafft und vollkommen fertigstellt, der stellt es so in den Raum und präsentiert es damit der Außenwelt. Das Werk wird damit sichtbar und mit ihm auch der Erschaffer, der einen Teil seiner Seele und seines Herzens mit in dieses Werk gegeben hat. Solange es jedoch unfertig bleibt, ist man immun gegen jede Form der Kritik. Wenn irgendetwas von dem, was man gemacht hat angekreidet wird, kann man immer sagen, dass dies zwar nicht falsch wäre, jedoch daran läge, dass das Projekt ja noch gar nicht fertig ist. Wenn es jedoch fertig gestellt wurde, dann ist es ein Statement an dem man nicht mehr herumdoktern kann.

Doch vor diesem Statement hatte Paulina Angst. Es war wie bei dem Versicherungsmarkler, der täglich 100 Kunden abfährt, aber keinen Abschluss tätigt. Es ist nicht, dass er keinen Abschluss tätigen könnte, er traut sich nur einfach nicht. Was ist, wenn ich den Kunden zu etwas überrede, was er vielleicht gar nicht will? Was ist, wenn mein Produkt überhaupt nicht gut ist? Es gibt einen ganzen Haufen an Zweifeln, der aufkommen kann. Sobald man einen Abschluss tätigt, gibt es kein Zurück mehr. Die Sache steht! Punkt! Mit allen Konsequenzen. Ein Verstecken ist dann nicht mehr möglich, doch genau dieses Risiko wollte sie vermeiden. Wir waren also nun wieder an genau dem Punkt angekommen, der der Grund dafür war, dass wir uns seit Wochen im Kreis drehten und der zuvor auch dazu geführt hatte, dass ich mich ewig im Kreis gedreht hatte. Jeder noch so kleine Schritt nach vorne, also auf das wahre Sein zu, ist ein Statement, mit dem man sich nach außen zeigt. Nur wenn man zu sich stehen kann, kann man diesen Schritt auch wirklich gehen. Wenn nicht, trappelt man ständig hin und her und versucht permanent in Deckung zu gehen, weil man sich vor der Außenwelt ja verstecken muss.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Es kostet viel Kraft, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 11.159,27 km

Wetter: bewölkt und regnerisch

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, in der Nähe von Balin Dol, Mazedonien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare