Tag 715: Zurück in Italien

von Heiko Gärtner
21.12.2015 03:04 Uhr

Fortsetzung von Tag 714:

Als ich wieder zu mir kam, was es bereits hell. Die Uhr unseres Smatphones zeigte 8:30 Uhr an. In einer Stunde sollten wir also in Italien ankommen, wenn die Zeiten gestimmt hätten. Doch ein Blick vom Außendeck auf das Meer zeigte, dass weit und breit noch kein Land in Sicht war. Schlafen konnten wir trotzdem nicht mehr und so suchten wir uns andere Beschäftigungen. Zunächst lenkten wir uns mit essen ab, aber das konnte man auch nicht ewig machen. Dann unternahmen wir abwechselnd Spaziergänge über das Schiff. Immerhin bewegten wir uns gerade mehr als 200km fort, ohne dass wir dafür unsere Füße benutzen mussten. Das war ungewohnt und da konnte ein bisschen umherwandern nicht schaden. So wie es aussah war das Schiff ohnehin nicht schneller, als wir es zu Fuß gewesen wären. Vorausgesetzt natürlich, wir hätten einen Weg gefunden, übers Wasser zu laufen. Heiko entdeckte bei seinem Rundgang ein weiteres Oberdeck, auf dem es wesentlich ruhiger war, als auf unserem. Auf dem Rückweg nach Griechenland würden wir uns dort verkrümeln, denn dann konnten wir wenigstens richtig durchschlafen.

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Um 11:00 erreichte unser Schiff den Hafen von Brindisi. Den Anlegevorgang bekamen wir dieses Mal nicht mit, denn wir befanden uns ja im inneren des Schiffes.

Der Kapitän persönlich zeigte uns den Weg nach unten, von wo aus wir dann als Fußgänger weitergelotst wurden. Das Problem war nur, dass man als Fußgänger an einer vollkommen anderen Stelle rauskam, denn als Autofahrer. Unsere Wagen standen jedoch bei den Autos. Also mussten wir irgendwie durch die Parkdecks zurück zu unserem Gepäck finden, was bei all den Fahrenden LKWs und den vielen Ordnungsmenschen, die uns am weitergehen hindern wollten, nicht so einfach war.

Noch schwieriger war es jedoch, den Weg aus dem Irrgarten des Industriehafens zu finden, über den wir schließlich in die Innenstatt gelangen konnten. Der erste Eindruck von Brindisi war nicht gerade der Beste, doch wie sich dann zeigte, war die Stadt zwar riesig und wurde nicht unwesentlich durch die Schifffahrtsindustrie geprägt, hatte sich aber dennoch einen recht schönen Kern erhalten können. Es war eine Stadt, die man sich sogar anschauen konnte! So etwas hatten wir seit Ewigkeiten schon nicht mehr erlebt.

Ein LKW-Fahrer wies uns schließlich den Weg in die Innenstadt. Wir folgten einer großen Straße und hatten lange Zeit noch immer keine Ahnung wo wir uns befanden, aber nun wussten wir zumindest schon einmal in welche Richtung wir uns halten mussten. Schließlich kamen wir an einem gigantischen Friedhof vorbei, der für sich genommen noch einmal eine eigene Stadt war. Er bestand aus lauter Mausoleen, die größer waren als die Häuser, die ich in unserer letzten albanischen Stadt aufgesucht hatte.

„Das gibts ja nicht!" rief Heiko plötzlich und vollkommen verwundert auf.

„Was ist denn los?" fragte ich.

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„Schau!" antwortete er nur knapp und zeigte mit dem Finger auf einen hektischen Mann, der gerade dabei war, die Hauptstraße zu überqueren. Er wirkte etwas heruntergekommen, hatte verfilzte braune Haare und besaß nur einen Arm.

„Das ist doch..." sagte ich fassungslos.

„Genau!" antwortete Heiko, „unser einarmiger Bandit aus Cannes!"

Wir hatten den Mann vor fast genau einem Jahr an der Küste von Frankreich getroffen, kurz bevor wir Italien das erste Mal erreicht hatten. Er stammte aus Hamburg, wenn wir uns recht erinnerten und wir hatten uns damals eine ganze Weile mit ihm unterhalten. Was für ein unglaublicher Zufall war es, ihn nun, rund 1000km entfernt wiederzutreffen und das erneut inmitten einer riesigen Stadt an einer unmöglichen Stelle, an der man sich kaum unterhalten konnte? Ehe wir recht realisiert hatten, dass der Mann aufgetaucht war, war er auch schon wieder im Verkehrschaos verschwunden.

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Ein Stück außerhalb der Innenstadt erreichten wir das Oratorio Don Bosco. ‚Oratio’ werden in Italien kirchliche Jugendeinrichtungen genannt, in denen die Kinder und Jugendlichen einer Gemeinde Sportplätze und Aufenthaltsräume zur Verfügung gestellt bekommen. In diesem Fall gehörte sogar noch ein eigenes Theater dazu. Mit Oratorien hatten wir bei unserem letzten Besuch hier im Lande häufig gute Erfahrungen gemacht und auch heute sollten wir nicht enttäuscht werden. Im Park des Oratorios traf ich einen jungen Mann, der sich als Mario vorstellte. Er arbeitete hier als Freiwilliger mit den Jugendlichen und stellte den Kontakt zum Pfarrer her.

„Das bin ich!" sagte er während wir warteten und deutete dabei auf ein Foto an der Wand. Es zeigte eine Gruppe von Jugendlichen und ihre Begleitpersonen. Der Mann auf den er deutete war ein junger Kerl mit einer leuchtendroten Löwenmähne, die ihm weit über die Schultern reichte. Erstaunt schauten wir den Glatzkopf neben uns an. Er zuckte nur mit den Schultern, grinste und sagte dann: „Ich habe eine Wette verloren und musste sie mir abrasieren." Dann erzählte er uns, dass er eine Homepage einrichten wollte, auf der er den Lesern Geschichten aus aller Welt vorstellte. Das Motto sollte lauten: „In 80 Geschichten um die Welt!" Er bat uns, auch unsere dazu beizusteuern, was wir natürlich gerne machten. Wenn er mit seiner Seite online geht und uns den Link schickt, stellen wir sie euch natürlich vor.

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Der Pfarrer selbst war ebenfalls ein junger Mann, der uns nicht nur einfach einen Raum, sondern ein richtiges Gästezimmer mit Betten und Dusche zur Verfügung stellte. Uns kam es vor, wie ein sechser im Lotto. Es war angenehm, unkompliziert, komfortabel und wir hatten dafür lediglich ein paar nette Gespräche führen brauchen, mit Menschen die uns symphytische waren. Plötzlich kam uns der Balkan unendlich weit weg vor, fast wie in einer anderen Welt.

Am Nachmittag machten wir dann wirklich noch einen Spaziergang durch die Stadt. Es fühlte sich richtig frei und leicht an, einmal ohne die Wagen unterwegs sein zu können. In der ganzen Zeit, die wir nun im Zelt übernachtet hatten, musste immer einer von uns bei unserem Material bleiben. Jetzt hatten wir einen Zimmerschlüssel, wussten alles sicher verstaut und konnten einfach mal wieder durch die Straßen schlendern. Wir klapperten Imbissbuden ab und bekamen reichlich warme Pizza und Pommes. Wenn wir uns schon ungesund ernährten, dann konnten wir es nun wenigstens wieder auf eine Art und Weise machen, die auch schmeckte. Ein paar Tage lang wollten wir uns den Sünden in diesem Land hingeben, bevor wir unseren alten Essensplan wieder aufnehmen würden. Seit ja vorsichtig mit solchen Vorsätzen! Wir sind nun schon einen Monat im Lande und zögern es noch immer täglich weiter hinaus.

An einem Brunnen machten wir eine Pause, setzten uns in die Sonne und ließen uns die frischen Pommes schmecken. Es war schon ein seltsames Gefühl, plötzlich wieder hier zu sein. So, als hätten wir die Pausetaste auf unserer Ost-Europa-Reise gedrückt und wären nun hier an Land gespült worden um zu überwintern.

Am Brunnen stand ein Mann mit einem Lappen in der Hand. Er tauchte ihn einmal ins Wasser, wrang ihn kurz aus und legte ihn dann drei Mal fein säuberlich zusammen. Anschließend ging er in schnellen Schritten um den Brunnen herum und putzte hektisch alle Pfeiler der Umrandung auf die immer gleiche Weise. Als er die Stelle erreicht hatte, an der er gestartet war, hielt er einen Moment inne, tauchte den Lappen erneut ins Wasser und begann sein Ritual noch einmal von vorne. Dieses Mal putzte er jedoch die Querleisten und beim nächsten Mal die Zwischensteine. Dann die Oberfläche und schließlich die Unterseiten. Warum er das machte wussten wir nicht und wir kamen auch nicht dahinter. Es schien jedoch eine Art Passion zu sein und wir hätten schwören können, dass es das regelmäßig, wahrscheinlich täglich machte. Was immer ihn auch zu diesem ungewöhnlichen Ritual bewegte, die Präsenz, mit der er die Bewegungen im Gleichklang ausführte war so stark, dass der Mann dadurch plötzlich unglaublich interessant wirkte. Selbst als er sich einfach nur hinsetzte um sich eine Zigarette anzuzünden, konnten wir nicht aufhören, ihn fasziniert zu beobachten. Noch immer lag wie ein Bann auf ihm, der uns Glauben machte, dass er gleich wieder etwas vollkommen Ungewöhnliches tun würde. Es passierte jedoch nichts dergleichen und so kehrten wir schließlich wieder in unser Zimmer zurück. Dort konnten wir uns nun nach langer Zeit wieder einmal ausgiebig waschen, duschen, entspannen und ausruhen.

Spruch des Tages: Da sind wir wieder!

Höhenmeter: 360 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 12.755,27 km

Wetter: heiter bis wolkig

Etappenziel: Pfarrhaus, 89024 Polistena, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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