Tag 885: Vorsicht Steinschlag

von Heiko Gärtner
10.06.2016 23:59 Uhr

13.05.2016

Wenn wir bereits am Morgen gewusst hätten, wie lang und anstrengend dieser Tag werden würde, dann wären wir wahrscheinlich einfach liegen geblieben. Andererseits war unser Platz nun auch wieder nicht so schön, dass dies eine wirklich gute Alternative gewesen wäre. So packten wir alles zusammen, verließen den heruntergekommenen Schulhof und kehrten auf die Straße zurück, die uns durch den Canyon führte. Die Wolkendecke war aufgerissen und für eine Weile strahlte die Sonne vom Himmel. Dann jedoch tauchten dicke schwarze Wolken über den Berggipfeln auf und ehe wir uns versahen wurde es dunktel wie in der Nacht. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann brach eine Sintflut über uns herein, wie wir sie noch nie erlebt hatten. Innerhalb von nur wenigen Minuten prasselten rund 9l Wasser pro Quadratmeter auf die Erde hernieder. Hätte jemand direkt über unseren Köpfen eine Badewanne entleert, hätte es nicht schlimmer werden können. Die Regenjacken hielten noch einen Moment lang stand, doch unsere Beine waren schon nass, ehe wir überhaupt nur den Gedanken "Wo ist eigentlich meine Regenhose?" zuende denken konnten. In unseren Schuhen stand das Wasser nun bereits so hoch, dass kein weiteres mehr hinein passte. Nicht einmal für unsere Füße war noch richtig Platz und für einen Moment dachten, wir, es würde sie einfach herausschwemmen. Bei jedem Schritt gaben die Schuhe nun ein lautes Schmatzgeräusch von sich, weil das Wasser immer von hinten nach vorne schwappte und umgekehrt.

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Der heftige Regenguss änderte jedoch nichts daran, dass die Leute hier rasten wie die Irrenl. Die Straße war eng, kaputt und voller Serpentinen, was für sich genommen schon dafür sorgen sollte, dass der Verkehr auf ein Minimumn beschräkt ist und in langsamen, geregelten Bahnen abläuft. Nun kam hinzu, dass die Sichtweite kaum noch zwanzig Meter betrug und dass die durchlöcherte Fahrbahn nicht nur glitschig wurde, sondern dabei auch immer mehr einem Flussbett glich. Doch den Einheimischen war das egal. Sie traten auf das Gaspedal und heizten umher als gäbe es kein Morgen mehr. Zugegeben, in diesem Moment sah es auch wirklich so aus, als gäbe es kein Morgen mehr, aber das machte die Sache trotzdem nicht besser. Die nasse, kurvige und löchrige Straße war aber nicht das eigentlich gefährliche an der Situation. Viel schlimmer waren die Berghänge. Ihr kennt ja alle die Warnschilder mit dem Steinschlagsymbol, die bei uns oft in den Bergen hängen. In Deutschland und Österreich hängen sie dort vor allem aus versicherungstechnischen Gründen. Die Straßen sind so gebaut, dass eigentlich nichts passieren dürfte, aber wenn etwas passiert, dann hat sich das Straßenbauunternehmen dadurch abgesichert. Hier ist das anders! Wenn an einer Straße das Schild "Achtung Steinschlag" steht, dann meint es auch "Achtung Steinschlag!" und zwar nicht im Sinne von "Hier könnten Steine herunterfallen" sondern "Hier fallen Steine herunter und zwar regelmäßig bei jedem kleinen Unwetter oder auch wenn nur einer schief guckt!"

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Einige kleinere Steinschläge bekamen Heiko und ich direkt mit. Immer wieder bröckelten Kiesel oder handflächengroße Steine aus der lieblos abgeschlagenen Steilwand heraus und kullerten auf die Straße. Jedes Mal erschraken wir leicht und schauten, dass ir möglichst schnell weiter kamen. Ihr könnt mir glauben, ein wirklich gutes Gefühl machte das nicht. Bedeutend beängstigender waren jedoch die Steinschläge, an denen wir vorbei kamen, kurz nachdem sie heruntergekommen waren! An einigen Stellen hatte es die halbe Straße weggerissen oder zugeschüttet und teilweise lagen Steine im weg herum, die größer waren als Heiko und ich zusammen. Und zwar inclusive unserer Wagen. Jeder normale Mensch, dem sein Leben uns sein Auto irgendetwas bedeutete, wäre niemals auf die Idee gekommen, bei einem solchen Wetter auf dieser Straße zu fahren, wenn es nicht absolut überlebenswichtig gewesen wäre. Doch die Bulgaren waren da anders. Ihnen schien der Nervenkitzel, jeden Moment von einem herabfallenden Felsbrocken erschlagen werden zu können sogar zu gefallen. Und nicht nur dass. Selbst an den Stellen, an denen die Hälfte der Straße bereits durch das Geröll unpassierbar war, rasten sie noch vorbei als wären sie in einem amerikanischen Actionfilm. Der Boden war hier so uneben, dass die Autos fast in der Luft herumsprangen und die Sicht in die Gegenrichtung betrug kaum fünf Meter. Aber keiner drückte auf die Bremse und machte sich die Mühe zu schauen, ob vielleicht jemand kam. Dabei kam eigentlich ständig jemand. Und doch ging alles gut. Wir sahen keinen einzigen Unfall. Nicht einmal einen Kratzer oder eine Beule in einem Auto. Die Fahrer mussten ein derartiges Urvertrauen ausstrahlen, dass sie gegen Unfälle vollkommen immun waren. Anders konnten wir uns dieses Glück bei vollkommener Rücksichtslosigkeit nicht erklären.

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Nachdem der Regen wieder aufgehört hatte, strömten einige Bauarbeiter des Straßenbauamtes aus, um die Straßen wieder freizuräumen. Sie waren mit der Aufgabe jedoch vollkommen überfordert, denn wenn sie ein Lawinenfeld freigeräumt hatten, dann war meist kurz hinter ihnen bereits wieder das nöchste abgerutscht. Die Tatsache, dass sie nahezu keine technische Ausrüstung mitbegracht hatten, machte ihnen die Arbeit natürlich auch nicht gerade leichter. Ein Pickup, den wir gleich an mehreren Abrutschstellen sahen, wurde von zwei Männern betreut, die gemeinsam nur eine Schaufel besaßen. Einer von ihnen blieb entweder im Auto, oder aber er kickte ein paar Steine lustlos mit dem Fuß den Abhang hinunter. Sonderlich effektiv wirkte das nicht. Langsam riss die Wolkendecke wieder auf und einige Sonnenstrahlen kamen hindurch. Wir machten eine Pause, um unsere Schuhe auszuleeren und das viele Wasser in einem Schwall auf die Straße zu kippen. Für eine so lange Wanderung war es nicht gerade hilfreich, gleich am Morgen nasse Füße zu haben, aber es war nun einmal wie es war. Der Canyon wollte und wollte nicht enden. Auch heute legten wir noch einmal gute 35 Kilometer zurück, bis sich die Felswände öffneten und den Blick auf die Flachebene freigaben. Gemeinsam mit der Strecke von gestern hatten wir damit gute 70km in einem einzigen Canyon zurückgelegt. Dabei waren wir an fünf verschiedenen Staumauern vorbeigekommen, die alle den gleichen Fluss angestaut hatten, um damit Strom zu produzieren. Dass es hier einen Energiemangel gab, konnte man also auch nicht wirklich behaupten.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Vorsicht Steinschlag ist hier mal wirklich ernst gemeint!

Höhenmeter: 280 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 15.572,27 km Wetter: bewölkt und schwülwarm Etappenziel: Zeltplatz im Wald, kurz vor Ostrovche, Bulgarien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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