Tag 881: Disharmonie in der Natur

von Heiko Gärtner
29.05.2016 15:47 Uhr

10.05.2016 Zum ersten Mal wurden wir heute wieder mit Sonnenschein geweckt und konnten unser Zelt sogar trocknen lassen, bevor wir es einpackten. Vor uns lag eine ordentliche Mammutetappe mit rund 26km und einem Höhenunterschied von 500m. Je weiter wir kamen, desto mehr mussten wir feststellen, dass wir rein faktisch durch das ständige Rauf und Runter noch weitaus mehr Höhenmeter zurücklegten, bis wir den Pass auf gut 1400m über dem Meeresspiegel erreichten. An einer Kreuzung, durch die wir auf eine kleinere, halb verfallene Nebenstraße wechselten, tauchte vor uns ein Schild mit der Aufschrift "Vignette" auf. Wir waren sicher, dass es sich dabei um den Streich von einigen Jugendlichen handelte, die das Schild irgendwo an einer Autobahn geklaut und hier hergestellt hatten. Deswegen machten wir uns zunächst keine weiteren Gedanken darüber. Doch schon bald sahen wir das nächste Schild und dann noch eine, und noch eines. So vielefreche Jugendliche konnte es auch hier nicht geben. Es war also kein Witz. Diese kaum existenten Sträßchen waren mautpflichtig. Genaugenommen änderte das allerdings wenig, denn auch wenn es kein Witz war, war es trotzdem zum Lachen. Gut nur, dass wir mit unseren Handkarren nicht als KFZs zählten und daher keine Maut fürs wandern zahlen mussten.

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Nach einigen Kilometern kamen wir in einen tiefen Kiefern- und Fichtenwald. Mit einem Schlag änderte sich die ganze Atmosphäre. Zuvor war es trotz der wenigen Menschen fast unerträglich laut gewesen, weil die Natur aus irgendeinem Grund vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten war. Die Auswirkungen, die wir Menschen auf unser Umfeld haben sind offensichtlich doch dramatischer als wir so annehmen. Nicht dramatisch im Sinne einer vollkommenen Zerstörung der Natur, wie wir es oft denken. Dazu sind wir bei weitem nicht mächtig genug. Aber dramatisch im Sinne von einer Zerstörung des Friedens und der Harmonie. Die Disharmonie die wir in uns tragen senden wir auch nach außen und wir bekommen sie nun direkt von der Natur zurückgespiegelt. Für viele Tiere haben wir das Leben in unserer Nähe unmöglich gemacht. Wir haben ihre Lebensräume zerstört, ihr Futter vergiftet, sie gejagt, verdrängt und nahezu ausgelöscht. Andere Arten hingegen haben sich an uns Störenfriede angepasst, sind uns gefolgt und fühlen sich in unserer Gegenwart richtig wohl. Wir haben ihre natürlichen Feinde vertrieben oder vernichtet und ihnen damit die Gelegenheit geboten, sich in immensem Maße zu vermehren. Wir selbst haben uns dazu entschieden, gewissermaßen in Massentierhaltung zu leben, haben uns in riesigen Städten zusammengepfercht und alle anderen Arten so gut wie möglich von uns getrennt. Auch unsere Nahrung gewinnen wir fast nur noch aus Monokulturen und Massentierhaltung. Selbst hier in Bulgarien bauen alle bauern auf ihren kleinen Feldern immer exakt das gleiche an und achten peinlich genau darauf, dass auch ja keine andere Pflanze seinen dreisten, grünen Kopf aus der Erde streckt. Wir haben also mit allen Mitteln und auf allen Wegen die natürliche Artenvielfalt durch eine Überpopulation von einigen wenigen Arten ersetzt. Und genau dies spiegelt uns nun auch die Natur. Anstelle einer vielfalt unterschiedlicher Vogelarten finden wir nun hauptsächlich Schwalben und Spatzen, die in so großen Mengen auftauchen, dass ihr Gesangt zu einem schier unerträglichen Geschreih verkommt. Die Teiche und Bäche sind voller Frösche, die ebenfalls wissen, dass sie kaum mehr Fressfeinde haben. Dadurch können sie nun in einer Lautstärke Quarken, die zuvor ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Und dann gibt es natürlich noch die unzähligen Grillen und Zirpen, die mit ihrem gleichbleibenden Schnarren fast nerviger sind als der Motorenlärm auf einer Autobahn. Früher hatten diese Tiere feste Zeiten an denen sie ihre Balsgesänge aufführten. Auf einer Wiese gab es vielleicht vier oder fünf Vertreter ihrer Art und sie zirpten morgens und abends für je eine Stunde. Heute sind es hunderte und sie geben selbst nachts keine Ruhe mehr.

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Doch hier im Wald war es anders. Hier hatten die großen Bäume ihre schützenden Hände über alles gelegt und sorgten noch immer für die Harmonie, die in der Natur eigentlich der Normalzustand sein sollte. Plötzlich war es ruhig. Die Grillen zirpten nur noch vereinzelt, die Vögel sangen wieder, drosselten ihr Stimmvolumen und ergaben aufgrund ihrer Vielfalt ein echtes Konzert, das sich melodisch und beruhigend anhörte. Wie sehr hatten wir diese Wälder vermisst! Überall entlang der Straße gab es kleien Grillhütten, Hicknickunterstände und gemauerte Quellen. Alle waren sauber und gepflegt, sogar deutlich mehr als die Häuser in den Ortschaften. Auf eine gewisse Weise waren die Bulgaren also doch naturverbundene und pflegliche Leute, nur eben anders als man es zunächst erwartet hätte. Am Ende unserer Tagesetappe erreichten wir einen langgezogenen Stausee, an dessen Spitze sich eine kleine Stadt befand. Wir hatten einen schönen Platz direkt neben der Staumauer ausgemacht, an dem wir zelten konnten, wenn wir im Dorf keine Übernachtungsmöglichkeit fanden. Doch gerade als ich losgehen wollte, um die Möglichkeiten für eine Hotelübernachtung auszuloten kam ein gespreizter Bewegungsmelder, der sich zum Wächter über den Staudamm erklärt hatte und vertrieb uns aus der Gegend. Beinahe hätte er uns sogar noch verboten, überhaupt über den Staudamm zu gehen, so dass wir einmal komplett unten durch das Tal und wieder hinauf gemusst hätten. Doch das konnten wir gerade noch mit einem geschickten Missverstehen abwenden. Leider hatten wir mit den Hotels wenig Glück. Die meisten sprachen nicht einmal genug Englisch um überhaupt zu verstehen, was wir wollten. Und diejenigen die uns verstanden hatten keinerlei Interesse an irgendetwas, das kein Geldschein war. Der einzig hilfreiche Mensch in dieser Hinsicht war der Sohn eines Hotelliers, der sogar recht begeistert von unserer Reise war. Voller Euphorie ergriff er sein Telefon und rief seinen Vater an. Danach war er noch gute zwei Zentimeter groß (mit Hut) und berichtete mir beschämt und bedauernd, dass heute leider alle Zimmer ausgebucht waren. Man musste kein Seher und auch kein Mentalist sein, um zu erkennen, dass dies gelogen war, aber er fühlte sich ohnehin schon schuldig und so ließ ich ihm die Ausrede durchgehen. Er begleitete mich durch die Stadt und versuchte uns bei einem befreundeten Hotelbesitzer unterzubringen, doch auch hier waren jedes Mal plötzlich alle Zimmer belegt. Auch im Rathaus hatte ich nicht mehr Erfolg und so gab ich die Sache schließlich auf. So spendabel die Menschen mit dem Essen waren, so knauserich waren sie offenbar mit dem Wohnraum. Wie es aussah hatte es hier in diesem Land auch kaum zweck, noch einmal danach zu fragen. Wenn wir uns auf die Suche nach Zeltplätzen spezialisierten, dann sparten wir uns Zeit und waren wahrscheinlich besser dran.

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Während meiner Hotelsuche hatte es einige Male zu regnen begonnen, was vor allem für Heiko ungünstig war, denn er saß die ganze Zeit im Nassen. Nun hatte es wieder aufgehört, doch der Himmel war noch immer grau und es sah aus, als hätten wir das schlimmste Unwetter noch vor uns. Nachdem wir die Stadt gut zwei Kilometer hinter uns gelassen hatten, hielt plötzlich ein Auto vor uns an. Als der Fahrer ausstieg erkannte ich ihn als den Hotelierssohn. Er kam auf uns zu und berichtete uns, dass sein Vater nun doch noch ein freies Zimmer für uns gefunden hätte. Wenn wir also zurückkehren wollten, dann seien wir nun herzlich eingeladen. Doch nun wollten wir nicht mehr. Wir waren gute zwei Kilometer steil den Berg hinaufgestiegen und hätten alles wieder hinunter gemusst um den gleichen Anstieg dann am nächsten Morgen noch einmal zu tätigen. Außerdem zweifelten wir etwas an der Aufrichtigkeit der Motivation des Hotelbesitzers. Der Junge freute sich wirklich uns helfen zu können und was ihn anging kam die Einladung von Herzen. Doch was seinen Vater betraf waren wir geteilter Meinung. Warum sollte jemand erst seinen Sohn so zusammenscheißen, dass dieser sich kaum noch zu reden traut, nur weil er die Frage gestellt hat und ihn dann losschicken um mit dem Auto alle Straßen abzufahren, bis er uns gefunden hat? Irgendetwas passte da nicht. Hinzu kam, dass die Begründung nun schon wieder eine Lüge war. Beim ersten Mal hatte mir der Junge berichtet, dass sein Vater ihn auf die belegten Zimmer hingewiesen hatte. Nun hieß es plötzlich, dass der Vater überhaupt nicht erreicht worden war und dass die freundliche Dame am Empfang die Bufrau war, die uns einfach dreist abgesagt hatte, ohne ihren Chef zu fragen. Unsere Vermutung war, dass der Vater am Anfang nur verstanden hatte, dass er jemanden unterstützen solle.

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Später hatte er dann mitbekommen, dass es um ein Projekt mit Medienpräsenz ging, durch das er hätte profitieren können und so hatte er seine Meinung geändert. Selbst wenn die Höhenmeter uns nicht abgehalten hätten, klang dies nicht nach einer Einladung, die man gerne annahm oder die besonders nährend werden würde. Wir gingen also weiter und fanden einen guten und geschützten Zeltplatz hinter einer Hügelkuppe am Rande eines Waldes. Das Gespräch mit dem Jungen hatte nur leider dazu geführt, dass sich alles verzögerte und wir nun mitten in den Regen kamen. Bis wir mit dem Aufbauen begannen hatte es zwar wieder aufgehört, aber nun war bereits alles nass.

Spruch des Tages: Auch Tiere können nervig sein.

Höhenmeter: 260 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 15.503,27 km Wetter: bewölkt und immer wieder regnerisch Etappenziel: Zeltplatz auf einer Wiese, kurz vor 5152 Bryagovitsa, Bulgarien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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