Tag 785: Zum Wandern nicht geeignet – Teil 2

von Heiko Gärtner
23.02.2016 18:17 Uhr

Fortsetzung von Tag 785:

Die gleiche Frage wie für die Anwohner galt natürlich auch für uns: Was zur Hölle machten wir hier? Auch wir hatten einen freien Willen und hatten uns selbst dazu entschieden, hier zu sein. Besser gesagt hatte ich entschieden, dass wir hier waren, denn ich hatte ja die Strecke herausgesucht und dabei bereits gewusst, dass es grässlich werden würde. Heiko, für den der Lärm durch seine Hörsensibilität noch bei weitem unerträglicher war als für mich, war nun an seiner Grenze angekommen. Er ertrug die Hölle hier nicht länger und er konnte nicht begreifen warum ich uns hier hergeführt hatte. Als dann auch noch die einzige Übernachtungsmöglichkeit ein großes Kloster war, in dem es ebenfalls keine Aussicht auf Ruhe und Ungestörtheit gab, zerriss sein Geduldsfaden völlig. Die Wut stieg in ihm auf und er musste sie hinausschreien, wenn er nicht platzen wollte: "Verdammte Scheiße, Tobi! Was hast du dir um himmelswillen dabei gedacht, uns in diese Scheiße zu führen! Du musst doch auf der Karte gesehen haben, dass es nicht funktionieren kann, also was zum Teufel machen wir hier? Es kann doch nicht sein, dass wir ständig in Regionen landen, die uns an den Rande eines Nervenzusammenbruchs treiben!"

Ich verstand seine Wut und seine Verzweiflung. Mir erging es ähnlich und auch ich konnte mir nicht erklären, warum ich meine innere Warnstimme überhört und uns gegen jedes Bauchgefühl hier hergeführt hatte. Was war da los gewesen?

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Erst etwas später wurde mir bewusst, dass sich das Chaos im Außen zur Zeit nicht allzu sehr von dem Chaos unterschied, das gerade in meinem Kopf herrschte. Ich weiß nicht warum aber gerade gelingt es mir wieder fast nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie auf den Straßen dieser Städte geht auch in meinem Kopf alles drunter und drüber, so als würden tausend Stimmen durcheinander schreien, die alle etwas anderes wollen. Und als wäre das nicht schon genug, läuft im Hintergrund permanent ein Ohrwurm-Radio, das ich nicht abschalten kann. Auch jetzt war es wieder aktiv und trällerte irgendeinen Popsong über den Straßenlärm hinweg. Ich fühlte mich gestresst und unkonzentriert, so als wäre ich auf der Flucht vor irgendetwas. Aber wovor? Ging es wieder um meine Familie? Oder um mich selbst? Um meine eigenen Schattenseiten? Um all die Aspekte von mir, die ich nicht mag, die aber ein Teil von mir sind? Ging es um das Gefühl, nicht weiter zu kommen, mich immer wieder im Kreis zu drehen und dabei langsam die Hoffnung zu verlieren, dass eine Wandlung und ein Lernen überhaupt möglich sind? Gab es da eine latente Unzufriedenheit in mir, die ich nicht sehen wollte und die deshalb dafür sorgte, dass sie nach außen kam, damit ich sie endlich wahrnehmen konnte?

In der Nacht hatte ich einen Traum, der noch einmal etwas Licht ins Dunkle brachte. Ich befand mich alleine in einem Tal irgendwo in der Wildnis und erkletterte einen schmalen Pfad, der zwischen ein paar Felsen hindurchführte. Plötzlich entdeckte ich hinter einem der Felsen einen gewaltigen Eber. Das Wildschwein lag auf dem Boden und ich blickte direkt in seine Augen. Die riesigen Stoßzähne ragten aus seinem Maul hervor und er hatte eine gewaltige Körpergröße, die fast an einen Bären erinnerte. Langsam stand er auf und während er das tat erblickte ich hinter einem anderen Felsen einen weiteren Eber. Dann noch einen und noch einen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass es eine komplette Rotte war, in die ich hier hineingeraten war und alle schauten mich an und standen auf. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin setzten sie sich in Bewegung und rannten auf mich zu. Ich nahm Deckung hinter einem der Felsen und schaute ihnen zu, wie sie an mir vorbei ins Tal rannten. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Aufschrecken mit mir nicht das geringste zu tun hatte. Sie waren nicht auf mich zugerannt. Sie waren vor jemandem weggerannt. Und dieser Jemand tauchte nun in meinem Blickfeld auf. Es war ein großer, mächtiger und majestätischer Tiger. Er sprang den Pfad hinunter und jagte den Wildschweinen hinterher. Für einen Moment glaubte ich, er hätte mich nicht bemerkt, doch gerade als er en meinem Felsen vorbeigekommen war blieb er stehen. Er witterte, drehte sich um, kam ein Stück zurück und schaute mir direkt in die Augen. "Verdammt! Jetzt ist es aus!" schoss es mir durch den Kopf. Einen Moment lang blieben wir einander gegenüber stehen und ich war mir unsicher, ob er mir etwas tun würde oder nicht. Dann wachte ich auf.

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Ich erinnerte mich an diesen Traum erst einige Zeit später im Gespräch mit Heiko. Dann aber kamen wir gemeinsam auf einige Parallelen, die ich als hilfreich empfand. Ich hatte mich zunächst nur auf den Weg konzentriert und war so damit beschäftigt gewesen, dass ich weder nach links noch nach rechts geschaut hatte. Dann hatte ich einen Eber gesehen, also eine vermeintliche Gefahr, die direkt vor mir lag. Ich versuchte auf sie zu reagieren, vergaß dabei aber die Übersicht zu bewahren, so dass ich den Rest der Rotte nicht bemerkte. Als ich schließlich mitbekam, was Sache war, zog ich voreilige Schlüsse und achtete dabei nicht auf mein Bauchgefühl, das mir sagte, dass es hier eigentlich um eine ganz andere Gefahr ging. Ich fürchtete mich vor dem Offensichtlichen, übersah dabei aber die echte Gefahr, die im Verborgenen lauerte. Wildschweine greifen Menschen nicht an. Außer der Mensch hat sie gereizt, gejagt oder versucht ihre Jungen zu entführen. Der Tiger jedoch ist eines der wenigen Tiere, bei dem "Mensch" tatsächlich auf der Speisekarte steht. Ich hatte also versucht mich vor etwas ungefährlichem zu verstecken und war dabei direkt in die Arme der Gefahr gelaufen. Warum? Weil ich vergaß, mir eine Übersicht zu verschaffen und weil ich noch immer mein Bauchgefühl ignorierte. Dies waren auch die Hauptprobleme, mit denen ich mich und uns auf der Reise immer wieder in Schwierigkeiten manövrierte.

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Das Kloster war keine Option, denn nach einem so lauten Tag einen lauten, turbulenten Abend zu erleben klang viel zu sehr nach einer Wiederholung von unserem Sizilienausflug, als dass wir uns darauf einlassen wollten. Also zogen wir weiter, versuchten stets die kleinsten Nebenstraßen zu finden und kamen schließlich an eine Kirche, bei der wir einen akzeptablen Schlafplatz fanden. Der Pfarrer führte uns zu einer Station der Misericordia, einem kirchlichen Rettungsdienst, der den Maltesern nicht unähnlich ist. Dort bekamen wir im oberen Stock ein Zimmer für uns und konnten außerdem das Internet nutzen, um uns streckentechnisch neu aufzustellen. Abgesehen von den Hunden, die fast die ganze Nacht durchkläfften und die man durch unsere dünnen Scheibchen hörte, als säßen sie vor einem, war es von der Lautstärke halbwegs erträglich. Es war sicher nicht der ruhigste Platz, den wir je hatten, doch für diese Gegend hätten wir kaum einen besseren finden können.

Spruch des Tages: 14.000 km! Wer hätte gedacht, dass wir so weit kommen, ohne auch nur Europa zu verlassen?

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 55 km

Gesamtstrecke: 14.000,27 km

Wetter: bewölkt aber schwül-warm

Etappenziel: Santuario Incoronata, 71122 Incoronata, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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