Tag 720: Olivenhaine

von Heiko Gärtner
21.12.2015 05:03 Uhr

In der Nacht brachte ich so gut wie kein Auge zu. Bis um drei Uhr versuchte ich, die Daten wieder herzustellen. Das Ergebnis habe ich euch ja bereits vor einigen Wochen geschildert.

Doch auch am nächsten Morgen arbeitete der Datenverlust in mir noch immer wie eine Dampfmaschine mit Überdruck. Wäre ich eine Comicfigur wären sicher dicke weiße Dampfwölkchen aus meinen Ohren gequollen. Wir durchwanderten die Felder und immer wieder fiel ich in die gleichen Gedankenschleifen zurück. Warum musste ausgerechnet mir immer wieder dieser Scheiß passieren? Dann beruhigte ich mich, spürte in mich hinein und begann zu begreifen, dass die ganze Sache definitiv auch ihre gute Seite hatte. Doch kurz darauf begann der Kreislauf von neuem. So richtig endete er erst, als ich den Text vollständig noch einmal aufs Neue geschrieben hatte. Doch bis dahin sollte es noch eine Weile dauern.

Erst einmal brauchten wir einen Ort, an dem ich überhaupt schreiben konnte. Wieder entstand ein innerer Druck in mir, der mich dazu drängte, so schnell wie möglich einen Schlafplatz zu finden. Und je mehr ich diesen Druck spürte, desto mehr Angst bekam ich, dass es überhaupt nicht klappen würde und wir am Ende wieder erst mitten in der Nacht irgendwo ankamen. Innerlich hörte ich bereits die Stimme des Universums, wie sie sagte: „Dein Wunsch sei mir Befehl! Eine schwierige Übernachtungssituation und einen Nachmittag voller Absagen! Kommt sofort!"

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Dabei standen die Chancen eigentlich nicht schlecht, denn in unserem Zielort gab es ein Franziskanerkloster und mit denen hatten wir bislang fast immer gute Erfahrungen gemacht. Zumindest in Italien.

Die Tür öffnete sich und ich stand zunächst alleine in einer Empfangshalle. Dann kam eine kleine Frau, bei der es sich wahrscheinlich um die Haushälterin handelte. Sie hörte mich an und machte sich dann auf die Suche nach dem Klosterführer. Während ich wartete kam ein alter Mönch den Gang hinunter und sprach mich an. Er war ein wenig schrullig aber sehr sympathisch, wenngleich er mich kaum verstehen konnte, weil er schwerhörig war. Kurz darauf kam die Haushälterin mit einem weiteren Mann zurück. Er war jünger, dafür aber erheblich dicker und bei weitem nicht so sympathisch. In unserem kurzen Gespräch fand ich heraus, dass er nicht wie angekündigt der Klostervorsteher war, sondern einfach irgendjemand, der glaubte, etwas zu sagen zu haben. Der Superiore selbst war nicht im Haus und so entschied der Mann über den Kopf seines Chefs hinweg, dass Gäste hier nicht willkommen waren. Auf meine Frage, ob er den Chef nicht anrufen und persönlich nach seiner Meinung fragen könne, meinte er nur schnippisch: „Für so etwas behellige ich den Superiore nicht!"

In der Innenstadt machten wir uns daher auf die Suche nach dem Gemeindepfarrer. Eine Frau erzählte mir, dass er sich gerade in Brindisi aufhielt. Sie führte mich aber zu einer anderen älteren Dame, die mich wieder zu einer anderen Dame führte, die dann tatsächlich etwas entscheiden konnte. Das Gespräch gestaltete sich schwierig, weil wir aufgrund der Sprachbarriere immer wieder aneinander vorbeiredeten. Ich verstand, dass wir wahrscheinlich ab 20:00 Uhr einen Raum haben könnten, dass es ein endgültiges OK aber erst um 17:00 Uhr geben könne. In Wirklichkeit erklärte sie mir jedoch, dass sie einen Raum für uns hatte, dass dieser aber zwischen fünf und acht anderweitig belegt war. Es dauerte eine Weile, bis alles geklärt war und wir beide mit dem Deal einverstanden waren. Sobald wir uns eingerichtet hatten begann ich damit, meinen verlorenen Text wieder aufzuholen und schrieb bis spät in die Nacht durch.

Die Fragen, die mich dabei begleiteten, nahm ich sogar mit in den Schlaf.

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Ich träumte, dass ich am Computer einige Fotos mit Photoshop bearbeitete und dabei ein kleines Trickfilmmädchen in ein Bild retuschierte, das auf einem Seil hoch über der Stadt tanzte. Irgendjemand beriet mich dabei und erklärte mir, dass es so von den Proportionen nicht passen würde. Wenn ich nicht aufpasste, dann würde das Mädchen hinabstürzen und...

Genau in diesem Moment hatte ich versucht, das Seil noch einmal zu bearbeiten. Dabei versetzte ich es ausversehen in Schwingung und das Mädchen stürzte wirklich herab. Es fiel aber nicht nur zu Boden, sondern gleich völlig aus dem Bild und aus dem Computer heraus in die reale Traumwelt.

An die nächsten Sequenzen erinnere ich mich kaum noch. Ich weiß nur, dass das Mädchen aus einem Kinderheim stammte und dass ich mich anschließend mit ihr gemeinsam aufmachte, um ihre Freunde daraus zu befreien.

Als ich am Morgen aufwachte erinnerte ich mich noch gut an diesen Traum und ich verstand auch, was mir mein Unterbewusstsein damit sagen wollte. Ich hatte mich am Vortag immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie real unsere Welt wirklich war und ob nicht auch unser Wachzustand letztlich nichts weiter als ein großer Traum war, aus dem wir erwachen würden um wieder in einem anderen Traum aufzuwachen. Alles war letztlich nichts weiter als eine Illusion, die wir uns selbst erzeugten, als ein Teil des göttlichen Bewusstseins, das wir nun einmal waren. Im Traum hatte ich mir selbst noch einmal veranschaulicht, wie dünn die Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion war. Das Mädchen war eindeutig eine Illusion, sie war nichts anderes als eine Zeichentrickfigur und man konnte sie zweifelsfrei als solche erkennen. Trotzdem wurde sie plötzlich real und war mit einem Schlag ein Teil meines wirklichen Lebens. Es dauerte nicht lange und ich wunderte mich nicht einmal mehr darüber, dass sie zweidimensional und rosa war. Sie war ein Teil der Realität geworden, denn die Realität war genauso eine Illusion, wie das Mädchen selbst. Im Traum war die Comicfigur irrealer, als der Rest, doch in Wirklichkeit waren beides die gleichen Illusionen, die mein Unterbewusstsein im Schlaf für mich erzeugte. Als ich erwachte, merkte ich, dass ich nicht der Mann war, der einer Zeichentrickfigur bei der Befreiung ihrer Freunde half, sondern ein Mann, der alles nur geträumt hatte und nun glaubte, dass dieses Leben im Wachzustand realer war, als der Traum zuvor. Eine gewagte Theorie, für die es keinerlei Beweise gab. Wer sagt mir, dass ich nicht gleich noch einmal aufwachen und feststellen werde, dass wieder alles nur ein Traum war? Niemand. Wie wollen wir uns also sicher sein?

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Die Wanderung an diesem Tag bot abgesehen von unseren eigenen Gedanken nicht viel Neues. Wir wanderten weiter durch die Felder, bis wir die nächste Stadt erreichten. Hier trafen wir den Pfarrer seit langem wieder einmal auf Anhieb an. Einen Raum gab er uns gerne, doch erst für die Nacht, weil er der Meinung war, dass er am Nachmittag noch gebraucht wurde. Wieder folgte eine längere Unterhaltung mit vielen Überlegungen und eine aufwendigen Suche nach einer Lösung, bis sich herausstellte, dass alles ein Irrtum war und wir den Raum einfach für uns alleine hatten.

Der kommende Tag verlief nicht viel anders. Es gab einfach Olivenfelder und immer gleiche Städte. Das war’s. Der einzige Unterschied war, dass wir dieses Mal beobachten konnten, dass auch die Olivenbäume bis zum Erbrechen mit Spritzmitteln eingenebelt wurden. Auf den Fässern, die wir im Vorbeikommen sehen konnten standen verschiedene Bezeichnungen, die auf Insektizide und Antipilzmittel hindeuteten. Wahrscheinlich behandelte man die Bäume damit um zu verhindern, dass die Oliven schimmelten oder angenagt wurden, wenn sie auf dem Boden liegen blieben, bis sie abgeholt wurden. All die Gifte landeten dann mit in unseren Oliven und im Olivenöl. Na vielen Dank! Bislang hatten wir geglaubt, dass wenigstens diese Produkte noch gesund und unschädlich waren.

Kurz bevor wir unseren auserkorenen Zielort erreichten, kamen wir an einem alten Schloss vorbei. Die Straße auf der wir uns befanden führte mitten durch den Schlosspark hindurch. Wenn die Eigentümer auf die Idee kamen, ihre Tore zu verschließen, dann kam niemand mehr hier durch.

Der Schlosspark war geschmackvoll und edel zurecht gemacht. Es war der perfekte Ort für eine Traumhochzeit und genau dafür war er auch gedacht. Das Schloss selbst war ein Restaurant und beinhaltete Gästezimmer für die Hochzeitsgäste. Wer hier feierte, der musste dafür ordentlich was auf den Tisch legen.

Vom Haupteingang aus führte eine Straße schnurgerade bis hinüber zur Hauptstraße. Sie war etwa drei Kilometer lang und führte durch Weinfelder und Olivenhaine. Links und rechts des Weges waren noch immer Reste von Kerzen erkennbar, die im Abstand von etwa fünf bis zehn Metern aufgestellt worden waren. Bei einer Hochzeit konnte man also den kompletten Weg illuminieren. Für die Gäste musste dies ein wahrhaft imposanter Empfang sein.

Der Ort, den wir uns als Ziel auserkoren hatten, war mit dieser Entscheidung wieder einmal nicht wirklich einverstanden. Es gab mehrere Kirchen und mehrere Pfarrer, aber keiner davon war auffindbar. Zunächst versuchten wir es an der Kirche San Antonio, für die Pater Giuseppe zuständig war. Als wir diesen nicht antrafen empfahl man uns, dass wir uns an Don Antonio wenden sollten. Der wiederum war zuständig für die Kirche San Giuseppe. Irgendwie recht verwirrend. Wir haben ohnehin festgestellt, dass die Namensvielfalt in Italien recht begrenzt ist. Sei unterem eintreffen waren wir zu Gast bei vier Pfarrern mit Namen Don Massimo, etwa sechs oder sieben Don Giuseppes, einigen Don Andreas, Don Antonios und Don Alessandros. Andere Namen gab es so gut wie nie. Auch nicht bei den Menschen, die keine Pfarrer waren, von den Frauen natürlich einmal abgesehen.

In der nächsten Stadt hatten wir mehr Glück. Es wurde bereits wieder dunkel und begann immer wieder zu regnen, weshalb wir einen Platz nun auch dringend nötig hatten. Die Kirche stand offen und von hier aus kam man nicht nur in die Sakristei, sondern auch in das Privathaus des Pfarrers. „Ciao! Bongiorno!" rief ich immer wieder, bekam jedoch keine Antwort. Es war ein bisschen seltsam, einfach so im Pfarrhaus herumzuwandern, aber wenn alles offen stand, dann musste doch auch irgendwo jemand anzutreffen sein. Im Obergeschoss erhielt ich dann eine Reaktion. Es war ein junger Mann, der uns gleich zum Essen einlud. Kaum hatten wir die Tür hinter uns geschlossen, begann es auch schon zu regnen. Der junge Mann war der zweite Pfarrer im Ort. Sein Vorgesetzter kam etwas später und leistete uns ebenfalls Gesellschaft. Beide waren sehr offene angenehme Menschen. Der jüngere war Koch bevor er Pfarrer wurde und man musste sagen, dass er sein Handwerk nicht verlernt hatte. Er zauberte uns Rindersteaks, reis mit grünem Pesto und vorweg geröstetes Brot mit Olivenöl und frischen Tomaten. Es war das beste Essen seit langem. Anders als der Koch, der eher schweigsamer Natur war, war sein Chef ein redseliger Geselle, mit dem man sich gut unterhalten konnte. Es wurde ein lustiges, lockeres und unterhaltsames Gespräch, bei dem wir ihm gleich noch einige Tipps für seine zuckerkranke Mutter mit auf den Weg geben konnten.

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„Ich bin Maria und er ist Marta!" begann der Koch mit einem Witz, den wir zunächst nicht verstanden. Als er unsere verwirrten Blicke sah erklärte er: „Marta ist bekannt dafür, dass sie eine fleißige Arbeiterin war, Maria war eine gute Zuhörerin und Erzählerin. So haben wir uns aufgeteilt. Ich erledige die Arbeit, er übernimmt die Gespräche!" Beide lachten. Sie zogen sich offensichtlich öfter gegenseitig damit auf.

Nachdem der Regen einigermaßen wieder aufgehört hatte, begleiteten wir den Erzählerpfarrer zur Hauptkirche, wo wir ein kleines Gästezimmer bekamen. Es gab nur ein Bett und daneben gerade so viel Platz, dass man eine Isomatte ausbreiten konnte. Morgen würden wir den Ort erreichen, an dem unser Paket auf uns wartete, in dem sich unter anderem auch eine neue Luftmattratze für mich befand. Ich konnte heute also noch ein allerletztes Mal auf der alten schlafen, sozusagen als Abschiedsnacht.

Durch den ständigen Regen und die mitunter sehr weiten Strecken hatten wir die letzten Tage oft nasse Füße bekommen. Entweder das Regenwasser durchnässte sie von außen, oder der Schweiß von innen. Dadurch war die Haut immer wieder aufgeweicht und empfindlich geworden. Gleichzeitig kam hinzu, dass meine Füße zurzeit etwas aufgequollen waren, in etwa so wie meine Hände im letzten Winter. Das alles hatte dazu geführt, dass sie meine Zehen an mehreren Stellen wundgescheuert hatten und ich sogar einige offene Wunden hatte. Es sah ziemlich eklig aus, stank auch unerträglich und schmerzte ohne Ende. Hoffentlich wurde das die nächsten Tage nicht schlimmer.

Spruch des Tages:

"Manchmal glaube ich, wir sind alle nur Figuren in einem Roman", sagte Kalle Blomquist zu seinem Freund, als sie über die einsame Insel gingen.

"So ein Quatsch!" antwortete der Freund, "Ich bin mir sicher, dass ich es merken würde, wenn ich eine Romanfigur wäre!" (Astrid Lindgren)

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 12.851,27 km

Wetter: bedeckt, leichter Nieselregen

Etappenziel: Franyiskaner-Kloster, 98122 Messina, Sizilien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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