Tag 717: Überflutete Räume

von Heiko Gärtner
21.12.2015 04:15 Uhr

Der Tag begann mit einem leichten Nieselregen, doch das Thermometer zeigte noch immer 24°C an. Winterlich wurde es also doch noch nicht.

Auf unserem Weg durch die Olivenfelder kamen wir nun immer häufiger an großen Schwelbränden vorbei, in denen die Blätter der Olivenbäume verbrannt wurden. Alles unter den Bäumen wurde nun bereinigt und wirkte fast wie geleckt. Es waren die letzten Vorbereitungen für die Olivenernte.

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Als wir nach Trepuzzi kamen, stach als erstes der große Friedhof ins Auge. Auch er war wieder eine Totenstadt, die mehr als nur ein bisschen beeindruckend war. Wir machten einen kleinen Spaziergang darin und wären um ein haar darin eingeschlossen worden. An dem übergroßen Eingangstor hing ein winziges Schild, das einen darüber informierte, dass über den Mittag der Friedhof verschlossen wurde. Dieses Schild hatten wir übersehen. Zum Glück hatte der Wärter unsere Wagen bemerkt, sonst hätten wir einen Großteil des Nachmittages mit den Toten verbringen können.

Auf dem Weg ins Zentrum fragten wir eine Frau nach dem Pfarrer, die uns zu einer anderen Kirche etwas außerhalb der Stadt lotste. Dort trafen wir wie versprochen auf Don Alessandro, einen freundlichen und unkomplizierten Mann, der uns nicht nur eine kleine Gästewohnung zur Verfügung stellte, sondern gleich noch ein frisches Brathähnchen für uns besorgte. Genau so eines hatten wir uns kurz zuvor gewünscht.

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Später kamen einige Kindergruppen, die eigentlich Religionsunterricht haben sollten. Offiziell dauerte der Unterricht von 16:00 Uhr bis um 18:00 Uhr, doch zunächst hörte man nur ein wildes Geschrei, bei dem unmöglich irgendjemand irgendetwas lernen konnte. Um 17:30 hörte ich das erste Mal die laute, zornige Stimme einer Lehrerin, die sich über die der Kinder hinweg erhob. Anschließend war es für rund zehn Minuten so still, dass man sich ein Gespräch vorstellen konnte. Dann begann der Lärm von Neuem. Wie sollte unter diesen Bedingungen Unterricht stattfinden? Gegen 18:00 Uhr stürmte plötzlich eine Frau in den Raum, in dem wir saßen und schrie mich im Tonfall eines Militärausbilders an: „Brauchen Sie irgendetwas? Ist alles in Ordnung?"

Unvermittelt entstand in mir der Impuls aufzuspringen, zu salutieren und laut „Nein Mam, alles in Ordnung Mam!" zu schreien, doch ich konnte mich gerade noch beherrschen. Nach dem, was ich von ihrem Job als Lehrerin mitbekommen hatte, wunderte mich ihr Tonfall jedoch nicht mehr.

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Später kam Don Alessandro noch einmal zurück und bat uns, ihn zu begleiten. Er führte uns in einen Raum voller Menschen, darunter auch zwei der Pädagoginnen, die zuvor die Kinder betreut hatten und meine Militärausbilderin. Wir sollten uns vorstellen und von unserer Reise erzählen, was wir an sich auch gerne getan hätten, doch die Erwachsenen verhielten sich uns gegenüber nun genauso, wie die Kinder zuvor gegenüber ihren Lehrern. Nicht einmal wenn der Pfarrer sprach hörten sie auf zu tuscheln und zu murmeln. Alle quatschten durcheinander, ohne dass es jemanden zu stören schien. Von Heiko und mir einmal abgesehen. Ich war es aus meiner eigenen Zeit als Pädagoge noch gewohnt, erst dann mit dem Sprechen anzufangen, wenn es wirklich ruhig war. Doch hier funktionierte das offensichtlich nicht. Mein Zögern wurde nicht als Aufforderung zum Schweigen interpretiert, sondern als Ausdruck dafür, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich in Italienisch auszudrücken. Darum stellte man uns eine Dolmetscherin, die uns jedoch auch nicht zuhörte und den anderen irgendetwas erzählte, was ihr gerade in den Sinn kam, ausgelöst durch ein oder zwei Stichworte, die sie von uns aufgeschnappt hatte. Was immer sie auch erzählte, sie erzählte es mit so einer Begeisterung, dass alle im Raum Feuer und Flamme waren. Leider verstanden wir nicht allzu viel, denn es muss eine wirklich interessante Geschichte gewesen sein, die sie da berichtete.

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Nach der kurzen Präsentationsveranstaltung brachte uns der Pfarrer noch einmal je eine Pizza vorbei. Dieses Mal war sie warm und dazu extrem knusprig, mit Pilzen, scharfer Salami und Oliven. So ließ man sich die Nahrungssünden schon eingehen.

Später am Abend, als alle Kirchenleute verschwunden waren, hörten wir ein erneutes Rumoren aus dem Erdgeschoss. Es war eine Gruppe Jugendlicher, die hier abhängen wollte, um die Zeit bis zum Partymachen totzuschlagen. Ich wies sie an, die Fenster des Raumes zu schließen, in dem wir unsere Wagen aufbewahrten und forderte sie auf leise zu sein, damit wir schlafen konnten. Dabei war ich von mir selbst überrascht, wie klar ich mit meinen Aussagen war und wie direkt die Jungs auf mich hörten.

Am nächsten Morgen brachte uns Don Alessandro sogar noch ein Frühstück vorbei. Weil wir keinen Kaffee wollten, fuhr er extra noch einmal los um uns je eine Dose Eistee zu kaufen. Es war nicht ganz das, was wir uns unter einem Frühstückstee vorgestellt hatten und wir waren fasziniert davon, wie eklig dieses Zeug schmeckt, wenn es warm ist, aber die Geste war großartig.

Dann verabschiedeten wir uns und verließen die Stadt um wieder in die Felder aufzubrechen. Dieses Mal kamen wir dabei an einer Herde von Schlappohr-Schafen vorbei. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so ulkige Schafe gesehen!

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Der Pfarrer im ersten Ort war nicht zu finden, weshalb wir unsere Tagesroute noch einmal ein gutes Stück verlängerten. Dort trafen wir gleich am Ortseingang ein Ehepaar, das uns auf Deutsch ansprach. Die beiden hatten 24 Jahre lang in Nürnberg gelebt und dort eine Eisdiele betrieben, die Heiko sogar noch gut kannte. So klein ist die Welt.

Sie wiesen uns den Weg zum Pfarrhaus, das wir jedoch ebenfalls verlassen vorfanden. Als wir es schon aufgeben wollten, kam ein junger Mann auf einem Fahrrad angefahren. Er war ungefähr so alt wie ich, vielleicht etwas jünger und sprach sogar relativ gut Deutsch. Aufgrund seiner Schüchternheit kamen wir nicht wirklich mit ihm ins Gespräch und er fuhren auch nicht viel über ihn, doch er überließ uns eine kleine Wohnung mit Küche und zwei Schlafzimmern.

Später machten wir einen kleinen Rundgang durch die Stadt, um eine Arbeitspause einzulegen. Dabei bekamen wir von jedem Laden, in dem wir fragten etwas geschenkt. Erst Obst und Gemüse, dann Gnocchi, hauchdünne Straks und schließlich sogar noch eine Packung Chips. Bohnen und Erbsen hatten wir bereits am Nachmittag auf dem Weg in die Stadt gefunden. Jemand hatte die Konserven einfach achtlos weggeworfen, obwohl sie noch vollkommen unversehrt gewesen waren. Tomatensauce und Thunfisch hatte schließlich unser Pfarrer noch beigesteuert und damit hatten wir nun alles, was wir brauchten, um ein Festmahl zu errichten.

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Nachts schüttete es wie aus Eimern. Während der Regen auf unser Dach trommelte, spürten wir noch einmal mehr, wie dankbar wir waren, dass wir uns hier in Italien befanden, wo wir regelmäßig feste Unterkünfte bekamen. Es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen, hierher überzusetzen.

Eine Sache war jedoch seltsam. Die ganze Zeit im Balkan war es fast immer unmöglich gewesen, sich zu duschen oder ausgiebig zu waschen. Nun da wir dies regelmäßig wieder tun konnten, bekamen wir aber plötzlich Pickel und lauter Hautunreinheiten. Angeblich wurden die ja von Schmutzpartikeln verursacht, die die Hautporen verstopfen. Ganz so stimmen kann das dann wohl eher nicht.

Pünktlich zum Morgengrauen hörte der Regen wieder auf, doch der Himmel war noch immer mit dicken Wolken verhangen. Wir wanderten in einer Weltuntergangsstimmung, wie wir sie lange nicht erlebt hatten. Gegen Mittag begann es zu nieseln und dazu kam ein eiskalter Wind auf, der nicht gerade zur Gemütlichkeit beitrug. Wir fragten in einer kleinen Bäckerei nach einer moralischen Unterstützung und bekamen ein Pizzabrötchen und ein Schokocroissant für jeden.

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„Aber erst das Pizzabrötchen essen! Das Croissant ist der Nachtisch!" betonte die Verkäuferin, die bei dem schlechten Wetter gleich ein paar Muttergefühle bekam und uns nur ungern wieder in die Kälte entließ. Brötchen wie Croissant waren noch warm und beide schmeckten hervorragend. Natürlich waren es Nahrungssünden und sie trugen sicher nicht gerade zu unserer körperlichen Heilung bei. Aber wir freuten uns so sehr darüber, wieder einmal etwas zum Genießen zu haben, dass es unmöglich war, dass sie uns schädigten.

Die weitere Reise gestaltete sich aufgrund des Regens etwas schwierig. Nicht weil wir nass wurden, sondern weil Regen in Italien einfach immer ein Problem war. Es reichten ein paar Tropfen und schon war alles überflutet. Ein Wunder ist das nicht, wenn man bedenkt, dass nahezu keine Straße ein Abwassersystem besitzt. Ein normaler Straßenverlauf in diesem Land besteht aus einer komplett versiegelten Asphaltfläche, die links und rechts von je einer Mauer begrenzt wird. Wo also soll das Wasser hin? Hinzu kommt, dass der Boden größtenteils aus Lehm besteht und dazu durch die Landwirtschaft extrem verdichtet wurde. Nicht einmal auf dem Land kann das Wasser also abfließen. So mussten wir einige Umwege in Kauf nehmen um nicht schwimmen zu müssen.

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Der Raum, den wir später vom Pfarrer bekamen, sah jedoch nicht viel anders aus. Die Tür ließ sich nicht richtig verschließen, weshalb die ganze Nacht reingeregnet hatte. Nun stand das Wasser teilweise mehrere Zentimeter hoch im Raum. Wären wir nicht gekommen, wäre der Raum wahrscheinlich heute noch überflutet, denn außer uns schien es tatsächlich niemanden zu stören. Wir machten uns mit Mob, Eimer und Scheuertüchern ans Werk und schafften es schließlich, alles wieder einigermaßen trocken zu legen. Dieses Mal verschlossen wir die Tür mit mehr Nachdruck und legten einige Matten davor, die das Wasser aufsaugen konnten, falls es doch wieder hereinkam. Dennoch hofften wir inständig, dass es diese Nacht nicht so stark regnen würde, wie die letzte.

Spruch des Tages: Was so ein bisschen Regen hier schon ausmacht!

Höhenmeter: 590 m

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 12.768,27 km

Wetter: bedeckt

Etappenziel: leerstehendes Immigrantenheim, 89050 Cosoleto, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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