Tag 734: Die Stadt, die Verrückte macht

von Heiko Gärtner
05.01.2016 23:52 Uhr

Aus der Luft betrachtet war der Abstand zwischen Montalbano Jonico und Policoro eigentlich nicht besonders groß. Das Problem war jedoch, dass es keinen direkten Weg von der einen in die andere Stadt gab. Man musste erst ins Tal hinabsteigen, dann der Straße ins Landesinnere folgen, bis man auf einer Brücke über den Fluss kam und erst dann konnte man sich auf den Weg Richtung Küste machen. Die Strecke, die sich daraus ergab, war mit ihren 27km fast doppelt so lang, wie sie eigentlich hätte sein müssen, wenn es eine direkte Verbindung gegeben hätte. Aber dies war eben Italien. Einfach und direkt waren zwei Fremdwörter, die den wenigen Menschen, die sie überhaupt verstanden, allenfalls einen Ausdruck von Angst oder Ekel ins Gesicht jagten. Wenn man die Möglichkeit hatte, etwas kompliziert zu machen, dann ergriff man sie hier ohne ein Zögern und mit voller Inbrunst.

Gleichzeitig waren die meisten Italiener aber auch keine Freunde von schwerer oder intensiver Arbeit. Noch wichtiger als einfach Dinge möglichst komplex zu machen, schien es ihnen zu sein, sämtliche Dinge, egal ob einfach oder komplex, auf andere Menschen zu übertragen.

Ihr erinnert euch vielleicht noch, dass wir mit einem Schiff nach Italien gereist sind, auf dem sich außer uns fast nur albanische, serbische und mazedonische Landsleute befanden, und dass wir bereits damals schon das Gefühl hatten, dass es sich bei ihnen um Arbeitssklaven handelte. Heute sahen wir einen Teil dieser Menschen tatsächlich wieder. Ich hätte es nicht mit Bestimmtheit sagen können aber Heiko erinnert sich so ziemlich an jedes Gesicht, dass ihm einmal begegnet ist. Insbesondere dann wenn die bestreffende Person bei der ersten Begegnung vollkommen unerwarteter Weise mit nackten Brüsten in einem Treppenhaus auf einem Schiff saß und ihr Baby stillte. Diese Frau stand nun auf einem Feld und erntete Kohlrabi. Man sollte dabei vielleicht erwähnen, dass ihre Brüste dieses Mal bedeckt waren und dass ihr Kind nicht mit dabei war, aber abgesehen davon war es die gleiche Frau. Sie war in Begleitung von rund 20 anderen Albanern, von denen uns drei oder vier ebenfalls bekannt vorkamen. Vier Kleinbusse standen am Feldrand und um sie herum lagen lauter Rucksäcke und Taschen mit den persönlichen Gütern der Arbeiter verstreut. Zwei italienische Männer standen daneben und unterhielten sich über das Wetter. Kisten um Kisten füllten die Arbeiter und stapelten sie dann auf einen großen LKW, der die Ware in die nächste Stadt fuhr.

Wir befanden uns in diesem Moment auf einem Hochplateau, das komplett mit Feldern und Gewächshäusern übersäht war. Die Arbeitergruppe war nicht die einzige. Immer wieder kamen wir nun an Kleinbussen vorbei, die die ausländischen Hilfskräfte auf die Felder gespuckt hatten. Die meisten pflückten Kohlrabi und anderes Wintergemüse. Einige jedoch kümmerten sich um die Gewächshäuser selbst. Diese bestanden nicht wie man es vermuten könnte aus Glas oder Plexiglas, sondern aus großen Metallkonstruktionen, die mit durchsichtigen Plastikplanen bespannt wurden. Ein einzelnes Gewächshaus war locker 500 Meter lang und gut 10m breit. Sie standen wie glänzende Kunststoffrauben in einem Ködereimer dicht an dicht gedrängt auf der Hochebene und reichten bis zum Horizont. Jedes Jahr aufs neue mussten hier also Kilometer an Kunststofffolie verbaut werden, die danach zu Plastikmüll wurden. Wie viel Arbeit, wie viel Geld und wie viel Müll dadurch entstand, war schier unvorstellbar.

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Einige Tage später sollte sich unsere Hochrechnung im Kopf sogar noch einmal nach oben korrigieren. Ein heftiger Sturm fegte über das Land und zerfetzte die Kunststoffhäute der Gewächshäuser, als wären sie aus Seidenpapier. Wenn so etwas öfter passierte – und davon war auszugehen – dann mussten die Häuser nicht nur einmal, sondern viele Male im Jahr bespannt werden. Könnt ihr euch vorstellen, wie sich das auf die Müllproduktion auswirkt?

Am Ende der Hochebene konnte man bereits das Meer wieder sehen. Vor uns lag nun Policoro, unser heutige Zielstadt. Zunächst sah es eigentlich so aus, als hätten wir hier leichtes Spiel. Es gab mehrere Kirchen und Pfarrer und mehr Räume als wir für ein Leben gebraucht hätten. Doch wie so oft, wenn man hier eine Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten hatte, wurde es dadurch kompliziert. Gab es nur einen Pfarrer, dann war ihm bewusst, dass es seine Aufgabe war, sich um die Angelegenheiten in seiner Gemeinde zu kümmern. Gab es jedoch mehrere, dann konnte man seine Verantwortlichkeit immer leicht an jemand anderen abschieben. Und genau aus diesem Grund wurde Policoro zu einer Stadt die Verrückte macht. Der Verrückte war in diesem Fall ich. Auf meiner Suche nach einem Schlafplatz durchlief ich verschiedene Phasen, die man am Besten mit berühmten Zeichentrickfiguren vergleichen könnte. Zunächst fühlte ich mich wie bei Hase und Igel, wobei ich dummerweise der Igel war. Immer wenn ich ein Ziel erreichte, wurde ich zu einem neuen geschickt, das ganz am anderen Ende der Stadt lag. Das erste Mal, dass ich dabei wirklich jemanden antraf, war außerhalb der Stadt in einem großen Kirchenzentrum. Der Pfarrer reagierte erst beim fünften Mal auf mein Klingeln und sprach dann auch nur durch ein offenes Fenster, zwei Etagen über mir. Er verwies mich nach langer Diskussion auf einen gewissen Padre Minozzi und machte keinen Hehl daraus, dass er uns nur deshalb weiterleitete, weil er keine Lust hatte, seine Wohnung zu verlassen und nach unten zu gehen. Wo sich dieser Padre Minozzi befinden sollte sagte er mir nicht. Er befinde sich irgendwo in der Stadt neben einer Kirche. Das war alles was ich erfuhr. Dann schloss er das Fenster und ließ mich draußen Stehen. Dies war der Zeitpunkt, an dem ich vom Hasen zum HB-Männchen mutierte. Ich war stocksauer und verfluchte den Mann nach allen Regeln der Kunst. Dabei war ich wahrscheinlich gar nicht mal so sauer auf den Pfarrer selbst, sondern viel mehr auf den Umstand, dass ich schon wieder ohne Ende Zeit verlor, die ich eigentlich zum Aufholen der Berichte nutzen wollte. Es konnte doch nicht sein, dass ich meine Tage wieder nur noch damit verbrachte, sinnlos durch Städte zu rennen und mit dem, was ich eigentlich machen wollte, keinen Schritt weiter kam.

Ziellos hetzte ich in die Innenstadt zurück und versuchte irgendwie diesen ominösen Padre Minozzi ausfindig zu machen. Doch niemand konnte mir etwas über ihn erzählen. Niemand wusste wo er war oder welcher Gemeinde er angehörte.

„Frag doch mal in der Bar dort!“ sagte ein Mann, der selbst auch keine Ahnung hatte, „wenn dir jemand weiterhelfen kann, dann sicher der Barkeeper!“

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Ich folgte dem Rat und wandte mich an den Mann hinter dem Tresen.

„Entschuldigung!“ begann ich meine Frage. Weiter kam ich zunächst nicht, denn der Barmann war unverschämt gut drauf und dadurch sehr zum Scherzen aufgelegt.

„Nicht schlimm, du hast ja gar nichts kaputt gemacht!“ antwortete er deshalb. Ich verstand den Witz erst nicht und schaute ihn deshalb nur verwirrt an. Dann beschloss ich das Kommentar zu ignorieren und fuhr mit meiner Frage fort.

„Ich suche nach Padre Minozzi!“ sagte ich, „können Sie mir sagen wo ich ihn finde?“

„Hör mal Maria!“ rief der Mann nun seiner Kollegin zu, „der Mann hier sucht etwas! Hast du vielleicht was gefunden, was er verloren haben könnte?“

Wäre ich nicht ohnehin schon so genervt und gestresst gewesen, hätte ich vielleicht so getan, als würde ich das witzig finden um den Mann doch noch zu einer Antwort zu überreden. Doch mir war nicht danach.

„Hören Sie!“ sagte ich deshalb mit Nachdruck, „sagen Sie mir einfach, wo ich Padre Minozzi finde.“

„Du suchst also nach einer Kirche?“ fragte er.

„Nein, ich suche nach einem Pater!“

„Ach einen Pater suchst du!“ wiederholte er mit gespielter Überraschung, „Warum suchst du denn keine Mutter? Oder suchst du die auch? Nein, nicht? Nur einen Vater?“

Es kann sein, dass sein Spruch unter anderen Umständen vielleicht sogar wirklich witzig gewesen wäre, doch in diesem Moment regte er mich einfach nur auf. Wieder fühlte ich mich wie ein HB-Männchen und bekam meinen zweiten Wutausbruch innerhalb von zehn Minuten.

„Ach leck mich doch am Arsch du dummer Wichser!“ schnauzte ich ihn auf Deutsch an stapfte wütend aus der Bar und schlug die Tür hinter mir zu.

„Warte!“ rief er, „es war doch nicht böse gemeint!“

Doch das war mir egal. Ich hatte keine Lust mehr auf diesen Blödsinn. Noch immer wütend lief ich durch die Straßen und suchte nach einer Alternative. An einer Kreuzung stand ein Schild mit dem Hinweis auf ein Kloster.

„Entschuldigung!“ sagte ich an eine ältere Frau gerichtet, „Können Sie mir sagen, ob das Kloster dort noch bewohnt ist? Leben dort noch immer Schwestern oder Brüder?“

„Das Kloster?“ entgegnete die Dame, „Da müssen Sie einfach hier die Straße hochgehen, immer weiter, weiter, weiter, bis ans Ende, dann recht und dann gleich wieder links und dann immer weiter geradeaus.“

„Nein, nein!“ sagte ich verzweifelt, ich wollte doch wissen, ob dort noch jemand lebt.“

„Ja, ja“, beteuerte sie, „ganz einfach! Geradeaus, weiter, weiter, weiter, dann rechts, links und immer geradeaus!“

Ich bedankte mich und ging. Es hatte einfach keinen Zweck, mit den Menschen zu sprechen. Da mir nichts anderes einfiel, kehrte ich noch einmal zur aller ersten Kirche zurück. Zuvor hatte mir niemand aufgemacht, aber dieses Mal standen zwei Jugendliche vor der Tür, die ebenfalls zum Pfarrer wollten. Das war schon mal ein gutes Zeichen. Nach kurzer Wartezeit öffnete sich die Tür tatsächlich und ein kleiner dicker Mann mit puterroter Nase kam zum Vorschein. Er hatte eine Fahne, die mich gleich wieder aus der Tür hinauswehte und er war dicht wie eine Waschwanne. Zu meiner Überraschung war er kein Obdachloser, der versucht hatte, in der Kirche ein paar Almosen für seinen nächsten Vollrausch zu bekommen. Es war der Pfarrer selbst.

Mit seinen glasigen Augen schaute er mich an, hörte mir halbwegs zu und drängte mich, möglichst schnell zu machen, da der Kommunionsunterricht gleich beginnen würde und er in den Klassenraum musste. Zum ersten Mal, seit wir in Italien waren, hatte ich das Gefühl, dass es die Schüler waren, die mir leid taten und nicht der Lehrer.

Auch der kleine, dicke Alkoholiker wollte uns nicht direkt weiterhelfen. Zweihundert Meter die Straße hinunter sollte es ein Jugendzentrum geben, dass der Kirche gehörte. Dort würde man uns zweifelsfrei aufnehmen.

Ich startete also einen letzten Versuch und ging die Straße hinunter. Nach fünfhundert Metern hatte ich die Hoffnung schon fast aufgegeben. Hatte mich der Alkoholiker auch nur einfach abschieben wollen und zu diesem Zweck etwas erfunden, was es gar nicht gab?

Doch gerade als ich schon umkehren wollte, tauchte auf der rechten Straßenseite ein hässliches Betongebäude auf, dessen Dach von einem kleinen Kreuz geziert wurde. Daneben befand sich ein großer Gebäudekomplex mit einem auffälligen Schriftzug an der Seite: „Kirchliches Jugendhaus Padre Minozzi“

Ich schlug mir mit der flachen Hand an die Stirn. Darum war es also die ganze Zeit gegangen. Padre Minozzi war kein Pfarrer, er war Namensgeber für dieses Zentrum. Ich hatte von Anfang an hier her gesollt.

Leider war auch hier zunächst niemand zu finden. Ich durchstöberte das ganze Haus und rief unaufhörlich nach einem Verantwortlichen, doch es schien niemand da zu sein. Betrübt ging ich wieder nach draußen und wollte die Suche schon aufgeben, als ich im Garten ein Rascheln hörte. Ein alter Mann stand unter einigen Olivenbäumen und pflückte ein paar reife Früchte.

Im ersten Moment hielt ich ihn für den Pfarrer, der mich aus seinem Zimmerfenster hier her gelotst hatte. Erst viel später viel mir auf, dass sich die beiden nur sehr ähnlich sahen. Diesen Mann hatte ich zuvor noch nicht gesehen. Ich hatte aber von ihm gehört. Lina, die nervige, hektische Dame vom Vortag hatte von ihm gesprochen und uns empfohlen, zu ihm zu gehen. Ihren Angaben nach, sollte er jedoch nicht in Policoro, sondern direkt unten am Meer wohnen. Das wären noch einmal gute zehn Kilometer hinter der Stadt gewesen, weshalb wir ihn von vornherein ausgeschlossen hatten. Wäre Lina beim Essen nur ein bisschen präziser mit ihren Angaben gewesen, hätten wir uns das ganze Theater also sparen können.

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Völlig erschöpft sackten wir in unserem Zimmer auf den Betten zusammen. Heiko hörte einen Oberton bei jedem Geräusch, der eigentlich nicht da sein sollte. Er hatte zwar den Stress in der Stadt nicht mitgemacht, aber der laute Verkehr hatte sich auch auf ihn ausgewirkt. Für heute waren wir mit der Welt soweit erst einmal durch. Wir wollten nur noch Ruhe und Entspannung.

Doch kaum hatte ich mich hingesetzt, klingelte das Telefon, das wir unerwarteter Weise auf unserem Zimmer hatten. Es war der Mann vom Empfang. Eine Frau wäre an der Rezeption aufgetaucht und würde sich gerne mit den beiden Pilgern treffen. Sie sei die beste Freundin einer Dame aus Montalbano Jonico, die uns bekannt sein müsste. Die Freundin heiße Lina.

„Habt ihr einen Moment Zeit, um die Dame zu begrüßen?“

Spruch des Tages: Du suchst den Pater? Warum nicht die Mutter?

Höhenmeter: 360 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 13.093,27 km

Wetter: bewölkt, dann spontaner Platzregen und am Ende wieder Sonnenschein

Etappenziel: Altenheim, 88040 Feroleto Antico, Italien Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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