Tag 725: Unser zweites Weltreiseweihnachten - Teil 2

von Heiko Gärtner
27.12.2015 23:21 Uhr

Fortsetzung von Tag 724:

Unser weihnachtliches Schlafquartier war eine alte Schule, die bereits vor Jahrzehnten hätte abgerissen werden sollen. Stadtdessen hatte man begonnen, die mit EU-Fördergeldern zu renovieren, was leider nicht dazu geführt hatte, das sie deswegen weniger abbruchreif war. Um in den Hof zu gelangen musste man ein riesiges, eisernes Tor öffnen. Dahinter befand sich eine Art Müllhalde, in der sich auch die Treppe  zum Eingang der Schule versteckte. Von hier aus kam man in eine ehemalige Sporthalle, die zu gut zwei Dritteln unter Wasser stand. Heiko und ich nahmen uns etwas Zeit um alles zu inspizieren, denn wir konnten kaum glauben, wie hier mit dem Material umgegangen wurde. An den Wänden standen Pappschachteln voller Schrauben und anderem Handwerksmaterial. Alles war bester Qualität und musste einmal ein Vermögen gekostet haben. Nun waren die Kartons jedoch aufgeweicht und vieles war rostig, verzogen oder auf andere Weise unbrauchbar geworden. Zu unserem Schlafraum ging es noch einmal eine Treppe hinauf. Hier befanden sich die ehemaligen Klassenzimmer. Auch sie waren verfallen, feucht, dreckig und an vielen Stellen verschimmelt. Doch trotz alledem hingen noch immer die digitalen Tafeln und die Beamer an den Wänden, die einmal den Unterricht auf höchstem, technischen Niveau ermöglicht hatten. Ich kann nicht sagen, wie viel Wert so ein Material hat, doch Heiko schätzte allein die digital Whiteboards insgesamt auf mehrere Zentausend Euro. Im Obergeschoss fanden wir dann noch Musikinstrumente in einem Wert, der nicht viel geringer sein konnte. Ein komplettes Schlagzeug, mehrere Keyboards, Mischpulte, Soundanlagen, Geigenbögen und vielerlei mehr wurde in den feuchten Räumen dem Verfall überlassen. In den Nebenräumen hatte die Schule nicht einmal mehr ein Dach. Wenn man hier nach oben blickte, konnte man zwischen den Dachbalken in den Himmel sehen. Wenn das mal keine romantische Weihnachtsstimmung verursachte!

[AFG_gallery id='236'] Weil der Boden so dreckig war, dass wir keinen direkten Kontakt zu ihm wünschten, breiteten wir unsere Plane aus und richteten unser Schlafzimmer darauf ein. Dann begannen wir mit der Essenszubereitung. Einer der Schlachter hatte uns sehr großzügig mit Lammfleisch versorgt. Leider scheint es in Italien so etwas wie eine Fleischereiausbildung nicht zu geben, denn der Mann hatte offensichtlich keine Ahnung, wie man mit einem Tierkörper umgeht, den man als Nahrung zubereiten will. Mit einem schweren Beil hatte er auf dem Fleisch herumgeschlagen wie ein Psychopath, der endlich seinen Erzfeind in die Finger bekommen hatte und ihn nun mit all seiner Wut zerstückelte. Ein ehrerbieten dem Tier gegenüber hatte dabei leider keinen Platz. Außer mir hatte sich nur noch ein kleiner Junge in der Fleischerei befunden, der ebenso wie ich bei jedem einzelnen Schlag zusammenzuckte und mit dem armen Lamm mitlitt. Die Idee des Fleischers war es wahrscheinlich, uns mit diesem Wutausbruch zu helfen, indem wir nun kleinere, handlischere Stücke hatten. Doch die zersplitterten Knochen verteilten sich gleichmäßig im Fleisch und machten es fast unmöglich, die Stücke so zu verwerten, dass man nicht ständig einen Knochensplitter im Mund hatte. "Das arme Tier!" sagte Heiko als er sich an die Arbeit machte um Knochen und Muskelfasern zu trennen. "In Deutschland würde ein Fleischer für so eine Gräueltat sicher seine Lizenz verlieren." Doch trotz der Hindernisse hatten wir am Ende einen großen Topf voller Fleisch, ein Fondue mit Gemüsebrühe, vier verschiedene, selbst angemischte Tomatensaucen und eine große Schüssel mit Salat. Das weihnachtliche Festmal konnte also beginnen. Sogar etwas Deko hatten wir aufgetrieben, wenn auch nur bestehend aus einer einzigen Kerze und einer kleinen, goldenen Weihnachtsbaumkugel. Da dies nun bereits unser zweites Weihnachtsfest auf Reisen war, konnte man nun auch schon wieder von festen Traditionen sprechen, die es für so einen besonderen Tag einzuhalten galt. Den Besuch der italienischen Mitternachtsmesse haben wir allerdings gleich wieder von der agenda gestrichen. So einen Terror wollten wir uns nicht noch einmal antun. Außerdem waren wir dieses Jahr bereits öfter in der Messe gewesen, als je zuvor in unserem Leben und das sollte wohl erst einmal reichen. Nicht fehlen durfte aber das Weihnachtstelefonat mit Heikos Familie. Wenn hier schon keine richtige Weihnachtsstimmung aufkommen wollte, dann konnten wir so doch immerhin ein bisschen von der zu Hause schnuppern. "Arbeiten wir jetzt noch ein bisschen, oder gehen wir gleich zu den Weihnachtsfilmen über?" fragte Heiko nachdem wir uns das erste Mal die Bäuche vollgeschlagen hatten. Unser Raum war schon am Anfang nicht warm gewesen, doch inzwischen war die Temperatur so weit abgefallen, dass wir durchaus bereit waren, uns direkt in die Schlafsäcke zu legen und einen Heimkino-Abend zu beginnen. Doch wenigstens ein paar Zeilen wollten wir zuvor noch schreiben. Es war längst keine Arbeit mehr, sich an Berichte und Forschungstexte zu setzen, sondern gehörte einfach zu unserem Leben dazu. Es fehlte etwas, wenn wir es nicht machten und daran änderte auch das Datum des 24. Dezember nichts. Doch der Geist der Weihnacht war wohl anderer Meinung. Kaum fünf Zeilen hatte Heiko zu Papier gebracht, da wurde sein Bildschirm plötzlich schwarz. Erst dachten wir, sein Computer hätte das gleiche Problem wie meiner, doch bei ihm zeigte der Bildschirm auch mit künstlicher Hintergrundbeläuchtung nichts mehr an. Das war mal eine schöne Bescherung! Waren jetzt wirklich innerhalb von nur einer einzigen Woche gleich zwei Computer und ein Handy kaputt gegangen? Langsam glaubten wir bereits an einen Fluch der auf unserer Reise oder zumindest auf unserer technischen Ausrüstung lastete. Ratlos starrten wir auf den leeren Monitor. Immer und immer wieder versuchten wir es von neuem. Wie wollten wir so unsere Reisedokumentation fortsetzen? Mein neuer Computer war nicht mehr als eine Digitale Schreibmaschine mit einer Festplatte die nicht einmal so groß war, wie die unseres Handys. Er reichte um Berichte zu schreiben und sie auf unseren Blog zu stellen, doch mit Fotobearbeitung und Filmschnitt war er mehr als nur überfordert. Wir brauchten also mindestens einen funktionierenden Rechner, mit dem man wirklich arbeiten konnte. Ohne ihn, waren wir in Sachen Blog ziemlich aufgeschmissen. Doch noch gaben wir die Hoffnung nicht auf. Vielleicht hatte er nur einfach keinen Strom? Der akku zeigte 100% an und doch wirkte es als hätte er einfach schlapp gemacht. Nach einer halben Stunde leuchtete der Bildschirm für eine hoffnungsvolle Sekunde einmal weiß auf. Dann war alles wieder schwarz. Doch es war ein Lebenszeichen und wenn er es einmal konnte, dann konnte er es vielleicht auch noch ein weiteres Mal. Wir entschieden uns dafür, einen zweiten Gang Fondue zu erwärmen und probierten es anschließend noch einmal. Jetzt blieb der Monitor schon fast zwei Sekunden hell. Nach unserem dritten Weihnachts-Festessens-Durchgang startete er dann wieder ganz normal, so als wäre nichts gewesen. Was los war wissen wir noch immer nicht, aber fürs erste scheint wieder alles in Ordnung zu sein. Was das Arbeiten anbelangte waren wir für´s Erste trotzdem durch. Wir zogen uns in die Schlafsäcke zurück, wärmten uns wieder auf und sorgten mit "Kevin allein zu Haus" und "Tatsächlich Liebe!" dafür, dass wir doch noch in Weihnachtsstimmung kamen. Plötzlich klingelte unser Telefon. Ich klappte die Hülle zur Seite und warf einen Blick auf das Display. "Mama Handy" stand in großen Buchstaben über dem grünen und dem roten Hörersymbol. Sofort begann mein Herz zu rasen. Ich war wie in einem Schockzustand, wurde nervös, bekam schwitzige Hände und starrte gebannt auf das klingelnde Handy. "Was ist los?" fragte Heiko, "Wer ruft an?" "Meine Mutter!" sagte ich farblos und fügte dann hinzu: "Was mach ich denn jetzt?" "Na geh halt ran!" antworte Heiko und sprach damit das wohl offensichtliche aus. Ich drückte auf den grünen Hörer und rief "Hallo!" Keine Antwort. "Hallo?" rief ich erneut, "könnt ihr mich hören?" Wieder nichts. Ein paar mal probierte ich es noch, dann gab ich es auf und drückte auf den roten Hörer. Offenbar wollte das Handy unser Gespräch nicht verbinden. Irritiert ließ ich die Sache noch einmal auf mich wirken. Was war gerade passiert?

[AFG_gallery id='237'] Ein Jahr lang hatte ich mit Ausnahme von insgesamt vier SMS deren Inhalt nicht mehr als "Alles Gute zum Geburtstag!" und "Danke!" gewesen war, keinen Kontakt zu meinen Eltern gehabt. In dieser Zeit hatte ich für mich selbst sehr viel aufarbeiten können, hatte vieles verstanden, das mir zuvor ein Rätsel gewesen war und hatte viele unverdaute Grfühle abbauen und auflösen können. Es hatte sich sogar wieder so angefühlt, als wäre das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter zumindest aus meiner Perspektive weitgehend geklärt. Es war keine unangenehme, verletzte Stille mehr zwischen uns, sondern nur noch eine Stille, die sich immer friedlicher anfühlte und die vielleicht sogar wieder der Boden für eine neue friedvolle und erliche Beziehung werden könnte. So dachte ich jedenfalls. Und nun reichte ein einziger Anruf, den ich nicht einmal beantworten konnte aus, um mich wieder in Panik und Stress zu versetzen. Ich bin kein Psychologe, aber wenn ich raten müsste, dann würde ich sagen, dass wohl doch noch nicht alles wieder im Lot ist. Wieso sollte ich sonst so stark auf den Anruf reagieren? Wahrscheinlich wollte sie nicht mehr, als mir frohe Weihnachten zu wünschen und doch fühlte ich mich schlimmer als vor meiner mündlichen Bachelorprüfung. Es war keine Wut in mir, auch keine Ablehnung oder etwas in der Richtung, sondern nur Aufregung. Aber nicht die Art von Aufregung, die man vor einem schönen Urlaub verspürt oder als Kind am Heiligen Abend, kurz bevor es zur Bescherung geht. Es war die Aufregung die man verspürt, wenn man eine Prüfung ablegen oder sich einer schwierigen Aufgabe stellen muss. Warum also empfinde ich ein Gespräch mit meiner Mutter als eine schwierige, angsteinflößende Aufgabe? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich erleichtert war, dass unser Telefon in genau diesem Moment den Geist aufgab. Es war schon seltsam, wie die Sachen spielten. Nur wenige Stunden zuvor hatten wir mit Heikos Familie noch problemlos mit dem gleichen Telefon sprechen können und nun funktionierte es nicht mehr. Wollte es mich vor der Prüfung bewahren? War meine Aufregung vor dem Gespräch so groß, dass ich damit sogar den Lautsprecher lahmgelegt hatte?

Fortsetzung folgt ... Spruch des Tages: So viel zum Thema "Stille Nacht" Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 13 km Gesamtstrecke: 12.973,27 km Wetter: sonnig Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 89016 Rizziconi, Italien
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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