Tag 790: Gerade deswegen

von Heiko Gärtner
28.02.2016 23:29 Uhr

09.02.2016

Am Abend hatte mein Laptop noch einmal zurzzeitig wieder funktioniert. Jetzt war er wieder schwarz und er sollte es auch bleiben. Was immer das Problem auch war, hier vor Ort konnten wir es nicht lösen. Allein schon deswegen, weil man zum Öffnen einen Spezialschraubenzieher brauchte, den wir nicht besaßen und den wir auch sonst nicht auftreiben konnten.

Unser Weg führte uns heute wieder steil bergauf und Heydi hatte wieder ganz schön zu knabbern. Doch sie hielt gut mit und auch wenn wir etwas schneller waren, dauerte es nie mehr als ein paar Minuten, bis sie uns wieder eingeholt hatte.

Während ich den Weg hinaufkeuchte, kam mir plötzlich eine Erkenntnis. Ich weiß nicht, wieso ich gerade jetzt darauf kam, doch mir wurde mit einem mal einiges klar, das mir in letzter Zeit als undefinierbares Wollknäuel im Kopf herumgespukt war. Seit der Trennung von meinen Eltern stand ich immer wieder vor der Frage, wie ich die Situation loslassen konnte, um wirklich frei zu sein und um auch meinen Eltern ihre Freiheit zurückzugeben. Auch wenn ich verstand, dass alles richtig war, so wie es war, wenn ich wusste, dass die Situation wichtig war und wenn ich die Gefühle, Themen und Sichtweisen meiner Eltern nachvollziehen konnte, war doch noch immer diese große Wut und die Enttäuschung in mit, die ich einfach nicht loslassen konnte. Was immer ich mir selbst auch sagte, was für Gedankenaffirmationen ich mir auch zurecht legte, die Wut wollte nicht verschwinden. Ich war Sauer auf meine Eltern und das konnte ich nicht ändern.

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Genau in diesem Moment wurde mir jedoch bewusst, dass es darum auch gar nicht ging. Ich hatte die ganze Sache komplett falsch angepackt. Mein Ansatz war, dass ich die Situation annehmen musste, damit die Wut verschwand. Ich hatte versucht, meine Eltern und die Situation zu lieben OBWOHL sie mich wütend machten. Doch das war ein irrtum. Worum es wirklich ging war, sie zu lieben WEIL sie mich wütend machten. Durch das OBWOHL wertete ich die Situation noch immer ab. Ich glaubte, dass es etwas Negatives, etwas Schlechtes war, das hier zwischen uns passierte. Ich heuchelte Verständnis, aber tief in meinem Herzen gab ich meinen Eltern Schuld dafür, dass wir kein gutes, harmonisches, ehrliches und gefühlvolles Verhältnis hatten. Ich wertete die Situation und sagte: "So wie es ist, ist es schlecht! Es sollte anders sein!" Aber sollte es anders sein? Wenn dem so wäre, dann wäre es auch anders. Nein, es ist vollkommen, genau so wie es ist. Es ist nichts Negatives an der Beziehung zu meinen Eltern, sondern etwas Wunderbares. Um zu meinem göttlichen Selbst zu finden, um ganz ich zu werden, um auf meinem eigenen Heilungsweg voranzukommen, brauche ich diese Disharmonie, die Funkstille, die damit verbundene Wut, den Groll und all die anderen Gefühle, die durch die aktuelle Beziehungslage entstanden sind. Dies ist genau das, was ich brauche, um lernen und mich wandeln zu können. Mein Glaube war, dass ich Rabeneltern habe, die mich auf meinem Lebensweg blockieren wollen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Meine Eltern machten mir das größte und wahrscheinlich schwierigste Geschenk, das Eltern ihren Kindern überhaupt machen können. Sie helfen mir dabei, zu erkennen dass ich ein Teil der göttlichen Liebe bin, dass ich mich selbst lieben kann und dass ich nicht von der Liebe anderer abhängig bin. Dies geht nur durch die Trennung und durch den Groll, der dadurch in mir entsteht. Ohne die schwierige Situation hätte ich immer geglaubt, dass ich nur mit Hilfe der Liebe meiner Eltern überleben kann. Nur in dem sie mir das Gefühl geben, dass diese Liebe nicht mehr besteht, kann ich die Erfahrung machen, dass ich sie nicht brauche, dass ich selbst die Liebe bin und ohne die Sucht nach Anerkennung frei leben kann. Einem geliebten Menschen ein Geschenk zu machen, über das er sich freut, ist eine schöne Sache. Doch ihm etwas zu schenken, das er wirklich braucht, für das er einen jedoch hasst, das ist bedingungslose Liebe. Mir war es nur nicht bewusst.

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Plötzlich viel mir eine Kindergeschichte ein, die ich vor vielen Jahren einmal gehört hatte und von der ich damals stark berührt war. Sie handelte von einer kleinen Seele, die nach ihren Erfahrungen auf der Erde zurück in den Himmel kommt und sich dort mit einigen anderen Seelen unterhält. Sie hatte ein ruhiges, angenehmes und glückliches Leben auf der Erde gehabt und lauschte nun den Erzählungen der anderen. Eine von ihnen berichtete von der großartigen Erfahrung der Vergebung. Sie hatte ein schweres Leben gehabt und war voller dunkler Gefühle von Hass, Groll und Zorn gewesen. Eines Tages hatte sie jedoch erkannt, dass alles, was sie für negativ gehalten hatte, in Wirklichkeit ein großes Geschenk für sie gewesen war. Mit einem Schlag konnte sie all die Schuldzuweisungen loslassen, die sie in sich getragen hatte. So frei, so friedlich und so lebendig hatte sie sich zuvor noch nie gefühlt. Die kleine Seele war vollkommen begeistert, als sie davon hörte und gleichzeitig war sie auch ein bisschen traurig, weil sie selbst diese Erfahrung noch nie gemacht hatte. "Dieses Gefühl der Vergebung möchte ich auch einmal erleben!" sagte sie in die Runde der Seelen. Die Seele, die zuvor gesprochen hatte schaute sie an und sagte: "Das kann ich gut verstehen! Aber ich muss dich auch warnen! Es ist kein leichter Weg und es wird viele Punkte geben, an dem du ihn verfluchen wirst. Vor allem aber ist es dafür wichtig, dass du eine Seele findest, die mit dir die Partnerschaft aus Schuld und Vergebung eingeht. Denn auch für sie wird es nicht einfach sein." Da kam eine andere Seele auf die kleine Seele zu. Die beiden kannten sich bereits sehr gut, standen einander nahe und hatten schon in vielen Leben gemeinsame Erfahrungen gesammelt. "Ich bin bereit dazu!" sagte sie, "Ich werde dich auf die Welt begleiten und alles tun, was du benötigst, um die Erfahrung der Vergebung machen zu können. Ich werde dich verletzen, die Schmerz und Leid zufügen, dich traurig und wütend machen und auf diese Weise so viele Gefühle der Schuldzuweisungen in dir provozieren, dass du einen riesigen Berg aufhäufst, den du anschließend loslassen kannst. Ich weiß, dass ich mir selbst dadurch auch ein schweres und oftmals düsteres Leben bereiten werde, aber du bist mir so wichtig, dass ich das sehr gerne in Kauf nehme!" Da strahlte die kleine Seele, fiel ihrer Freundin um den Hals und drückte sie so fest sie konnte. "Danke!" sagte sie, "das ist wunderbar von dir!" Sie lächelten sich an, verabschiedeten sich und machten sich beide auf zur Erde, wo sie nacheinander als zwei Menschen geboren wurden.

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Die Geschichte endet an dieser Stelle und lässt offen auf welche Weise ihre Leben miteinander verwoben wurden. Vielleicht wurden sie zu einem Mädchen und einem Vergewaltiger, vielleicht zu einem Ehepar, in dem der eine den anderen unterdrückt und erniedrigt. Vielleicht wurde einer auch der Mörder der großen Liebe des andern. Doch für welchen Weg sie sich auch entschieden, sie gingen ihn aus tiefster Liebe füreinander.

Es ist nur eine Geschichte für Kinder, aber sie beschreibt sehr gut, wie wir miteinander verwoben sind. In diesem Leben, das nichts weiter ist als ein Traum, den wir für einen kleinen Bruchteil der Unendlichkeit träumen, mag uns vieles unverständlich, gemein, falsch, krank oder gar pervers erscheinen. Doch dahinter gibt es nichts als Liebe. Wir alle sind ein Aspekt des gleichen, göttlichen Seins. Wir alle sind Gott, der sich selbst erfährt. Wenn wir einen Film schauen, dann fasziniert er uns vor allem dann, wenn es in ihm zu lauter Unvorhersebarkeiten, zu Verstrickungen und Wirrungen kommt. Ein Film in dem immer alles glatt läuft ist so langweilig, dass ihn niemand anschauen würde. Warum sollte es Gott da anders gehen? Um Erfahrungen machen zu können und um ein Wachstum überhaupt zu ermöglichen, braucht es Facetten im Leben. Es braucht Höhen und Tiefen, angenehme und unangenehme Situationen, Freude und Trauer. Nur darin können wir uns selbst erleben. Wenn wir wirklich lernen wollen, bedingungslos zu lieben, dann brauchen wir unangenehme Situationen und Beziehungen, die uns das Lieben schwer machen. Dadurch dehnt sich die Liebe selbst aus. Dadurch wird sie stärker. Jedes Wesen im Universum kann ein Gänseblümchen lieben, das auf einer schönen Sommerwiese steht. Doch wirklich erkennen, ob wir bereit sind bedingungslos zu lieben, können wir erst dann, wenn es uns gelingt, einen Zerstörer, eine Krankheit oder auch eine Beziehung zu lieben, die uns Kummer bereitet. Nicht OBWOHL sie sich unangenehm anfühlt, sondern gerade deswegen. Gerade weil wir uns in dem Schmerz selbst erleben und unser wahres Sein erkennen können.

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Natürlich laufen all diese Prozesse unbewusst ab. Die kleine Seele in der Geschichte, konnte sich nach ihrer Inkarnation nicht mehr daran erinnern, dass sie ihre Freundin um die schmerzhaften Erfahrungen gebeten hatte. Und auch die Freundin wusste nicht, dass sie ihr handeln ganz bewusst so ausrichtete, um der anderen Schmerzen zuzufügen, damit diese eine wertvolle Erfahrung machen konnte. Genauso ist auch mir und meinen Eltern die art der Beziehung nicht bewusst gewesen. Meine Eltern handelten und handeln auf ihrem inneren Gefühl heraus, so wie es sich für sie richtig anfühlt und ich tue das gleiche. Dass daraus Leid entsteht haben wir alle gemerkt, uns war nur nicht klar, dass dieses wichtig ist, um lernen zu können. Denn so wie die Beziehung mir hilft, mein Sein zu erkennen, so hilft sie auf die gleiche Weise auch ihnen.

Und so geht es nicht nur mir und meinen Eltern, sondern allen Menschen und Wesen, die sich gegenseitig offenkundig das Leben schwer machen. Es war nicht anders mit den Hunden, mit unfreundlichen Menschen auf dem Weg oder mit Pfarrern, die uns im Regen stehen ließen. Stets versuchte ich die Hunde trotz ihres agressiven Bellens wertzuschätzen und war dann enttäuscht, dass ich trotzdem wütend wurde. Doch das war genau richtig so. Ihr Geschenk an mich war es, mir meine eigene Wut zu spiegeln. Es ging nicht darum, sie zu Lieben, obwohl sie bellten, sondern weil sie bellten und mich wütend machten. Es ging darum meine eigene Wut zu lieben, zu erkennen, dass sie in mir steckte, sie anzunehmen, anzuerkennen, wahrzunehmen und zu bejahen. Es ging nicht darum, die Pfarrer trotz ihrer fadenscheinigen Vorwände oder ihren groben Ablehnungen zu Lieben, sondern genau deswegen. Diese Gefühle der Hilflosigkeit, des Enttäuschtseins über die Menschen, der Wut und des Unvertändnisses waren wichtig und wollten gefühlt werden. Dafür galt es Dankbar zu sein!

Doch heute gab es keinen Grund, sich über einen Pfarrer aufzuregen, denn in Buonalbergo bekamen wir innerhalb weniger Minuten einen kostenlosen Schlafplatz in der Pilgerherberge. Eigendlich zahlte man als Pilger hier 10€, doch als die Betreiberin von der Art unseres Projektes hörte, verzichtete sie auf das Geld. Daür bat sie uns, unseren Lesern (also euch) von der Via Francigena nel Sud zu erzählen. Vor gut einem Jahr waren wir ja auf der nördlichen Via Francigena nach Rom gewandert. Dieser Pilgerweg ist noch recht bekannt und auch sehr gut ausgebaut. Doch er endet nicht in Rom, sondern geht weiter nach Süden über Bari bis nach Brindisi. Leider ist dieser Teil des Weges nahezu unbekannt und wird auch nur wenig begangen, obwohl es ein schöner Weg ist. Wir werden in den folgenden Tagen mal schauen, wie er sich entwickelt und euch auf dem Laufenden halten. Doch so wie es aussieht ist er sicher eine Pilgerreise wert.

Als Tagesabschluss gab es heute eine weitere Fußreflexzonenmassage. Dieses Mal führten Heiko und ich sie selbst durch, während uns Heydi Hilfestellung gab und uns anleitete. Mit ein bisschen Übung werden wir noch richtig gut darin.

Spruch des Tages: Es geht nicht darum, etwas zu lieben obwohl es einen wütend macht, sondern gerade deswegen.

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 14.075,27 km

Wetter: bewölkt und windig

Etappenziel: Santuario Madonna del Sabato, 76013 Minervino Murge, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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