Tag 770: Vollkommene Überschwämmung

von Heiko Gärtner
13.02.2016 01:58 Uhr

04.01.

Ich weiß, ich habe das schon öfter gesagt, aber dies war definitiv der härteste Tag unserer bisherigen Reise. Es regnete bereits in Strömen, als wir aufwachten und es regnete noch, als wir am Abend einschliefen. Dabei meine ich aber keinen läppischen Regen, wie man ihn von unseren grauen Herbsttagen her kennt, sondern einen Vollgasregen, der in kurzer Zeit so viel Wasser vom Himmel presst, dass er eigentlich gleich wieder aufhören müsste, weil nichts mehr oben sein dürfte. Dazu wehte ein kalter Nordwind, was ungünstig war, weil wir nach Norden wanderten. Es war also nicht nur nass, sondern auch noch eiskalt.

Und bei diesem Wetter hatten wir eine Strecke vor uns, die schon für sich genommen grenzwärtig war. Rund 1000 Höhenmeter auf einer Distanz von knapp 20 Kilometern wollten überwunden werden. Der Pass lag auf 1100 Metern über dem Meeresspiegel. Dann ging es noch einmal 200 Meter wieder hinunter in ein kleines Dorf. Als wir dort ankamen waren wir so unterkühlt, dass wir bereitz zitterten. Schnell flüchteten wir ins Rathaus wo wir einer freundlichen Dame begegneten, die uns bat auf den Bürgermeister zu warten.

"Kein Problem!" riefen wir, "wir warten gerne!" Denn wir hatten schon zwei Heizkörper entdeckt, an die wir uns anlehnen konnten. Sie waren so heiß, dass man sich fast an ihnen verbrannte. Gott fühlte sich das in diesem Moment gut an!

Der Bürgermeister war ein sehr angenehmer und freundlicher Mann, der uns erst einmal einen Tee bringen ließ und uns dann einen Saal organisierte, in dem wir übernachten durften. Essen und Trinken war inclusive, doch das Beste waren die vier Heizstrahler, die wir im Kreis um uns herum aufbauen durften. All unsere Sachen waren nass und so bauten wir eine kleine Burg aus den Wärmequellen und unserer Kleidung. In der Mitte saßen wir, hielten unsere Füße an die Heizspulen und knabberten an den Brötchen, die wir bekommen hatten. So verbrachten wir fast den ganzen Nachmittag, bis wir endlich wieder aufgetaut waren. Ohne den Bürgermeister und seine Hilfe hätten wir an diesem Tag verloren gehabt. So aber wurde es am Ende sogar noch richtig gemütlich. Dabei mussten wir noch einmal zurückdenken, an unsere Begegnung, bei unserem ersten potentiellen Schlafplatz an diesem Tag. Kaum hatten wir das Altenheim in der Früh verlassen, wurden wir auch schon von einem Auto angehalten, dessen Fahrer sich mit uns unterhalten wollte. Er war Polizist und wollte unsere Papiere überprüfen, einfach nur, weil wir im Regen zu Fuß unterwegs waren. Gute zehn Minuten hatte er uns aufgehalten, wobei man ihm zu gute halten muss, dass er dabei wirklich freundlich war und uns sogar noch einen Gesprächspartner aus der Schweiz zur Seite stellte. Der arme Mann war nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort und schon wurde er gezwungen, sein warmes Auto zu verlassen und im strömenden Regen den Alleinunterhalter für zwei fremde Wanderer zu spielen. Am Ende hatte uns der Polizist jedoch erzählt, dass es in unserem Zielort ein Altenheim geben würde, in dem man uns ganz sicher aufnahm.

Vier Stunden und 1000 Höhenmeter später klingelten wir an der Tür des besagten Altenheims und baten darum, eintreten zu dürfen. Doch nicht einmal das gestattete uns der Heimleiter. Wir zitterten bereits am ganzen Körper, waren nass bis auf die Haut und draußen tobte ein Unwetter, in das man nicht einmal einen Hund jagen würde. Doch der Mann schaute uns nur an und sagte dann ebenso kalt wie der Wind: "Hier wurde gerade frisch geputzt, ihr könnt hier nicht eintreten!" Während er und drei weitere Männer im warmen Vorraum des Heimes standen, mussten Heiko und ich also vor der Tür bleiben und von hier aus erzählen, warum wir da waren. Einer der Männer war der Hausarzt, der sogar noch sein Stetoskop um den Hals trug. Doch auch er als Mediziner hatte kein Erbahmen, obwohl er sah, wie unsere Hände zitterten. "Dies ist ein Altenheim!" sagte er nur knapp, "wir können hier nichts für euch tun!" Dann fiel die Tür wieder ins schloss. Zum Glück reicht ein netter Mensch in einem Ort. Man muss ihn nur finden. Und das war uns heute gelungen!

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05.01.

Der Regen ging in die zweite, bzw. eigentlich ja sogar schon in die dritte Runde. Wieder prasselten die Tropfen den ganzen Tag und ohne Unterlass vom Himmel. Nur am Nachmittag hörte es einen Moment lang auf, gerade als wir unseren Zielort erreichten. Nach einem letzten steilen Gewaltaufstieg kamen wir zum Rathaus. Direkt davor erwartete uns bereits ein Mann, der uns schon zuvor gesehen hatte. Er stellte sich als Salvatore vor und erzählte, dass auch er ein begeisterter Pilger war, der schon viele Male nach Santiago aber auch nach Rom und Assisi gepilgert war. Für den Rest des Nachmittages begleitete er uns und führte uns im Ort herum, um eine Unterkunft für uns zu finden. Erst besuchten wir den Pfarrer, der jedoch nicht zuhause war und auch nicht an sein Telefon ging.

"Für Pilger findet sich immer eine Unterkunft!" meinte er daraufhin noch sehr optimistich und führte uns erst einmal zu einem Altenheim, wo wir ein Mittagessen bekamen. Warum wir in letzter Zeit plötzlich so viel Kontakt zu Altenheimen haben, ist mir ein Rätsel. Auf jeden Fall bestätigte es unseren Eindruck vom letzten Mal. Die Räume wirkten sogar noch gruseliger und mit der Privatsphäre war es noch schlechter bestellt. Hier gab es neben den üblichen Gefängniszellen nun auch Massenunterkünfte mit bis zu sechs Betten in einem Raum. Stellt euch einmal vor, ihr müsstet den Rest eures Lebens in einer Pilgerherberge verbringen. Dann habt ihr ungefähr eine Vorstellung von dem, was einen Menschen an seinem Lebensabend hier erwartet.

Wir selbst dürfen uns jedoch nicht beschweren, denn wir bekamen ein gutes, warmes Mittagessen und durften uns eine knappe Stunde lang in den gut geheizten Räumen aufwärmen. Obwohl der Heimleiter ein Kumpel von Salvatore war, ließ er sich aber trotzdem nicht dazu überreden, uns für die Nacht aufzunehmen.

Die nächste Station war das Rathaus. Auch hier übernahm Salvatore das Reden und sein Optimismus wurde nun langsam geringer. Nach einer längeren Diskussion mit einer Angestellten und einem Telefonat mit dem Bürgermeister kam er zornig in unseren Warteraum zurück und sagte nur mit knappen Worten: "Kommt Leute! Wir gehen!"

Natürlich ging es bei der ganzen Sache um unseren Schlafplatz, doch da Salvatore, es als seine eigene Mission angenommen hatte, ihn aufzutreiben, konnten wir uns ein bisschen zurücklehnen und die Sache aus einer völlig neuen Pespektive betrachten. Es war durchaus spannend zu sehen, dass Salvatore hier auf genau die gleichen Probleme stieß, die auch wir häufig hatten. Niemand war für irgendetwas zuständig, niemand wurde konkret, jeder vertröstete ihn und auch wenn die meisten höflich antworteten, war doch niemand hilfreich. Salvatore stand kurz vor der Verzweiflungsgrenze. Er konnte nicht verstehen, dass er selbst überall in Europa so herzlich aufgenommen wurde und dass sich die Leute in seinem eigenen Dorf, so grausam anstellten. Er war Lehrer an der hiesigen Grundschule, jeder kannte ihn, viele der Ansprechpartner waren seine Freunde und trotzdem wollte niemand helfen. Wie war so etwas möglich?

"Ich brauche den Schlüssel für die Mediathek!" sagte er schließlich am Telefon, als er von einer Nachbarin die entsprechende Nummer bekommen hatte. Doch auch hier wurde er wieder nur weitergeleitet.

"Verdammt!" schnautzte er seinen Gesprächspartner an, "Es kann doch nicht sein, dass es leichter ist Präsident Obama ans Telefon zu bekommen, als den Verantwortlichen für die Mediathek!"

Das Fluchen half und einige Minuten später fanden wir uns in einem Raum wieder, der eine Mischung aus Kindergarten und Bibliothek war. Hier durften wir für den Nachmittag und die Nacht bleiben. Zumindest für´s erste, denn später kam noch einmal eine völlig aufgebrachte Frau, die sich als Präsidentin des Mediathek-Vereins outete und uns am liebsten gleich wieder rausgeworfen hätte. Salvatore hätte überhaupt nicht die Befugnis, uns hier übernachten zu lassen. Wir müssten daher wieder gehen. Erst nach langen und beschwichtigenden Worten, gelang es uns, sie wieder runter zu bringen und davon zu überzeugen, dass wir doch bleiben durften.

Am Abend wurden wir dann sogar noch von einer Freundin von Salvatore zum Essen eingeladen. Es gab neben den obligatorischen Nudeln dieses Mal auch eine ganze Reihe von Antipasti, die wirklich großartig schmeckten.

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06.01.

Auch heute regnete es noch immer wie aus Eimern. Es wurde sogar noch etwas schlimmer als am Vortag. Nach rund 18 Kilometern Wanderung durch Berge, Regen und plötzlich auftauchende Nebelfelder kamen wir in ein uriges Bergdorf. Wir durften in einer verlassenen Schule übernachten, die zu einem Konferenzhaus umgebaut worden war. Sie war gerade frisch renoviert worden. Das meiste war sogar ganz nett gemacht, nur hatte man vergessen, die Türklinken festzuschrauben, weshalb die meisten von ihnen bereits wieder fehlten. Es war also nicht ganz ungefährlich eine Tür hinter sich zu schließen, denn man wusste nie genau, ob man sie dann auch wieder öffnen konnte. Als ich noch einmal in den Ort wollte um Wasser zu holen, stellte ich fest, dass das Eingangstor von einem sorgenvollen Anwohner wieder mit einem Vorhängeschloss verschlossen worden war. Ich musste also über den Zaun klettern, um ins Freie zu gelangen.

Spruch des Tages: Raindrops keep falling on my head...

Höhenmeter: 220 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 13.689,27 km

Wetter: sonnig aber frisch

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 82018 San Giorgio del Sannio, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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