Tag 735: Zurück in die Berge

von Heiko Gärtner
05.01.2016 23:59 Uhr

„Es tut mir leid!“ sagte ich am Telefon, „wir sind leider komplett erschöpft und haben uns schon ins Bett gelegt.“

Wenn wir in Italien an einem Platz ankamen und sagten, dass wir den Nachmittag damit verbrachten, an unseren Büchern und unserem Reisetagebuch zu arbeiten, dann stießen wir damit nur selten auf Verständnis. Erklärte man jedoch, dass man von der Reise müde sei und daher schlafen müsste, dann wurde dies sofort akzeptiert. Daher hoffte ich nun, dass dies auch in diesem speziellen Fall als Ausrede gelten würde, um das Treffen mit der Frau an der Rezeption abzuwenden. Wir kannten sie ja nicht, aber wenn sie Linas beste Freundin war und nachts vor der Tür einer Jugendherberge auftauchte, um sich mit Menschen u verabreden, die sie nie gesehen hatte, dann sprach das nicht dafür, dass sie ein besonders entspanntes und angenehmes Wesen war. Schon unter Idealbedingungen hätten wir das Treffen daher vermeiden wollen und heute natürlich ganz besonders. Ganz erfolgreich war ich aber leider doch nicht. Wir konnten zwar ein persönliches Treffen abwenden, doch die Dame ließ sich nicht vollkommen ohne Kontakt abwimmeln. Zumindest am Telefon wollte sie mit uns sprechen und der Portier war nicht bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um uns davor zu schützen. Etwa zehn Minuten schrie sie mir über den Höher ins Ohr. Ich kann nicht sagen, was sie mir dabei erzählte, aber vom Tonfall hätte ich nicht sagen können, ob es sich nicht vielleicht doch um Lina persönlich handelte. Am Ende wurde mir dann noch eine weitere Frau gereicht, die uns einfach eine gute reise Wünschte und uns bat, für sie zu beten. Was wir mit ihr zu tun hatten verstand ich nun überhaupt nicht mehr, aber ich hatte auch aufgehört, mich darüber zu wundern.

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Am nächsten Morgen schenkte uns der Mann von der Rezeption noch einen Sack mit Orangen und ein paar kleine Päckchen Orangensaft für den Weg. Dann verließen wir die Stadt und kehrten wieder in die Berge zurück.

Heute war der erste Tag, an dem wir richtig ins Gebirge kamen. Bislang waren wir ja nur auf der Küstennahen Hochebene gewandert, doch diese ging nun in ein ernstzunehmendes Gebirge über. Je anstrengender es dabei wurde, desto ruhiger wurde es auch. Die großen Straßen lagen hinter uns und führten um das Gebirge herum an der Küste entlang. Vor uns lag eine kleine Ortschaft, die auf eine spitze Bergkuppe gebaut worden war. Sie war beeindruckend anzusehen, verlocke aber nicht gerade, um sie zu Fuß zu besuchen. Zum Glück handelte es sich bei ihr nicht um unsere Zielortschaft, obwohl die auch nicht viel leichter erreichbar war. Während wir die Wagen die steilen Hänge hinaufwuchteten, fragten wir uns, warum man die Städte wohl immer an so unwegsame Orte gebaut hatte. Im Tal gab es weite, ebene Flächen auf denen man mit Leichtigkeit Häuser errichten konnte. Hier oben aber war alles schwieriger. Hinzu kam, dass sich die Menschen hier auf engsten Raum quetschten, so dass es weder Gärten noch Beete gab, in denen man etwas hätte anbauen können. Obwohl es überall ausreichend Platz gab, entschieden sich die Menschen freiwillig dafür, sich zusammenzupferchen wie in einer Legebatterie, um dann von einer Landwirtschaft abhängig zu werden, die sie selbst nicht mehr beeinflussen konnten. Was hatte sie zu so einem Schritt motiviert? Allein die tolle Aussicht konnte es kaum gewesen sein, denn viele der Häuser lagen so, dass man nur die Nachbarn sehen konnte, nicht aber die Berge oder das Meer. Die einzige, plausible Antwort, die uns einfiel war Angst. Heute war es wahrscheinlich nicht mehr so wichtig, aber früher schützten die steilen Hänge die Ortschaft vor möglichen Angreifern und Räubern. Wenn die Welt da draußen gefährlich war, dann war es sicherer, sich zusammenzuraufen und irgendwo ganz nach oben zu klettern, dorthin, wo einem niemand folgen konnte.

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Die Kirche in unserem Zielort wurde von einem Pfarrer betreut, der unten im Tal wohnte. Eine Frau, die in der Nähe der Kirche wohnte, gab uns seine Telefonnummer und er versprach uns, sich am Nachmittag mit uns zu treffen und uns einen Raum zur Verfügung zu stellen.

Zunächst wollten wir auf einem Dorfplatz warten, von dem aus man eine gigantische Aussicht über das Land hatte. Leider gab es hier schon wieder einige Hunde, die einfach nicht zu bellen aufhören wollten. Es waren nur drei kleine Tiere, die unter uns auf einem Parkplatz saßen und von dort aus die ganze Stadt terrorisierten. Der Grund dafür war eine kleine Katze, die oben auf einer Mauer lag und sich sonnte. Die Hunde hassten sie und versuchten sie nach Leibeskräften zu nerven und zu vertreiben. Von allen Seiten belagerten sie, bellten, sprangen und knurrten. Doch die Katze ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie war tiefenentspannt und kein Hund der Welt konnte etwas daran ändern. Fasziniert schauten wir ihr dabei zu. Heiko war bereits auf diese Entfernung kurz vorm durchdrehen. Wenn er die Katze gewesen wäre, dann hätte er jedem der kleinen Kläffer einen solchen Prankenhieb verpasst, dass sie bis hinunter ins Tal gerollt wären. Doch diese Katze war die Ruhe selbst. Wie machte sie das nur? War es reine Hingabe? Oder kochte sie innerlich, ließ es sich aber nicht anmerken? Nein, das konnte nicht sein, denn Tiere logen normalerweise nicht. Wenn sie wütend gewesen wäre, dann hätte sie es den Hunden auch gezeigt. Da sie es nicht tat, musste sie eine Meisterin der inneren Ruhe sein und das bewunderten wir zu tiefst.

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Trotzdem nahmen wir das Angebot des Pfarrers an und zogen in eine leerstehende Kapelle um. Nach einiger Zeit brachte uns die Familie, die uns das Telefon geborgt hatte sogar noch etwas zu essen. Dann kam der Pfarrer und führte uns in das alte Pfarrhaus. Der einzige Nachteil den das Haus hatte war, dass es hier leider keinen Strom gab. Wir saßen also nach relativ kurzer Zeit im Dunkeln und waren froh, dass wir eine funktionierende Stirnlampe dabei hatten.

Für das Abendessen gab uns der Pfarrer eine Pizza aus, die wir uns auf seinen Namen in einer Pizzeria abholen durften. Als wir dort ankamen, mussten wir jedoch feststellen, dass der Restaurantbetreiber nicht die ehrlichste Haut war. Dem Pfarrer hatte er zwar zwei Pizzen abgerechnet, uns gab er aber nur eine. Gut, dass uns die Nachbarn noch mit einigem Proviant versorgten, sonst hätten wir auch Nahrungstechnisch ordentlich im Dunkeln gesessen.

Spruch des Tages: Endlich geht es wieder bergauf!

Höhenmeter: 1030 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 13.105,27 km

Wetter: starker Dauerregen

Etappenziel: Saal der Stadtgemeinde, 88040 Serrastretta, Italien Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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