Tag 714: Die Fahrt beginnt

von Heiko Gärtner
21.12.2015 02:38 Uhr

Fortsetzung von Tag 713:

Vom Schalter aus sollten wir mit samt unseren Wagen eine Sicherheitsschleuse durchqueren, die ähnlich aussah, wie die auf einem Flughafen. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass man durch den Metallscanner gehen konnte, ohne dass dieser auf irgendetwas reagierte. Selbst dann, wenn man einen Pilgerwagen hinter sich herzog, der fast vollständig aus Aluminium und Edelstahl bestand. Wofür diese Sicherheitsschleuse also diente, blieb uns ein Rätsel. Vor allem, weil jeder, der nicht zu Fuß übersetzte, mit seinem Auto außen um das Gebäude herumfahren musste, wo es keine Sicherheitsschleusen gab. Also selbst wenn sie reagiert hätte, hätte jeder Autofahrer alles auf die Fähre schmuggeln können, was er wollte.

Hinter der Sicherheitsschleuse befand sich ein weiterer Warteraum mit einer einzigen Ausgangstür, die von mehreren Security-Kräften bewacht wurde. Hier mussten wir das erste Mal unsere neuerworbenen Tickets vorzeigen und durften dann hinaus ins freie treten.

„Verdammt!" rief ich, als die Tür hinter uns zufiel, „Ich wollte doch eigentlich noch schnell aufs Klo gehen!"

„Macht nichts!" meinte Heiko tröstend, „Du kannst ja gleich auf der Fähre gehen."

Wir überquerten den riesigen Platz, der zwischen dem Hafengebäude und dem Meer lag. Die Frau von der Security hatte uns gesagt, dass wir zum Pier Nummer vier müssten. Die entsprechende Markierung fanden wir schnell, aber eine Fähre entdeckten wir nicht. Das Meer vor uns war leer. Dafür war der Parkplatz gerammelt voll. Überall standen LKWs und Kleinbusse, jedoch kein einziger Campervan. Soviel also zu unseren Holländischen Camping-Touristen. Die mussten alle eine andere Fähre genommen haben.

„Das packe ich nie, bis die Fähre kommt!" kommentierte ich den Zustand meiner Blase und kehrte noch einmal zum Hafengebäude zurück. Vor der Tür stand ein Wachmann in einer militärartigen Uniform mit einem dicken Joint im Mund. Ich beschrieb ihm meine Situation und er ließ mich herein. Da die Schiebetür jedoch nur innen einen Sensor zum Öffnen hatte, schob er sie ein Stück mit den Händen auf und trat dann mit einem Fuß durch den Spalt. Er wedelte damit so lange in der Luft herum, bis er den Sensor auslöste und die Tür sich öffnete. Dann wies er mich an einzutreten.

Pünktlich um 1:30Uhr erschien die Fähre im Blickfeld des Hafens. Um diese Zeit hätte sie eigentlich ablegen sollen und wir fragten uns tatsächlich, wie sie es schaffen wollte, das Ent- und Beladen innerhalb von nur einer Minute durchzuziehen. Die Antwort war einfach. Gar nicht.

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Plötzlich war der ganze Platz voller Menschen. Sie quollen aus den Kleinbussen wie Bauschaum aus einem frisch verbauten Türrahmen und drängten immer weiter an die Anlegestelle der Fähre heran. Die Wachleute hatten allerhand zu tun, um sie zurückzuhalten. Wenn sie die Menschen gelassen hätten, dann wären sie wahrscheinlich einfach ins Hafenbecken gesprungen, um noch näher an der Fähre zu sein, die noch nicht einmal angelandet hatte. Holländer waren es auf keinen Fall, aber auch nach griechischen Landsleuten sahen sie nicht aus. Viele trugen Decken und Kissen in den Händen und alles in allem wirkte es wie eine riesige Flüchtlingskolonne. Immer mal wieder schnappten wir ein paar Worte auf, die sehr nach albanisch klangen. Ein Blick auf die Kennzeichen bestätigte die Vermutung. Fast alle Kleinbusse stammten aus Albanien, Mazedonien, Serbien und dem Kosovo. Was wollten diese Menschen nur alle in Italien? So wie sie ausgerüstet waren, mit all den Kissen, Matten und dem ganzen Zeug, konnten wir uns nur zwei mögliche Szenarien vorstellen. Entweder sie hatten wirklich alles bei sich, was sie besaßen und diese ganze Fährengeschichte war absolut neu für sie, oder aber sie hatten schon sehr oft übergesetzt und wussten genau, was auf sie zukam. Waren es wirklich Flüchtlinge? Aber wovor flohen sie? Wir hatten ihre Heimatländer durchwandert und auch wenn vieles dort nicht gerade ideal war, gab es trotzdem keinen Grund, in solchen Mengen davonzulaufen. Denn heute war ja kein besonderer Tag, sondern ein stinknormaler. Es war also davon auszugehen, dass es gestern und vorgestern hier genauso zugegangen war und dass man auch morgen wieder das gleiche Schauspiel beobachten konnte. Die andere und wahrscheinlicher Erklärung war daher, dass die Menschen nicht vor etwas weg, sondern zu etwas hinliefen. Waren die Familien, die hier übersetzten also vielleicht diejenigen, die sich in Italien um die Orangen- und Olivenernte kümmerten? Dass in Mittel- und Südeuropa vor allem in der Landwirtschaft viele Menschen gebraucht wurden, die unter sklavenartigen Bedingungen unser Obst und Gemüse von den Feldern sammelten, war uns ja nicht neu. Es war also denkbar, dass wir nicht auf einem Flüchtlingsschiff, sondern auf einem modernen Sklaventransporter gelandet waren. Eine Vermutung, die sich einige Wochen später übrigens wirklich bestätigen sollte.

Heiko und ich, die sich vor dem Auftauchen dieser Menschenmassen vor die Autoschlangen gestellt hatten, standen nun ganz vorne in der Meute. Die Wachleute freuten sich ein bisschen über unsere Wagen, die eine Art natürliche Barriere darstellten und ihnen die Arbeit somit ein bisschen erleichterten. Zumindest in den ersten Minuten, denn lange wurden sie davon nicht aufgehalten. Wie eine Welle zähflüssiger Lava quoll die Menge langsam aber unaufhaltsam immer weiter vor.

Die Fähre hatte den Pier nun erreicht und machte an den großen Stahlpfosten fest, die im Hafenboden verankert waren. Ein Mann warf einem Hafenarbeiter eine dünne Schnur vom Boot aus zu, an der anschließend ein beeindruckend dickes Tau hinübergezogen wurde. Dann öffnete sich langsam die Ladeluke und senkte sich schwer auf den Boden herab. Der Blick ins Innere des Schiffes wurde frei und man konnte die ersten LKWs sehen, die nun langsam von Bord rollten. Jedes Mal, wenn sie von der Rampe auf den Boden fuhren gab es ein lautes, metallenes Scheppern. Am liebsten hätten wir uns ein Stück zurückgezogen, um nicht ganz so direkt neben diesem Spektakel zu stehen, doch die Menschenmasse verhinderte es. Warum wollten sie nur alle so schnell nach vorne? Hier war es nicht schön und voran ging es auch nicht.

Ein LKW nach dem nächsten rollte vom Schiff herunter. Am Anfang dachten wir uns nichts dabei, denn es war ja immerhin eine Fähre. Doch als nach einer halben Stunde Dauerentladung noch immer LKWs nachkamen verlor die Sache langsam an Glaubwürdigkeit.

„Das ist doch ein Trick!" rief ich verwirrt, „die fahren doch alle heimlich von der anderen Seite wieder drauf!"

So groß war dieses Schiff nicht, wo hatten sie all diese Trucks also untergebracht? Heiko hatte die Fahrzeuge im Kopf überschlagen und war auf vier PKWs und weit mehr als hundert LKWs gekommen, die das Schiff bislang verlassen hatten. Und noch immer folgten weitere. Schon vor mehr als zehn Minuten war der Müllwagen in den Bauch des Schiffes gefahren, was für uns ein eindeutiges Zeichen für das Ende des Entladens war, doch die Schlange nahm und nahm kein Ende.

Die Meute der potentiellen Arbeitssklaven wurde immer unruhiger und drängte sich von Minute zu Minute weiter vor. Machtlos stemmten sich die Sicherheitsbeamten dagegen. Sie schafften es gerade, die Einwanderer davon abzuhalten, direkt vor die fahrenden LKWs zu stürmen.

Dann war es soweit. Der letzte LKW rollte von der Rampe und das Sicherheitspersonal öffnete den Steg für die Fußgänger. Hätten wir unsere Wagen nicht gehabt, wären wir einfach gnadenlos überrannt worden. Hunderte von Menschen stürmten mit einem Schlag auf die Fähre, ohne Rücksicht auf Verluste. Kein einziger Mensch hatte das Schiff zu Fuß verlassen, doch hunderte wollten nun an Bord.

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Die Fußgängerrampe wurde streng bewacht und die Security ließ immer nur eine Handvoll Menschen passieren. Am oberen Ende stand dann ein einzelner Mann, der von jedem Passagier das Ticket kontrollierte. Auf diese Weise dauerte das Boarding endlos. Wäre die Traube vor der Rampe eine echte Traube und keine aus Menschen gewesen, dann hätte man am Ende nur noch Saft übrig gehabt. Denn jeder quetschte und drängelte sich nach vorne, um doch noch irgendwie der erste zu sein. Diejenigen, die es am Kartenabreißer vorbeigeschafft hatten, rannten über das Deck als wäre der Teufel hinter ihnen her. Gab es auf diesem Schiff irgendetwas umsonst, oder warum hatte es jeder so eilig? Mussten die letzten einfach hier bleiben? Oder gab es nur eine begrenzte Anzahl an Rettungsringen und wer zu spät kam, der musste mit dem Schiff untergehen, falls es Italien nicht erreichte?

Wir hielten nicht besonders fiel von dieser Hektik und stellten uns ganz entspannt und mit einigem Abstand hinter die wartende Menge. Außer uns gab es nur noch einen einzigen Mann, der die Sache ebenso entspannt betrachtete. Es war ein alter Opa mit einem zerfledderten Cappy und einem ausgeblichenen Rollkoffer, der sich das Spektakel ebenso interessiert anschaute wie wir.

Es war nun bereits nach 2:30 Uhr und wir waren noch nicht einmal an Bord. Da es aussah, als würde es auch noch eine Weile dauern, verlangte nun auch Heikos Blase nach Genugtuung. Bis zum Hafengebäude war es zu weit, also suchte er sich einfach ein ungestörtes Fleckchen, um von dort aus ins Meer zu pinkeln. Genau in dem Moment, in dem er das tat, kam einer der Wachmänner auf mich zu. Es war der selbe Mann, der uns am Anfang der Wartezeit dafür gedankt hatte, dass wir eine Menschenblockade aufgebaut und ihm seinen aussichtslosen Job somit etwas erleichtert hatten.

„Das dauert hier noch ewig," meinte er, „wenn ihr wollt könnt ihr einfach außen an der Schlange vorbeigehen und euch schon mal einen Platz an Bord suchen!"

„Danke!" sagte ich, „das machen wir gerne, ich muss nur noch kurz warten, bis mein Freund mit dem Pinkeln fertig ist."

Er grinste, nickte mir zu und ging wieder auf seinen Posten. Dann gingen wir an Bord. Unsere Wagen sollten wir auf dem Parkdeck neben der Treppe abstellen. Erst jetzt sahen wir das ganze Ausmaß der Parkmöglichkeiten. Von außen konnte man nur das Hauptdeck und eine Rampe auf ein Oberdeck sehen. Jetzt aber erkannten wir, dass es auch noch Rampen nach unten gab. Sobald ein Unterdeck befüllt worden war, konnte man die Rampe umklappen, so dass darauf auch wieder Fahrzeuge parken konnten. Es war eine Art Riesentetris, bei dem jeder Zentimeter dieses Schiffes mit Kraftfahrzeugen ausgefüllt wurde.

Wir querten das Parkdeck und erklommen eine schmale Leiter hinauf auf das erste Passagierdeck führte. Auch diese Treppe wirkte endlos und wir waren froh, als wir endlich oben ankamen. Hier verstanden wir nun auch, warum die Menschen es so eilig hatten, an Bord zu kommen. Überall auf dem Boden hatten sie ihre Nachlager aufgebaut. Es sah ein bisschen so aus, wie damals auf der Obdachlosenstation in Frankfurt. Jede Ecke war mit Kissen, Decken und Mattratzen ausgefüllt, auf denen sich einzelne Passagiere oder ganze Familien ausgebreitet hatten. Andere haben sich die Kissen von Sofas und Sesseln, die zum Schiff gehörten heruntergerissen und sich daraus ein Nachtlager am Boden errichtet. Wohin wir auch schauten, fast alles schien schon belegt zu sein. Mehrfach stolperten wir sogar in Ecken, in denen Mütter gerade mit entblößten Brüsten auf dem Boden saßen und ihre Kinder stillten. Die Aufenthaltsräume, waren fast noch am leersten, doch auch hier herrschte so ein Chaos, dass es kaum auszuhalten war. Schließlich entdeckten wir eine Art Casino mit mehreren Spielautomaten, die jedoch alle außer Betrieb waren. Hier war zurzeit noch niemand und so beschlossen wir, diesen Bereich für uns zu reservieren. Wir verkrochen uns hinter den Automaten und setzten uns auf den Boden. Erst später fanden wir heraus, dass es einen Grund hatte, warum dieser Bereich des Schiffes bislang vermieden worden war, denn er war wahrscheinlich der lauteste von allen. Er musste ziemlich direkt über den Maschinen liegen, denn die Wände und der Boden vibrierten die ganze Fahrt über im Tackt der Motoren.

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Einen Moment lang saßen wir auf dem kalten Boden. Dann fragten wir uns, warum wir es uns nicht ebenfalls bequem machen sollten, wenn es doch jeder andere hier konnte. Also kletterte ich die Leitern noch einmal hinab und holte unsere Schlafsäcke und die Isomatten aus den Wagen. Wieder musste ich dabei über liegende Menschen steigen, die teilweise sogar schon zu schlafen schienen. Es war als wären wir auf einem Obdachlosendampfer gelandet und ich war nun dabei, uns an die allgemeine Situation anzupassen.

Etwa 90% der Anwesenden versuchten zu schlafen. Die restlichen 10% unterhielten sich lautstark, so als wären alle anderen nicht existent. Wie typisch war dieses Verhältnis für uns Menschen. Einige wenige sorgten dafür, dass es für alle anderen unangenehm wurde und obwohl es jeden stört, nehmen es alle hin ohne etwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht lassen sich mit diesen wenigen Worten fast alle großen Probleme unseres Jahrhunderts beschreiben.

So Wirklich tief schliefen wir nicht, doch eingekuschelt in Schlafsäcke und liegend auf einer weichen Matte ließ sich die Zeit deutlich besser verbringen als an eine kalte Wand gekauert. Irgendwann nickten wir ein und schliefen sogar eine ganze Weile durch.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Wo sind nur all die holländischen Camper hin?

Höhenmeter: 360 m

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 12.738,27 km

Wetter: sonnig, abends bitterkalt

Etappenziel: verlassenes Mietshaus, 89023 Laureana di Borrello, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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