Tag 737: Der Waisenhund – Teil 2

von Heiko Gärtner
14.01.2016 15:36 Uhr

Fortsetzung von Tag 736:

Wieder versuchten wir den kleinen Nervenbolzen zur Vernunft zu bringen. Ich hielt ihn auf dem Arm, am Genick, drehte ihn auf den Kopf, hielt ihm die Augen oder den Mund zu oder schüttelte ihn. Mit jedem Moment den er weiter auf uns einschrie wurde unser Mitgefühl für ihn kleiner. Wut stieg in uns auf. Wir konnten den Ist-Zustand des Schreiens nicht annehmen, doch ändern konnten wir ihn auch nicht. Dies war es, was uns wütend machte. Es war dieses Gefühl der Machtlosigkeit, während ein anderer ständig die eigene Grenze überschritt. Die Schreie trieben uns in den Wahnsinn. Wir wollten nur noch dass es aufhörte. In Heikos Kopf zeichneten sich bereits die ersten Gewaltfantasien ab. Sein Aggressionslevel war bereits so hoch, dass er den Hund am liebsten gepackt und mit dem Kopf gegen eine Felswand geschleudert hätte, bis das Blut nach allen Seiten spritzte. Bei mir war es etwas anderes. Noch wollte ich dem Hund nicht weh tun, sondern nur diesen grässlichen Ton aus meinem Kopf bekommen. Die Fantasien, die in meinem Kopf auftauchten waren daher nicht die von blutiger, sondern von drückender Gewalt. Ich verstand plötzlich, wieso Eltern ihre schreienden Kinder mit einem Kissen ersticken konnten, wenn sie es nicht mehr aushielten. Mir ging es in diesem Moment ganz genauso. Ich merkte, dass ich den Hund in meinem Arm immer fester drückte und dass ich sogar meine Hand auf sein Gesicht gepresst hatte. Ich wollte nur noch, dass er mit diesem Quietschen aufhörte. Er sollte endlich still sein. Nur noch ein bisschen fester drücken, dann war es vorbei. Dann war endlich wieder Ruhe.

Plötzlich erschrak ich vor mir selbst. Ich war gerade dabei einen kleinen Hund zu ersticken, den ich eigentlich retten wollte. Was war nur los mit mir? War etwas los mit mir? Oder reagierte ich vielleicht auch ganz natürlich? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass wir so nicht weiter machen konnten.

„Es geht nicht!“ sagte nun auch Heiko und seine Stimme bebte vor Zorn, „Wenn wir ihn noch lange bei uns haben, dann bringe ich ihn um! Ich werde ihn einfach erschlagen und dann hat sich die Sache. Dann haben wir unsere Ruhe und sein Leid ist damit auch beendet!“

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Erstaunt stellten wir fest, dass wir es moralisch eher vertreten konnten, den kleinen Hund zu töten, als ihn einfach hier zurück zu lassen, wo er wahrscheinlich von alleine sterben würde. Ihn auszusetzen kam uns kaltherzig vor, ihn umzubringen dagegen weitaus weniger. Warum war das so?

Wir erkannten, dass auch der kleine Hund dieses Opferbewusstsein hatte, dass wir bei Paulina bemerkt hatten. Wenn wir ihn zurück ließen, dann kamen wir uns schuldig vor. Er schaute uns dann traurig an und löste in uns das Gefühl aus, ihn im Stich gelassen zu haben. Gleichzeitig nutzte er dieses Opferbewusstsein aber auch, um über jede Grenze gehen zu können, die unser eigenes Wohlbefinden betraf. Und hier begann nun der Selbsterhaltungstrieb in uns zu wirken, der es uns erlaubte, das eigene Leben vor das eines anderen zu stellen.

Trotzdem kamen uns beide Wege nicht richtig vor. Wie bei Paulina brauchten wir auch bei dem kleinen Hund, den wir inzwischen Paule genannt haben, eine humane Lösung. Eine Lösung, die vielleicht nicht ideal war, aber mit der wir trotzdem alle Leben konnten. Wir brauchten einen Platz, an dem wir Paule zurücklassen konnten, ohne dass er dadurch sterben würde. Wir brauchten Alternativeltern.

Einen knappen halben Kilometer mussten wir die Tortur mit dem Kleinen noch über uns ergehen lassen, dann entdeckten wir zwei Männer mit einem Pick-Up, die am Straßenrand parkten. Sie hatten selbst zwei Hunde dabei und wohnten sicher in der nahegelegenen Stadt. Ich erzählte ihnen von dem kleinen Hund und versuchte sie davon zu überzeugen, ihn bei sich aufzunehmen. Doch sie hatten kein Interesse. Ihr Helfersyndrom war bei weitem nicht so ausgeprägt wie unseres. Verdenken konnten wir es ihnen nicht, denn der kleine Köter machte während des ganzen Gespräches noch einmal extra großen Terror. Niemand, auch wenn er noch so tierlieb war, konnte ihn in diesem Moment gern haben.

Wieder blieb er bei uns und wir mussten ihn noch einmal einen Kilometer ertragen. Was als fröhliche Hilfsaktion begonnen hatte war nun eine reine Tortur geworden. Die Niedlichkeit des kleinen Hundes war in unseren Augen nun vollkommen verschwunden. Er war nur noch ein nerviger Quälgeist für uns den wir irgendwie loswerden mussten, ohne uns deswegen schuldig zu fühlen.

Etwas unterhalb der Straße hörte man im Wald einige Menschenstimmen und lautes Hundegebell. Es klang nicht nach einem angenehmen Platz, aber für unseren kleinen Plagegeist war es vielleicht kein schlechter Ort. Wir stellten die Wagen ab und ich stieg den schmalen Pfad in den Wald hinab. Heiko verabschiedete sich bereits an der Straße von unserem Findelkind. Er wünschte ihm alles Gute und dass er einen Platz finden würde, an dem er überlebte. Freude oder Sympathie empfand er dabei jedoch nicht mehr.

Eine Frau und zwei Männer waren dabei einen Olivenbaum abzuernten. Die Frau kam auf mich zu, als sie mich und das Hündchen erblickte.

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„Oh, das arme Wauzili!“ sagte sie mitleidig, „so ein niedliches Hündchen und es wurde einfach ausgesetzt?“

Ich erklärte ihr, dass wir zu Fuß unterwegs waren und ihn deshalb nicht behalten konnten, so dass wir ein neues Zuhause für ihn brauchten.

„Na dann viel Glück!“ sagte sie und jegliches Mitleid war aus ihrer Stimme verschwunden. Sie selbst hatte kein Interesse an einem vierbeinigen Findelkind, aber vielleicht konnte uns die Bewohnerin des Hauses weiterhelfen, das ein Stückchen oberhalb lag.

Ich folgte ihrem Rat und ging in Richtung des Hauses. Noch bevor ich das Grundstück erreichte, kläfften mich sechs Hunde an, die das Haus bewachten. Der Ort war die Hölle, doch für unseren Welpen war er vielleicht nicht verkehrt. Hier hatte er zumindest Vorbilder, die ihn endgültig verziehen konnten. Dass die Hausbesitzerin ihn aufnehmen würde, wenn ich sie darum bat, konnte ich mir jedoch nicht vorstellen. Das Mitgefühl der Menschen hier schien doch eher begrenzt zu sein und wenn sich bereits jemand anderes um ein bedürftiges Wesen kümmerte, dann gab es offenbar keinen Grund, selbst auch noch tätig zu werden. Ich wollte nicht riskieren, den Hund am Ende wieder dabei zu haben und so setzte ich ihn einfach in den Garten. Für einen Moment hatte ich etwas Angst, dass die anderen Hunde ihn vielleicht als Feind ansehen und angreifen könnten, doch sie nahmen keine Notiz von ihm. Ich warf dem kleinen noch einen letzten Blick zu. „Mach’s gut Paule!“ mehr sagte ich nicht. So sehr ich ihn am Anfang auch ins Herz geschlossen hatte, so sehr spürte ich nun, dass ich ihm gegenüber vollkommen erkaltet war. Ich war froh, dass er weg war und dass es hier vielleicht einen Ort gab, an dem er leben konnte. Wenngleich es kein schöner Ort war. Für seine Niedlichkeit war ich vollkommen blind geworden und auch heute kommt mir nur das grässliche Kreischen in den Sinn, wenn ich an ihn zurück denken.

„Was machen Sie da!“ rief eine Frauenstimme hinter mir, als ich zurück zur Straße ging, „dies ist ein Privatgrundstück, Sie dürfen sich hier nicht aufhalten!“

Ich zögerte einen Moment. Sollte ich ihr von dem Hund erzählen? Ich entschied mich dagegen. „Tschuldigung!“ sagte ich, „Ich habe mich nur ein bisschen verirrt!“

Die ganze Aktion hatte eine gute halbe Stunde gedauert und es wurde bereits wieder dunkel. Auch dies erinnerte uns an Paulina. Wie an den Tagen, an denen wir mit ihr darüber diskutiert hatten, ob sie nun bei uns bleiben wollte oder nicht, waren wir auch heute aufgrund dieser Unentschlossenheit in Verzug geraten.

Die ganze Begegnung mit dem Hund war kein Zufall gewesen. Durch ihn hatten wir unser Herdenleben noch einmal im Schnellverfahren durchleben dürfen und konnten dabei feststellen, dass wir wieder genauso gehandelt hatten, wie beim ersten Mal. Nur, dass unsere Toleranzgrenze dieses Mal bereits sehr viel früher erreicht war.

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Der Straßenverlauf hatte seine Sinnlosigkeit noch immer nicht aufgegeben. Kurz nachdem wir Paule zurückgelassen hatten, sahen wir die Stadt zum ersten Mal. Doch wir erreichten sie noch lange nicht. Von hier aus wanderten wir weitere zwei Stunden tief ins Tal hinab. Die Stadt, in die uns die Straße führte lag jedoch am Hang. Wir mussten also am Ende noch einmal hinaufsteigen. Was sich die Straßenbauer dabei gedacht haben, wird wohl ewig ein Rätsel bleiben.

In der Stadt machte ich mich auf die Suche nach dem Pfarrer. Er hielt gerade Gottesdienst in einer kleinen Kirche, war aber im Anschluss sofort bereit, uns aufzunehmen. Als wir uns anschließend gemeinsam auf den Weg zum Pfarrhaus machten, kam es zu zwei weiteren ominösen Begegnungen an diesem Tag. Zunächst wurden wir von einer betrunkenen Frau angelallt, die uns ein gutes Stück verfolgte. Dann kam eine andere Frau auf uns zu, die uns auf Englisch ansprach. Ihre Hände zitterten und sie wirkte leicht verwirrt. Sie kam mit ihrem Gesicht nahe an uns heran, so als wolle sie uns ein wichtiges Geheimnis mitteilen. Dann erzählte sie uns von Medjugorje und schärfte uns ein, dass es wichtig war, viele Male am Tag den Rosenkranz zu beten. Wir sollen es für sie tun, aber auch für uns selbst.

So höflich wie möglich baten wir die Frau, uns alleine zu lassen und verschwanden im Inneren der Kirche. Kurz darauf bat uns der Pfarrer ganz besonders darauf zu achten, dass wir alle Türen verschlossen hielten und niemanden herein ließen. In der Gegend würden sich seiner Meinung nach einige Verrückte herumtreiben.

Wir bauten unser Lager auf, doch bevor wir uns zur Ruhe legen konnten, gab es noch einiges zu erledigen. Die ständigen Berg- und Talfahrten hatten die Bremsen unserer Wagen stark beansprucht. Es war Zeit, sie zu erneuern, ganz gleich, wie lang der Tag bereits gewesen war.

Spruch des Tages: Geh mit Gott, aber geh!

Höhenmeter: 310 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 13.134,27 km

Wetter: Dauerregen

Etappenziel: Alte, zum Konferenzhaus umgebaute Schule, 87057 Scigliano, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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