Tag 636: Schuld als Waffe – Teil 1

von Heiko Gärtner
30.09.2015 03:28 Uhr

Fortsetzung von Tag 635:

„Aber merkst du nicht, dass das nicht geht?“ fragte ich, „Ich kann dein Dilemma verstehen. Das Problem ist, dass du es nicht gewohnt bist, auf dich selbst zu hören, sondern immer versuchst, abzuwiegen, was andere von dir wollen und was sie am meisten zufrieden stellt. Aber das geht dieses Mal nicht. Wenn du dich für deinen Weg entscheidest, dass hast du Angst, dass deine Familie enttäuscht ist und wenn du dich dagegen entscheidest, dann glaubst du uns zu enttäuschen. Aber darum geht es nicht, Paulina. Wir sind in dem Fall egal, genau wie deine Familie. Die Frage ist: ‚Was willst du?‘“

„Das weiß ich eben nicht!“ sagte sie. „Ich habe zu viel Angst, dass ich es nicht schaffe und deshalb glaube ich nicht, dass ich den Weg gehen kann! Ich weiß einfach nicht, was das richtige für mich ist.“

„Natürlich weißt du das nicht!“ antwortete ich, „das kannst du ja auch nicht wissen. Wenn du es wüstest dann wäre es ja keine Entscheidung mehr. Du glaubst, dass du dich erst dann entscheiden kannst, wenn du 100% aller Fakten kennst. Wenn du genau weißt, wohin jeder Weg führen wird. Du stehst gerade an einer Kreuzung und sagst: Ich kann mich erst dann für einen Weg entscheiden, wenn ich genau weiß, wie jeder Weg verläuft, wo er endet und was unterwegs passieren wird. Aber so ist das Leben nicht aufgebaut. Du willst gerade, dass es keine Kreuzung gibt, sondern nur einen einzigen geraden Weg, den du einfach nur entlanggehen musst. Dann könntest du dich dafür entscheiden, genau diesen Weg zu gehen. Aber das hat nichts mit einer Entscheidung zu tun. Die Kreuzung ist nun einmal da uns du kennst nur das erste Stück von jedem Weg bis zur nächsten Biegung. Deswegen ist es ja eine Entscheidung. Du musst fühlen, was für dich das richtige ist und dann gehst du diesen Weg. Aber geh ihn ganz und steh auch dazu. Wenn du mit uns gehst, dann geh wirklich mit uns und steh zu dieser Entscheidung, was immer sie dir auch bringen mag. Und wenn du jetzt nach hause gehst, dann steh dazu, dass du diesen Weg eingeschlagen hast. aber triff deine Entscheidung selbst und bewusst, nicht aus Trotz oder Scham.“

Auch dieses Mal entstand ein längeres Gespräch, bei dem wir immer wieder merkten, dass wir in Nebenkriegsschauplätze abgeleitet wurden. Ich weiß nicht wie sie es machte, aber sie schaffte es immer wieder, dass man sich auf Diskussionen einließ, die keinen Sinn hatten, und die einen nur vom eigentlichen Thema ablenkten. Es war genau wie in meinem Traum mit den SMS. Im Nachhinein ärgerten wir uns immer wieder, dass wir uns darauf eingelassen hatten. Schließlich aber blieb es bei der Nichtentscheidung, so dass wir keine andere Möglichkeit sahen, als ihr die Entscheidung abzunehmen.

„Paulina,“ sagte Heiko, „Wenn du nicht bei uns sein kannst, dann musst du es lassen. Hier ist ein guter Ort, um sich zu trennen. Es ist keine große Stadt und es ist daher auch nicht gefährlich. Aber weil es ein touristischer Ort ist, gibt es hier Hotels, eine Post und eine gute Busanbindung. Hinten am Hang wohnt eine deutsche Familie, die nett ist und die wir bereits kennengelernt haben. Sie werden dir bestimmt weiterhelfen und können dich notfalls zu einem Bahnhof fahren oder vielleicht sogar ganz mit nach hause nehmen. Ich denke daher, dass es an der Zeit ist, dass wir die Sache beenden. Es bringt nichts und macht uns alle drei nur kaputt!“

Er ging zu ihr hin, küsste und umarmte sie und wünschte ihr alles Gute. Auch ich nahm sie noch einmal in den Arm und wünschte ihr viel Glück. Paulina sagte nichts aber dicke Tränen kullerten über ihre Wangen.

Diesmal fühlte es sich irgendwie etwas realer an und das Gefühl, sie im Stich zu lassen war nicht mehr ganz so groß. Zumindest für die ersten zwei Minuten. Dann waren wir wieder beim gleichen Punkt.

„Tobi…“ begann Heiko,

„Ja, ich weiß!“ antwortete ich, ehe er seine Frage stellen konnte, „es fühlt sich immer noch scheiße an!“

„Das gibt es doch nicht! Ich kann einfach nicht verstehen, wie sie so reagieren kann. Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Sie kann sich doch nicht einfach hinsetzen und gar nichts mehr tun! Das ganze hier ist doch kein Spiel.“

Wieder gingen wir zurück und versuchten noch einmal mit ihr zu sprechen und wieder kamen wir bei dem gleichen, niederschmetternden Ergebnis heraus. Einen kurzen Moment lang hatten wir das Gefühl, es würde sich etwas ändern. In Paulinas Gemüt gab es ein kurzes Flackern, so als wäre sie kurz davor, den Ernst der Lage zu begreifen und als würde ihr bewusst, dass sie sich dieses Mal nicht einfach tot stellen konnte. Genau in diesem Moment frischte der Wind auf und blies stark und kräftig in die Richtung, in die uns unser Weg führte. Es war, als würden ihr die Hüter dieses Platzes und der Elemente einen Schubs geben, damit sie es schaffte, aus ihrer Lithargie herauszukommen. Doch der Moment verstrich und nichts passierte. Paulina blieb weiter sitzen und begann wieder damit, sich zu rechtfertigen und uns vorzuwerfen, dass wir sie überhaupt nicht in unserer Gruppe haben wollten. Am Ende hatte uns Paulina so sehr zur Weißglut getrieben, dass Heiko erneut einen Schlussstrich zog. Ein weiteres Mal kehrten wir ihr den Rücken und gingen zu zweit weiter.

Doch auch dieses Mal brachten wir es nicht übers Herz, sie wirklich sitzen zu lassen. Nicht aus Mitleid, sondern vielmehr, weil uns bewusst wurde, dass wir uns schon wieder hatten an der Nase herumführen lassen. Denn Paulina verwendete gerade eine Taktik, die man als „Waffe des Opfers“ bezeichnen könnte und die vielleicht eine der mächtigsten Instrumente ist um andere Menschen zu kontrollieren. Die Rede ist von Schuld.

In unserer Gesellschaft ist es eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass man mit einem Opfer sympathisiert, einen Täter aber verurteilt. Wenn eine Frau von ihrem Mann geschlagen wird, dann ist die Frau damit automatisch ein armes, unschuldiges Opfer, während der Mann ein verabscheuungswürdiger Gewalttäter ist. Diese Rollenverteilung ist eine Art Dogma und man kann kaum etwas anderes darüber sagen, ohne dabei schief angesehen oder selbst verurteilt zu werden. Doch eine Sache ist niemals Schwarz-Weiß, außer es handelt sich dabei um einen Zebrastreifen. Denn nur, weil ein Mensch dem anderen körperlich überlegen ist, heißt das noch lange nicht, dass er auch die Kontrolle hat. Der Schläger kann anderen seinen Willen durch seine Gewalt und seine körperliche Stärke aufzwingen. Diese Methode funktioniert zwar, ist aber sehr offensichtlich und sehr leicht zu durchschauen. Wenn jemand das Spiel nicht mehr mitspielen will, dann ist es ihm ein leichtes, den Peiniger zu verlassen oder sich Hilfe zu holen, um ihn zu übermannen. Der Täter, der weiß, dass er den Gehorsam der anderen nur aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit erhält, lebt in einer ständigen Angst, diese zu verlieren oder aber in einem Moment der Unachtsamkeit überrascht und überrumpelt zu werden. Seine Methode der Machtausübung steht also auf sehr wackligen Beinen.

Wesentlich effizienter und geschickter ist die Methode des Opfers, die kaum zu durchschauen ist. Sie kontrolliert andere nicht mithilfe von körperlicher sondern von psychischer Gewalt und das in der Regel ohne dass dies vom Manipulierten bemerkt wird. Das wichtigste Instrument dabei ist die Schuld. Jeder von euch kennt sicher Menschen aus seinem Umfeld die gerne Sätze verwenden wie: „Geht nur ohne mich, ich komme schon alleine zurecht!“ „Mit mir kann man’s ja machen!“ „Für mich interessiert sich ja eh keiner!“ oder „Wen kümmert schon was ich denke?“ All diese Sätze dienen in der Regel dazu bei einem anderen ein Schuldgefühl auszulösen. Sie wecken Mitleid und man hat das Gefühl, nicht mehr frei und unbeschwert das tun zu können, was man eigentlich tun wollte, weil man plötzlich glaubt, den anderen zu verletzen oder im Stich zu lassen. In der amerikanischen Fernsehserie „Cougartown“ wurde diese Methode einmal sehr anschaulich beschrieben, als ein Mann, der offensichtlich von seiner Frau unterdrückt wurde, einem Jungen erklärte, wie man mit Frauen umgehen müsse. Er wusste, dass seine Frau bereits gereizt war, weil sie Probleme auf der Arbeit hatte und ließ deshalb ganz bewusst ein Paar Socken mitten im Wohnzimmer liegen.

„Bist du verrückt!“ hatte ihn der Junge gefragt: „So wie sie jetzt drauf ist, wird sie doch total sauer werden!“

„Ganz genau!“ antwortete der Mann und sagte dann in etwa folgendes: „Aber das ist ja der Trick dabei! Sie wird losschreien und keifen, doch bereits in dem Moment, in dem sie das tut, wird sie wissen, dass es übertrieben ist. Sie wird merken, dass sie mir die Wut entgegenbringt, die eigentlich für ihren Chef gedacht ist und das wird ihr nicht einmal dreißig Sekunden später leid tun. Sie wird sich dann den ganzen Tag lang schlecht fühlen, so lange, bis sie es wieder gutmachen konnte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Sex mir diese Strategie schon eingebracht hat!“

Das was hier in der Serie recht humorvoll parodiert wurde funktioniert jedoch wirklich und wird tagtäglich in hunderten von Haushalten angewandt. Viele unserer Handlungen, egal ob es sich dabei um Jammern, Nerven, Sticheln oder sogar um Geschenke oder um angeblich selbstloses Helfen handelt, dienen dazu, einen anderen in unsere Schuld zu bringen um so die Kontrolle zu gewinnen. Wirkliche Geschenke sind frei von jeder Erwartung. Das bedeutet, dass es dem Schenker, der aus vollen Herzen schenkt, absolut egal ist, was der Beschenkte mit der Gabe anstellt. Wenn dieser das Geschenk annimmt und sofort danach vor seinen Augen verbrennt, zerreißt oder in den Müll wirft, dann muss dem Verschenker das ebenso gleichgültig sein, wie wenn er damit eine bahnbrechende Entdeckung auf dem Gebiet der Wissenschaft macht für die er den Nobelpreis bekommt. Wirkliches Schenken ist ohne jede Erwartung und geschieht einfach nur, weil man eine andere Person bereichern will. Wie oft kommt diese Art des Schenkens eurer Meinung nach vor? Fast immer haben wir eine Absicht, die wir hinter der Geste des Verschenkend verbergen. Wir wollen Anerkennung, Lob oder wenigstens ein „Danke“ von dem anderen zurück haben. Bei Geburtstagsgeschenken oder Weihnachtsgeschenken wird in der Regel sogar erwartet, dass wir ein Geschenk in einem ähnlichen Wert zurückbekommen. Schenkt uns der andere nichts zurück, fühlt er sich meist schuldig und hat das Gefühl, dass die Beziehung nun nicht mehr ausgeglichen ist. Je größer der Wert eines sogenannten Geschenkes ist, desto größer ist in der Regel auch die damit verbundene Schuld, die ausgelöst wird. Der Vater einer alten Freundin hat ihr beispielsweise einmal ein Haus geschenkt, das sie eigentlich nicht haben wollte. Sie lebte in einer gemütlichen Wohnung und hatte bereits Pläne geschmiedet, wie sie ihre Zukunft mit ausschweifenden Reisen verbringen wollte und spielte sogar mit dem Gedanken, auszuwandern und ein kleines Geschäft irgendwo in der Karibik oder an einem anderen schönen Ort zu eröffnen. Wäre das Geschenk des Vaters wirklich ein Geschenk gewesen, so hätte es sie der Erfüllung ihrer Träume ein großes Stück näher gebracht. Sie hätte es vermieten oder verkaufen können und sich ihr neues Leben vom Erlös oder von den Mieteinnahmen finanzieren können. Doch es war kein reines Geschenk. Es war mit einer unmissverständlichen und starken Erwartungshaltung behaftet, über die zwar nie gesprochen wurde, die jedoch unübersehbar im Raum stand. Durch die Annahme dieses Hauses stand sie damit in der Schuld des Vaters und fühlte sich verpflichtet, in das für sie gebaute Haus einzuziehen, so dass sie all ihre Träume aufgab und begann ein Leben zu führen, dass nicht ihres, sondern das ihres Vaters war. Natürlich funktionierte das nur, weil sie das Schuldgefühl, das ihr Vater an sie aussendete auch annahm. Hätte sie zu sich gestanden und das unterbewusste Machtspiel erkannt, dann hätte sie das Haus trotzdem vermieten und ihrem Vater für die Hilfe bei ihren Plänen danken können. Er wäre dann wahrscheinlich sauer geworden und sicher auch schwer enttäuscht gewesen, aber das wäre dann seine Angelegenheit geworden. Zu ihrer wurde es nur, weil sie das Schuldgefühl annahm.

Fortsetzung folgt ...

Spruch des Tages: Du und ich: Wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen. (Mahatma Gandhi)

Höhenmeter: 330 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 11.272,27 km

Wetter: bewölkt und regnerisch

Etappenziel: Zeltplatz auf einer buckligen Wiese hinter einem Maisfeld, Bezovo, Mazedonien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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