Tag 672: Frühe Pläne – Teil 2

von Heiko Gärtner
04.11.2015 22:25 Uhr

Fortsetzung von Tag 671:

Doch wie der Titel bereits vermuten ließ, waren Paulinas Knackpunkte nicht die einzigen auf der Liste. Wir waren uns damals genauso auch über unsere eigenen Themen bewusst. So enthielt das Dokument auch alle Kernpunkte, mit denen wir letztlich unseren Teil dazu beigetragen haben, das gemeinsame Herdenleben wieder zu beenden.

Da war zum einen der Wunsch, ein Heilsbringer zu sein. Wir wollten gerne die Welt retten und damit auch möglichst jeden Menschen, der uns etwas bedeutet. Doch die Welt muss nicht gerettet werden und auch sonst braucht es keinen Heiland, der die Lösung für die Probleme anderer hat. Der einzige Erfolg, den man erzielen kann, wenn man versucht, andere zu ihrem Glück zu zwingen ist der, dass man sich dabei von sich selbst entfernt. Seit Paulina bei uns war, stellten wir ihre Lebensthemen in den Mittelpunkt und unsere eigenen dafür zurück. Klar war das bei mir oft das selbe, da Paulinas Themen fast immer auch meine waren und durch ihre Anwesenheit konnte ich gleichzeitig auch sehr viel über mich lernen. Doch darum ging es nicht. Es ging darum, dass sich das Gleichgewicht verschoben hatte, in eine Richtung, die keinem von uns gut tat. Für Paulina wurde es zu viel, während wir uns selbst zu sehr zurücknahmen und dabei vergaßen, dass es nicht nur um ihre, sondern auch um unsere eigene Heilung ging.

Damit in direkter Verbindung stand gleich der zweite Kernpunkt. Unsere eigene, tiefsitzende Ungeduld. Wir konnten es nicht abwarten, dass Paulina ihren Weg selbst findet und wollten sie nach vorne puschen aus Angst, sie würde es ohne uns nicht schaffen. Doch Gras wächst nicht schneller, bloß weil man daran zieht. Alles hat seine Geschwindigkeit und diese Geschwindigkeit ist genau richtig. Wenn etwas seine Zeit braucht, dann braucht es sie und es hilft nichts, wenn man drängelt. Wir jedoch waren ein bisschen wie Homer Simpson, der hinten in einer Schlange im Supermarkt steht, weiß dass er nun ewig warten muss und daher überlegt, ob es vielleicht schneller geht, wenn er genervte „Ohhh“- und „Mhhhpf“-Geräusche macht. Es viel uns schwer abzuwarten und in den Prozess zu vertrauen. Uns fehlte es an Gelassenheit und innerer Ruhe. Moment, hatten wir das nicht schon einmal irgendwo gehört? Richtig! Bei uns selbst! Denn auch hier ging es eigentlich nicht um Paulina. So wie wir die Stellvertreter für ihre eigene Lebensgeschichte wurden, die sie für sich selbst schrieb, wurde sie auch zu einer Stellvertreterin in unseren Lebensgeschichten. Heiko hatte den Glaubenssatz im Kopf, dass er sich wandeln könnte, wenn es nur seine Partnerin vor ihm tat. Ich hingegen sah in Paulina eine Art Ebenbild und wollte daher verzweifelt sehen, dass sie Fortschritte macht, damit ich auch an meinen eigenen Fortschritt glauben konnte. So versuchten wir ihr Dinge verständlich zu machen um ihr Vorankommen zu beschleunigen, weil wir es bei uns selbst nicht abwarten konnten weiterzukommen. Wir waren letztlich nicht ungeduldig mit ihr, sondern mit uns selbst. Sie war nur der Spiegel, der uns diese Ungeduld zeigte. Gleichzeitig viel es uns schwer, auf die Schöpfung zu vertrauen. Wir waren wie zwei kleine Kinder, die glaubten, die Aufgabe ihrer Eltern übernehmen zu müssen, weil diese sicher überfordert waren. Doch das waren sie nicht. Vor allem nicht in diesem Fall, denn es ging hier ja nicht um menschliche Eltern, sondern um Mutter Erde und Vater Universum höchst persönlich. Wir glaubten, dass es unsere Aufgabe war, Paulina auf ihrem Weg voranzutreiben, weil wir nicht in die Schöpfung vertrauten. Oder zumindest nicht ausreichend.

Die Zeit heilt alles. Wenn es Paulinas Weg war, eine Wandlung zu durchleben und ein menschlicher Schmetterling zu werden, dann würde sie diesen Weg auch gehen. Ganz gleich was wir taten. Wenn er es nicht war, dann konnten wir auch nichts daran ändern. Schon gar nicht aber konnten wir den Lauf der Dinge beschleunigen, nur weil wir selbst nicht die nötige Geduld und Gelassenheit aufbringen konnten.

Auch der dritte Knackpunkt hing direkt mit den anderen beiden zusammen und ich erkenne mich heute vielleicht mehr darin wieder als je zuvor:

„Wir können es nicht verstehen, wenn jemand anderes nicht verstehen will und wir können es auch nicht annehmen.“

Das stimmte. Es machte uns wahnsinnig, wenn wir Paulina einen Sachverhalt erklärten, den sie nicht verstehen wollte oder konnte. Warum eigentlich? Ging es bei diesen Erklärungen wirklich um sie? Kaum, denn es war uns ja vollkommen klar, dass jeder Mensch immer nur das hören und verstehen kann, zudem er auch bereit ist. Wenn man ein gutes Buch zu verschiedenen Zeiten seines Lebens immer und immer wieder liest, wird man jedes Mal neue Aspekte darin erkennen und Verstehen, die einem bislang nie aufgefallen sind. Und das obwohl sich die Worte auf den Seite nicht im Geringsten verändern. Doch jedes Mal wenn man es liest, liest man es mit einer anderen Präsenz, mit einer anderen Aufmerksamkeit und anderem Vorwissen. Auf keinen Fall aber versteht man es genau so, wie der Autor es verstanden hat, als er es schrieb. Treibt es einen Autor aber in den Wahnsinn, wenn er sich bewusst macht, dass jeder Leser in seinem Buch etwas anderes sieht als er selbst? Dass viele es vielleicht sofort wieder vergessen oder dass sie möglicherweise überhaupt nichts verstehen? Nein. Denn er schreibt nicht für jeden einzelnen Leser, sondern für sich selbst. Er schreibt das, was er ausdrücken will. Warum aber ist es so ein Unterschied, wenn man etwas direkt erklärt, ohne den Umweg über das Buch? Weil man ein direktes Feedback zurück bekommt und sofort erkennt, wenn etwas nicht verstanden wurde. Und das machte uns wahnsinnig. Nicht die Frage, ob Paulina etwas verstand oder nicht, sondern die Tatsache, dass wir es sofort erkannten und daraus schlossen, dass unsere Erklärung nicht gut genug gewesen ist. Wir konnten nicht akzeptieren, dass sie möglicherweise gerade an einem ganz anderen Punkt stand und daher nur Bruchteile unserer Erklärungen aufnehmen konnte. Die Bruchteile, die zu ihrem Stand der Dinge passten und mit denen sie tatsächlich etwas anfangen konnte. Der Rest war für sie nur Ballast, für den es gerade keinen Verwendungszweck gab. Doch das wollten wir so nicht hinnehmen.

Und aus all diesen Punkten zusammen resultierte letztlich der vierte Knackpunkt, der uns damals ebenso belastete, wie er es auch heute noch tut. Bei Paulina konnten wir stets beobachten, wie sie sich in der Zeit verstrickte und am Ende nicht zu dem kam, zu dem sie eigentlich kommen wollte. Genau das gleiche traf auch auf uns zu. Wir waren so damit beschäftigt uns zu fragen, wie wir anderen helfen konnten, dass wir dadurch unsere eigenen Bedürfnisse hinten anstellten. Viele unserer positiven Routinen gingen verloren, obwohl wir sie mit Paulinas Ankunft ganz bewusst noch einmal in den Mittelpunkt gestellt hatten. Und heute, wo ich diesen Text hier schreibe, knapp zwei Monate nach Paulinas Verschwinden, geht es mir noch immer nicht anders. Sogar unsere Entgiftungsmedikamente haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr genommen. Von Aufbautraining, Workouts und Meditationen ganz zu schweigen.

Als letztes stießen wir noch auf ein weiteres Dokument, das nicht alt sondern ganz neu war und das wir anders als die anderen noch nie zuvor gesehen hatten. Paulina hatte es vor ein paar Tagen auf unserem iPad geschrieben, weil ihr Computer keinen Strom mehr hatte. Darin hatte sie sich nach dem Fastentag in Serbien selbst reflektiert und zwar noch deutlich schonungsloser als wir es getan hatten. Sie hatte sich in ihre Kindheit zurückversetzt und dabei wichtige Kernursachen für ihre Esssucht und ihre Zuckersucht herausgefunden. Ihr war klar geworden, dass sie mit Nahrungsmangel automatisch einen direkten Energiemangel verband, der bei ihr zu Gereiztheit, Nervosität und Unkonzentriertheit aber auch zu Kraftlosigkeit und Lustlosigkeit führte. Ihr war bewusst geworden, dass ihre Verhungerungsangst einer der Kernschlüssel für ihre Energielosigkeit auf der einen und ihre Esssucht auf der anderen Seite war. Der Text war so offen und gleichzeitig so erfrischend geschrieben, dass wir uns nicht erklären konnten, warum sie ihn nicht gezeigt hat und warum sie nicht wollte, dass er veröffentlicht wird. Klar enthielt er viele persönliche Aspekte, aber nichts, was nicht jeder Mensch gut nachvollziehen konnte und zu großen Teilen auch von sich selbst kannte.

Sie beschrieb den inneren Konflikt, den sie austrug, als sie an dem Tag nach ihrem Obstfasten den steilen Berg hinauf ging und eine Schachtel mit Honigwürfeln auf dem Wagen dabei hatte. Heiko hatte ihr aufgetragen, sie mitzunehmen um herauszufinden, ob sie der Sucht auch widerstehen konnte, wenn sie eine Versuchung in greifbarer Nähe hatte. Wie ich es damals vermutet hatte, entwickelten die Zuckerwürfel ein Eigenleben und drängten sich immer tiefer in ihr Bewusstsein, bis sie schließlich nachgab und einen aß. Sofort kam ein Gefühl der Befriedigung in ihr auf, das sich jedoch mit einem Schamgefühl vermischte, weil sie versagt hatte beim Versuch, der Versuchung zu widerstehen. Der Suchtfaktor war jedoch so hoch, dass sie noch zwei weitere Würfel in sich hineinstopfte ohne es richtig zu registrieren. Erst beim dritten schmeckte sie genau hin und nahm ihn bewusst war, so dass ihr klar wurde, was sie da eigentlich aß. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie das geleeartige Zuckerzeug überhaupt nicht mochte, ja dass sie es sogar als ekelhaft empfang. Dies war der Moment, in dem ihr klar wurde, wie stark ihre Zuckersucht wirklich war. Und mit dieser Bewusstwerdung explodierte auch ihre Selbstverurteilung. Sie schämte sich für sich selbst und hasste sich dafür, dieser Sucht zu unterliegen. Der Sucht und all den anderen Themen auf die sie in der letzten Zeit aufmerksam geworden war. Bereits an diesem Tag überlegte sie ernsthaft davonzulaufen und verwarf die Idee in erster Linie deshalb, weil sie nicht wusste, wohin sie hätte laufen sollen. Bei der Reflexion wurde ihr jedoch auch bewusst, dass sie gar nicht hätte fliehen können, weil sie die Lebensthemen ja immer mit sich trug. Ohne uns und irgendwo an einem anderen Ort auf dieser Welt würden ihr genau die gleichen Dinge, Themen, Süchte und Probleme begegnen.

Den gesamten aufstieg auf den Berg befand sie sich dann in einem permanenten Gedankenkrieg zwischen dem unaufhörlichen Wunsch nach Süßigkeiten und der Selbstverurteilung darüber, diese Gedanken nicht loslassen zu können. Natürlich war ihr bewusst, dass das nicht hilfreich war und doch konnte sie nichts dagegen tun.

Wir mussten schmunzeln, als wir das lasen, war uns diese Gedankenspirale doch nur allzu gut bekannt. Das einzige, was uns auch hier wieder irritierte war der letzte Satz. Er bestand nur aus zwei Worten: „Scheiß Berg!“

Wirklich?

Nach allem was sie gerade verstanden hatte, war das Resultat, das sie daraus zog, dass der Berg an allem Schuld war?

Ein bisschen hatten wir das Gefühl, als wären diese wenigen Zeilen eine Art Abbild des ganzen Prozesses in den wir uns gemeinsam begeben hatten. Es waren immer wieder Situationen aufgetaucht, in denen wir vor große Herausforderungen gestellt wurden, durch die wir aber am Ende viel über uns selbst lernen konnten. Doch in der letzten Konsequenz hatte Paulina nach diesen Erkenntnissen dann doch wieder zugemacht und alles auf eine Schuldzuweisung reduziert, die es ihr erlaubte, sich nicht weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Machten wir das genauso? Sicher kam es nicht selten vor, denn warum sonst sollte sie uns das Prinzip so deutlich vor Augen führen?

Nach der Sichtung der Dokumente aus dem letzten Jahr konnte man beim besten Willen nicht behaupten, wir drei hätten nicht gewusst, worauf wir uns da einließen. Wir wussten es ganz genau und hatten eine feste Vorstellung von dem, was auf uns zukommen würde. Wir wussten, dass es dicke Steine gab, die im Weg lagen und die beiseite geräumt werden mussten. Auf Paulinas Seite ebenso wie auf unserer. Und doch, ja gerade deswegen hatten wir uns ganz bewusst dafür entschieden das Abenteuer „Ice-Age-Herde“ zu wagen um zu sehen, was dabei herauskommt.

Der Text, den Paulina in Serbien geschrieben hatte verriet nun außerdem, dass sie von dem, was es zu verstehen gab, sehr viel verstanden hatte und dass wir viele der Steine auf dem Weg beträchtlich ins Rollen gebracht hatten. Und doch standen wir nun da, wo wir jetzt standen.

Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, dann sprechen wir oft davon, dass sie gescheitert wäre. War also auch unser Herdenleben gescheitert, nur weil es vorbei war?

So wie Paulina auf ihrem Weg den Berg hinauf, hatten nun auch wir verschiedene Stimmen in unserem Kopf, die wild gegeneinander sprachen. Einige davon waren überzeugt, dass die ganze Geschichte ein reiner Schmarn war und dass wir uns nie darauf hätten einlassen dürfen. Andere waren der Meinung, dass wir gescheitert waren, weil wir die Sache falsch angegangen waren und dass wir uns dadurch allen eine große Chance verbaut hatten. Irgendwo schluchzte eine Stimme tiefer Trauer, die einfach nicht begreifen konnte, wieso es so enden musste, wo doch so viel Potential dagewesen war. So viele Steine waren aus dem Weg geräumt worden und so viele Mauern überwunden. Und jetzt sollte doch alles umsonst gewesen sein? Der innere Richter versuchte währenddessen abzuwägen, ob es Paulinas oder unsere eigene Schuld war, dass das Projekt Herdenleben letztlich gescheitert war, während die Stimme der Selbstheilung empört war, dass wir nicht schon viel früher wieder für Harmonie gesorgt hatten. Kurz, es herrschte ein inneres Chaos, das uns noch lange wach hielt und uns aufwühlte wie einen Ozean bei einem Tornado.

Vom Herzen her wussten wir, dass all diese gedankenstimmen Quatsch waren. Alles war so richtig wie es war und wenn wir bis heute einen gemeinsamen Weg gegangen waren um uns genau hier zu trennen, dann war genau dies absolut richtig. Schuld gab es nicht, weshalb auch die Gedanken hierrüber hinfällig waren.

Unser Herdenleben war ja nicht gescheitert. Wir hatten es erfolgreich beendet und viel dabei gelernt. Es gab so viel, für das wir Paulina dankbar waren und das wir ohne sie niemals erkannt hätten. Es war eine reiche Zeit und wir wussten, dass wir sie niemals missen wollen würden. Doch die Stimme unserer Herzen war in diesem Moment noch so zaghaft und leise, dass sie zwischen den anderen immer wieder unterging. Die Dankbarkeit wurde vom Ärger über unerfüllte Erwartungshaltungen überlagert und verdeckt. Das Vertrauen darin, dass alles seine Richtigkeit hatte und dass sowohl wir als auch Paulina unsere Wege finden würden, ja bereits gefunden hatten und längst darauf gingen, war kaum spürbar unter den Ängsten, Sorgen und Zweifeln. Es wurde eine Nacht voller Was-wäre-Wenn-Gedanken und jeder Mensch weiß, dass diese Gedanken niemandem helfen. Doch sie waren da und auch sie hatten ihre Berechtigung. Jede Stimme in unserem Selbst hat etwas wichtiges zu sagen und wird erst verstummen, wenn wir ihr auch zugehört haben. Oder wenn wir irgendwann so müde werden, dass wir einfach darüber einschlafen.

 

Spruch des Tages: Wenn alles genau so richtig ist, wie es ist, warum fühlt es sich dann manchmal so falsch an?

Höhenmeter: 56 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 11.982,27 km

Wetter: sonnig und herbstlich warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 74023 Grottaglie, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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