Tag 638: Schuld als Waffe – Teil 3

von Heiko Gärtner
30.09.2015 03:41 Uhr

 Fortsetzung von Tag 637:

Ich weiß wovon ich spreche, ich habe ganze Blogeinträge nach diesem Muster geschrieben und mein Leid wochenlang gestreichelt um mir auf diese Weise Anerkennung und Liebe zu ergattern. Das Muster funktioniert relativ gut, was auch der Grund dafür ist, dass viele Menschen ihre Krankheiten streicheln und pflegen, als wären sie kleine, niedliche Haustiere. „Seht nur, wie krank ich bin! Ich kann gar nichts mehr alleine! Ihr müsst euch um mich kümmern! Ihr müsst jetzt ganz lieb zu mir sein und tun, was ich euch sage, denn ich bin ja so krank!“ Auf diese Weise kann man ganze Legionen von Eltern, Kindern, Enkeln, Freunden, Kollegen und Familienangehörigen dazu bewegen, genau nach seiner Pfeife zu tanzen. Auch Paulina hatte sich diese Strategie zu eigen gemacht und schaffte es dadurch immer wieder, dass wir uns für ihr Glück verantwortlich fühlten. Wenn sie schlecht drauf war, hatten auch wir häufig das Gefühl, dass wir nicht glücklich sein durften, weil das ihr gegenüber nicht fair war. Das alte Schuldprinzip hing noch immer in uns fest und wir gingen häufig damit in Resonanz. So auch dieses Mal. Ganz objektiv betrachtet war ein Herdenmitglied, dass die gesamte Gruppe in Gefahr brachte, weil es sich nicht entscheiden konnte, ob es dabei sein oder umdrehen wollte, nicht tragbar. Ihre Taktik, sich einfach auf den Boden zu setzen und zu schmollen brachte uns alle in eine schwierige Situation, die in einem Land wie Serbien ganz schön ins Auge gehen konnte. Außerdem war jeder selbst für sich verantwortlich und es war bereits bei unserem ersten Treffen in Spanien klar gewesen, dass es jederzeit zu einer Trennung kommen konnte, wenn das gemeinsame Reisen nicht mehr funktionierte. Rein objektiv sprach also nichts dagegen, einfach weiter zu gehen. Doch sie saß da, wie ein Haufen Elend und so einen Haufen konnte man doch nicht einfach zurück lassen, oder? Außerdem hatte sie bereits oft genug gezeigt, dass sie durch ihre Opferhaltung nur zu bereitwillig Täter anzog und wir wollten nicht dafür verantwortlich sein, wenn ihr etwas zustieß. Doch genau hierin lag der Punkt. Wir hatten bereits jetzt wieder das Gefühl, für Paulinas Leben verantwortlich zu sein und dafür Sorge tragen zu müssen, dass es ihr gut ging. Denn sie selbst konnte sich ganz offensichtlich nicht um ihr eigenes Wohlergehen kümmern. Also mussten wir das tun. Es wäre wohl das Mindeste, dafür zu sorgen, dass sie gut und sicher nach hause kam. Doch wie sollten wir das tun? In einem Land wie diesem war das unmöglich. Es konnte immer etwas passieren, egal ob wir ihr ein Hotel suchten, einen Bahnhof oder eine Gastfamilie. Selbst wenn wir sie in einen Bus setzten, der sie direkt bis nach Nürnberg bringen würde, gab es keine Garantie, dass sie dort auch ankam. Es war also vollkommen Paradox, diese Verantwortung über ihr Leben und ihr Wohl, dass sie an uns abgab, auch wirklich anzunehmen. Sie war die einzige, die für sich sorgen konnte, niemand sonst.

Gleichzeitig gab es aber noch ein weiteres Muster der Schuldzuweisung, das wir erst in diesem Moment durchschauten und das wohl das raffinierteste Muster eines Opfers ist. Es ist das gleiche System wie bei dem Mann, der seine Frau mit den Socken manipulierte. Man könnte es ein gezieltes Einsetzen von Reizreaktionen nennen.

Gehen wir noch einmal zurück zu dem Beispiel von dem Mann, der seine Frau schlägt. In unserer gesellschaftlichen Sicht der Situation haben wir es hier mit einem gefühlskalten Arschloch und einer sensiblen Frau zu tun, doch das ist so nicht ganz richtig. Denn auch der Mann hat Gefühle, Ängste und Verletzungen. Er schlägt seine Frau ja nicht einfach so, sondern aufgrund einer Reizreaktion, die mit einer unbewältigten Aggression verbunden ist. Jegliche Form der Gewalt ist auf Angst aufgebaut. Wir schlagen deshalb, weil wir Angst haben, verletzt zu werden und weil wir glauben, dass wir diese Gefahr umgehen können, wenn wir als erster angreifen. Der Schläger trägt also verschiedene Ängste in sich, die er nicht annehmen und auflösen kann und wurde außerdem durch irgendetwas so verletzt, dass sich eine Menge Wut und Aggression in ihm angestaut haben. Es benötigt daher ein Opfer, um diese Aggression loszuwerden. Er weiß jedoch auch, dass diese Aggression nichts oder nur wenig mit seiner Frau zu tun hat und dass diese lediglich als Druckluftventil hinhalten muss, weil er keinen anderen Weg sieht. Jedes Mal, wenn er Schlägt, baut er daher ein neues Schuldgefühl auf, das er irgendwie wieder kompensieren muss. In vielen Fällen wird er versuchen, es in Alkohol zu ertränken, doch das wird nicht funktionieren. Daher setzt er alles daran, es wieder gut zu machen und seiner Frau einen Ausgleich zu verschaffen. Er ist in anderen Situationen besonders Nett zu ihr, überhäuft sie mit Geschenken, umsorgt sie, gelobt ihr Besserung und so weiter. Auf diese Weise entsteht eine Art Achterbahnfahrt zwischen Schuldaufbau und Schuldabbau. Dies ist auch einer der Gründe, warum sich viele Frauen nicht von ihren gewalttätigen Männern trennen können. Denn sie wissen ja, dass er es eigentlich nicht so meint. Im Grunde ist er doch ein herzensguter Kerl. Es entsteht also eine Art Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Mann die Frau als Wutableiter und die Frau den Mann als Anerkennungsdienstleister missbraucht. Doch ich möchte an dieser Stelle auf einen ganz speziellen Punkt in dieser Beziehung hinaus. Nämlich darauf, dass die Frau, obwohl sie Opfer ist, nicht zwangsläufig die unterlegene sein muss. Denn wenn sie ihren Mann kennt, dann durchschaut sie auch das Muster, mit dem er aggressiv und gewalttätig wird. Das muss kein bewusstes Erkennen sein, sondern kann ganz subtil ablaufen, ohne dass sie es selbst merkt. Aber sie wird unterbewusst darauf reagieren. Und wenn sie das tut, dann kann sie es auch steuern, indem sie ganz gezielt Verhaltensweisen annimmt, die den Mann je nach bedarf entweder besänftigen oder seine Gewaltausbrüche auslösen, um die Schuld in ihm zu vergrößern. Dadurch kann sie ihn unter Umständen sogar besser und gezielter kontrollieren als er sie.

Das ganze findet natürlich auf einer unterbewussten Ebene statt und so lange sich keiner der beiden dieser Mechanismen bewusst wird, können sie auch nicht durchbrochen werden. Selbst, wenn sich die Frau trennt und sich einen neuen Mann sucht, wird sie wahrscheinlich wieder im gleichen System landen, solange, bis sie es auflöst. Keiner von beiden kann in einem solchen System glücklich oder zufrieden werden, aber beide halten sich in einer gewissen Abhängigkeit von einander, so dass jeder das bekommt, was er zu brauchen glaubt. Der Täter ist davon überzeugt, dass er seine Frau bei Laune hält, weil er Angst hat, seinen Aggressionsableiter zu verlieren, den er aber dringend braucht. Gleichzeitig braucht er aber auch Liebe und Anerkennung, die er sich ebenfalls von ihr holen muss. Er weiß, dass er kein liebevoller Mensch ist und muss so fürchten, keine neue Frau mehr zu bekommen, wenn diese ihn verlässt. Daher versucht er alles, um sie an sich zu ketten, ohne zu merken, dass er in Wirklichkeit wie ein Junkie von ihr abhängig ist, und nicht aufgrund von Liebe sondern aus den Schuldgefühlen heraus handelt. Sie hingegen ist ebenfalls abhängig von der Anerkennung, die sie sich mit dem Schuldaufbau erschleicht. Sie benötigt das Gefühl, ein Armes Opfer zu sein und sich in ihrem Leid suhlen zu dürfen, damit sie sich bemitleiden und der Welt die Schuld an ihrem Leben geben kann. Eine Frau, die dieses Bedürfnis nicht hat würde, den Mann wahrscheinlich nach dem ersten Zwischenfall vor die Tür setzen oder ihm zumindest eine Anti-Aggressionstherapie verpassen.

Im Fall von Paulina, Heiko und mir ging es dabei natürlich nicht um Gewalttätigkeiten, aber das zugrundeliegende Prinzip war das selbe. Paulina hatte Angst vor der Entscheidung und suchte nach einem Ausweg, der sie vor den Konsequenzen bewahren konnte. Wenn sie weiter mit uns mit ging und sich den Herausforderungen stellte, die ihr auf dem Weg zu ihrem eigenen Sein entgegen winkten, dann bestand die Gefahr, dass sie scheiterte. Sie musste sich zeigen und musste zu ihren Schwächen stehen, auch wenn sie dann vielleicht von ihrer Familie verstoßen wurde. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Gleichzeitig war ihr aber auch vollkommen bewusst, dass sie es sich selbst niemals vergeben konnte, wenn sie sich gegen das Leben entschied, von dem sie wusste, dass es ihr Leben war. Sie würde zurück in den Käfig gehen, aus dem sie gerade ausgebrochen war und von dem sie wusste, dass sie nicht mehr dorthin zurück wollte. Wie könnte sie je wieder in den Spiegel schauen, wenn sie wusste, dass sie sich selbst die größte Chance ihres Lebens verbaut hatte, nur weil sie Angst davor hatte, was andere über sie denken könnten? Das war unmöglich! Also brauchte sie eine andere Lösung. Eine Lösung, mit der sie ihr Scheitern vor sich selbst rechtfertigen konnte, ohne deshalb ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und das ging am besten, wenn sie die Entscheidung nicht selbst traf, sondern sie an andre abgab. Doch wir hatten bereits mehr als deutlich gemacht, dass wir für alles offen waren und dass wir ihr die Verantwortung nicht abnehmen würden. Es war ihre Entscheidung, ganz allein ihre.

Wie also konnte sie es schaffen, dass wir das Problem dennoch für sie lösten, auch wenn wir es eigentlich nicht wollten? Ganz einfach: Sie musste es schaffen, dass wir sie aus der Gruppe verstießen, in dem sie sich auf eine Art und Weise verhielt, die für uns untragbar war. Und genau das hatte sie getan. Es war ihr nicht bewusst gewesen und sie hatte es auch nicht tun wollen, doch sie hatte im letzten Gespräch, wie auch in vielen anderen Gesprächen zuvor genau die Punkte getroffen, die Heiko zum Explodieren brachten, so dass er keine Lust mehr hatte, sie noch länger bei sich zu haben. Bei mir war es etwas komplexer, mich dazu zu bringen, sie verstoßen zu wollen, weil ich viele ihrer Themen noch weitaus direkter aus eigener Erfahrung kannte und noch genau wusste, wie ekelhaft ich dabei gewesen war. Für mich musste sie daher den Eindruck erwecken, dass die Harmonie in der Gruppe dauerhaft gestört bleiben und dass sie nie etwas daran ändern würde, so dass ich die Hoffnung verlor. Dies in Kombination mit den gezielten Explosions-Knöpfen von Heiko hatte dazu geführt, dass wir ihr die Entscheidung am Ende doch abgenommen hatten. „Wenn du nicht willst, dann lass es halt! So geht es nicht weiter, denn mit dieser Unentschlossenheit machst du uns Krank! Geh heim und wir gehen unseren Weg alleine!“

Mit diesen Worten hatten wir uns getrennt. Doch nun, wenige Meter weiter wurde uns klar, dass diese Entscheidung nichts mit einer Herzensentscheidung zu tun hatte. Wir haben uns nicht getrennt, weil es sich richtig angefühlt hatte, sondern weil wir die Situation, so wie sie war einfach nicht mehr ausgehalten hatten. Und es funktionierte. Wir fühlten uns schuldig und hatten wieder das Gefühl, sie im Stich zu lassen.

„Das kann doch nicht sein!“ meinte Heiko als wir darüber sprachen, „Es geht doch nicht, dass wir schon wieder die Bösen sind und sie das arme, unschuldige Opferlamm, das von ihren treulosen Freunden einfach so ausgesetzt wird. Wenn sie gehen will, dann soll sie diese Entscheidung treffen und sie nicht wieder auf uns abwälzen. Das seh ich nicht ein!“

Wir kehrten also noch einmal zurück und sprachen erneut mit ihr. Wieder gab es kein befriedigendes Ergebnis und wieder standen wir an dem Punkt, dass Paulina einfach weder Ja noch Nein sagen konnte, weil sie Angst vor jeder möglichen Konsequenz hatte. So kamen wir nicht weiter und langsam gingen uns die Ideen aus, wie wir uns überhaupt je aus dieser Situation befreien sollten. Gemeinsam weitergehen schien an diesem Punkt unmöglich zu sein, denn ohne eine Entscheidung, ob sie wirklich mit dabei sein wollte, waren permanente Kleinkriege vorprogrammiert. Sitzen lassen konnten wir sie aber auch nicht, denn es war einfach zu offensichtlich, dass sie dies nicht vom Herzen her wollte, sondern nur als Fluchtweg verwendete, um sich ihrer Angst nicht stellen zu müssen. Wir konnten ihr die Entscheidung nicht abnehmen. Sie musste alleine dort durch.

Aber sie konnte nicht.

Oder wollte nicht.

Oder traute sich nicht.

Oder was auch immer.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Irgendwie drehen wir uns schon wieder nur im Kreis...

Höhenmeter: 270 m

Tagesetappe: 29 km

Gesamtstrecke: 11.322,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Hotel Villa Dea, Kej Macedonia 40, Ohrid, info@deatours.com.mk, Mazedonien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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