Tag 736: Der Waisenhund – Teil 1

von Heiko Gärtner
06.01.2016 00:08 Uhr

Von dem kleinen Dorf Nova Siri ging es zunächst noch einmal ein gutes Stück bergauf. Dann erreichten wir einen Pass und von hier aus führte eine schale Straße fast im freien Fall ins Tal hinunter. Unten kamen wir an ein ausgetrocknetes Flussbett an dem wir zunächst eine Weile auf einem holprigen Feldweg entlangwanderten. Dann verschwand der Feldweg und wir wanderten einfach direkt im Flussbett. Als auch dieses so unwegsam wurde, dass wir nicht weiter kamen, mussten wir einsehen, dass wir vollkommen feststeckten. Wir stellten sie Wagen ab und schwärmten aus, um nach einem Weg zu suchen. Laut meiner Karte sollte es einen geben, der etwas weiter rechts von uns verlief. Dieses „rechts von uns“ lag leider auch gut fünfzig Meter über uns, so dass wir dem Tal nur entkommen konnten, wenn wir unsere Wagen ein steiles Feld hinauf wuchteten. Als wir den Weg dann endlich erreicht hatten, führte er geradewegs zurück nach unten, dann auf einer Brücke über den Fluss und auf der gegenüberliegenden Talseite wieder steil nach oben. Das nächste Dorf lag nur etwa zehn Kilometer entfernt, doch als wir dort ankamen waren wir so fertig, als hätten wir gerade einen Triathlon hinter uns. Es war an der Zeit anzukommen und sich auszuruhen. Jedenfalls sahen wir das so. Die Dorfbewohner sahen das leider ganz anders. Jedem von ihnen tat es leid, dass sie uns nicht helfen konnten, aber keiner sah sich berufen, etwas daran zu ändern. Es war schon wieder das gleiche wie zwei Tage zuvor in Pelicoro. Der Pfarrer schickte uns zum Rathaus, das Rathaus zu den Nonnen und die Nonnen wieder zum Pfarrer. Langsam wurde dieses Spiel etwas lästig. Am Ende blieb uns nichts anderes übrig, als noch einmal weiter zu ziehen.

Der nächste Ort hieß Oriolo und war noch einmal rund 12km entfernt. Allerdings nur dann, wenn man sich wieder auf das Spiel mit den Schleichwegen einließ. Dies war nun aber etwas zu riskant, denn unser Handy-Akku war bereits fast aufgebraucht. Es bestand also die Gefahr, dass wir irgendwo in der Walachei standen und uns das Kartenmaterial im Stich ließ. Die Alternative war der Weg über die Hauptstraße. Sie war zwar nicht befahren, führte aber komplett um das ganze Tal herum, wodurch sich die Wegstrecke mehr als verdoppelte. Je weiter wir kamen, desto sicherer waren wir uns, dass diese Straße den wohl sinnlosesten Streckenverlauf hatte, den es auf der Welt gab, Sie schlängelte sich links und rechts herum, führte nach oben, wieder nach unten und dann wieder hinauf. Verständlich wäre es gewesen, wenn man den Streckenverlauf verlängert hätte, um dadurch Höhenmeter zu sparen, oder wenn man sich mehr Höhenmeter aufgelastet hätte um dadurch Strecke zu sparen. Doch beides so viel wie möglich anzuhäufen machte in unseren Augen einfach keinen Sinn. Ebenso wenig verstanden wir die Stellen, an denen die Strecke über die Bergpässe führte. Normalerweise wurden Straßen im Gebirge immer über die niedrigsten Stellen gelegt, wenn man von einer Seite des Berges auf die andere wechseln musste. Diese Straße jedoch, schien ganz bewusst immer über die höchsten Stellen geleitet worden zu sein.

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Nachdem wir es geschafft hatten, den höchsten dieser Pässe zu queren, hörten wir plötzlich neben uns im graben ein bitterliches Weinen. Wir hielten an und schauten uns die Sache genauer an. Versteckt im Gras saß ein kleiner, verängstigter Hundewelpe. Jemand musste ihn hier ausgesetzt und seinem sicheren Tod überlassen haben. Mit riesigen und mitleidserweckenden Augen schaute er uns an.

„Gott bist du süß!“ sagte ich, als Heiko den kleinen auf den Arm nahm. Wir konnten ihn unmöglich hier sterben lassen! Also wurde das kleine Kerlchen geschnappt und hinten in Heikos Wagen gesetzt. Auf diese Weise hatten wir immerhin schon zwei Katzen in Sicherheit gebracht. Nun war das erste Mal ein Hund dran. Doch leider war das kleine Hündchen nicht so pflegeleicht, wie seine beiden Vorgänger.

Bereits nach wenigen Metern begann er in seiner neuen Mitfahrgelegenheit herumzukrabbeln. Erst nur ein bisschen, dann immer mehr, immer weiter und immer wilder. Schließlich war er kurz davor herauszufallen. Zeitgleich begann er damit, leise herum zu quengeln. Er fiepte und quietschte wie ein kleines Kind, das um Aufmerksamkeit bettelte. Damit er sich nicht verletzte nahm ich ihn aus Heikos Wagen und hielt ihn auf dem Arm. Es war kein leichtes Unterfangen, denn es ging recht steil bergab und ich brauchte eine Hand zum Bremsen, doch ich nahm das Risiko auf mich, um den kleinen Hund zu schützen. Wieder ging es ein paar Minuten lang gut, doch dann begann er wieder zu weinen und zu quieken. Ich versuchte ihm gut zuzureden, streichelte ihn und probierte verschiedene Tragepositionen aus, um eine zu finden, die ihm gefiel. Doch nichts half. Sein Quengeln wurde immer lauter und er stieß nun Töne aus, die richtig in den Ohren schmerzten.

„Wir können ihn so nicht mitnehmen!“ sagte Heiko, „Das halten wir nicht aus. Wenn er so weiter macht, dann drehen wir auf jeden Fall durch, bevor wir die Stadt erreichen!“

Er nahm ihn nun selbst für einen Moment auf den Arm und versuchte ihm gut zuzureden. Einige Sekunden schwieg er, dann begann das Theater von neuen.

Auf eine gewisse Weise erinnerte uns der kleine Hund an Paulina. Erst war es nur ein vages Gefühl, doch je länger er bei uns war, desto mehr wurde uns bewusst, dass wir mit ihm unsere gesamte Herdenzeit noch einmal im Schnelldurchlauf erlebten.

Er war ein Kerlchen, das Hilfe brauchte und das dadurch unser eigenes Rettersyndrom ansprach. Wir brachten es nicht übers Herz, ihn zurückzulassen und nahmen daher eine Verantwortung auf uns, die uns eigentlich nichts anging. Wie bei Paulina steckten wir auch in diesem Fall unsere eigenen Bedürfnisse zurück und versuchten jemanden zu retten, der gar nicht gerettet werden wollte. Besser gesagt, versuchten wir jemanden zu retten, der zwar gerettet werden wollte, aber nicht dafür bereit war. Der Lohn für unsere Bemühungen war, dass uns der kleine Hund in den Ohren lag und durch sein quietschendes, schrilles Gejammer Schmerzen zufügte. Wäre er nicht so niedlich gewesen, hätten wir ihn sofort wieder zurückgelassen. Einen selbstständigen, ausgewachsenen Hund mit dem gleichen Verhalten hätten wir sogar vertrieben. Doch weil er klein, niedlich und hilfsbedürftig erschien, verziehen wir ihm seine Angriffe auf unser Wohlbefinden. Genauso hatten wir es auch bei Paulina gemacht. Wäre sie irgendjemand gewesen, dann hätten wir gleich beim ersten Streit einen Schlussstrich gezogen. Doch sie hatte einen Welpen-Bonus bekommen und aufgrund dessen hatten wir ihr vieles durchgehen lassen, obwohl wir wussten, dass es uns nicht gut tat. Wie Paulina sorgte dabei auch der kleine Hund permanent für eine Risikoerhöhung. Er hüpfte auf dem Wagen umher, ohne Rücksicht darauf, dass er stürzen und sich verletzen könnte. Wir opferten unsere Bremshand, um ihn zu halten und wir schenkten ihm Zeit, die wir aufgrund der langen Strecke eigentlich nicht hatten. Doch Dankbarkeit bekamen wir deswegen nicht. Nur ein lautes Quieken, das in den Ohren schmerzte.

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Nachdem wir alle Wege im Guten versucht hatten, um ihn zum Schweigen zu überreden, versuchte Heiko es nun im Bösen. Er schnauzte den Hund an, fragte ob er noch ganz bei Trost sei, die Menschen so zu verärgern, die ihn gerade vor dem Tod bewahren wollten und drohte ihm damit, ihn einfach wieder auszusetzen. Der kleine schaute ihn verdutzt und mit großen Augen an und für einen kurzen Moment gab er wirklich Ruhe. Man konnte ihm ansehen, dass er Heiko verstanden hatte. Die Worte mochten ihm Fremd sein, doch die Gefühle verstand er klar und deutlich. Doch lange beeindruckte ihn auch dies nicht. Heiko packte ihn am Genick und hielt ihn nun so, wie seine Mutter es getan hätte. Eine Weile war er nun wieder ruhig, doch auch dieses Mal begann er kurz darauf erneut mit seinen unerträglichen Schreien. Heiko gab ihm einen kleinen Stupser, um deutlich zu machen, dass sein Verhalten nicht geduldet wurde. Er verstummte, schwieg einige Sekunden und begann von Neuem. Wieder ein Stupser, wieder ein Schweigen und wieder ein Neubeginn der Schreie. Das ganze ging etwa fünf Minuten so. Dann wurde es Heiko zu viel.

„Es geht einfach nicht! Er will nicht gerettet werden, also sollten wir das akzeptieren!“

Er setzte ihn auf der Straße ab, wir verabschiedeten uns, wünschten ihm viel Glück und gingen weiter. Nun aber wurden seine Schreie so erbärmlich und durchdringend, dass wir es einfach nicht übers Herz brachten, ihn dort zurückzulassen. Er schaute so traurig hinter uns her und bettelte darum, dass wir ihn wieder mitnahmen.

Noch einmal ließen wir uns auf das Spiel ein. Wir fühlten uns wie damals, als Paulina am Stausee zurückbleiben wollte und nach unserem Weggang einfach weinend am Wegesrand sitzen geblieben war. Vielleicht wäre es richtig gewesen, einfach weiter zu gehen, doch wir konnten es nicht. Damals nicht und auch heute nicht. Die Frage war nur warum? Warum haben wir das Gefühl, Wesen retten zu müssen, die uns als Dank dafür nur Schaden zufügen? Warum glauben wir, dass wir einen sterbenden kleinen Hund nicht einfach sterben lassen können, wenn er sich mit Händen und Füßen gegen eine Rettung wehrt? Heiko erinnerte sich an seine Zeit als Rettungssanitäter. Damals hatte er oft mit seinen Kollegen darüber diskutiert, was der richtige Umgang mit schwierigen Patienten war. Als Außenstehende glauben wir, dass sich ein Unfallopfer im Allgemeinen über das Eintreffen von Sanitätern freut, doch das ist nicht immer der Fall. Es kommt nicht selten vor, dass die Verletzten genauso reagieren, wie der kleine Hund, dass sie dem Helfer Schaden zufügen, sich gegen ihn wehren und ihn verletzen wollten. Wie also ging man damit um? Sollte man sich verletzen lassen? Sollte man sich abwenden und den aggressiven Verwundeten einfach sterben lassen? Oder sollte man ihm einen Schlag ins Gesicht verpassen, damit er sich beruhigte und man mit ihm arbeiten konnte? Sollte man den Willen brechen, um ihm helfen zu können? Oder sollte man ihm seinen Willen lassen, auch wenn es seinen Tod bedeutete? Wann entschied man sich wie? Warum versuchte man einen Welpen zu retten, nicht aber eine sterbende Kröte? Warum ließ man sich von jemandem verletzen, der selbst ein Opfer war, während man ein starkes Wesen in seine Grenzen wies?

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Eine verwundete Giftschlange, die ständig nach einem beißt rettet man ja schließlich auch nicht. Warum ziehen wir hier die Grenze? Nur weil wir etwas als niedlich oder sympathisch empfinden und etwas anderes nicht?

Fortsetzung folgt ...

Spruch des Tages: So niedlich und doch so nervig...

Höhenmeter: 200 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 13.118,27 km

Wetter: Dauerregen

Etappenziel: Mediathek, 88049 Soveria Mannelli, Italien Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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