Tag 886: Kulturschock!

von Heiko Gärtner
11.06.2016 00:53 Uhr

Fortsetzung von Tag 885:

Kaum hatten wir das Ende des Canyons erreicht, war es als würden wir wie durch ein großes Tor in eine andere Welt treten. Vor uns lag eine ärmliche Kleinstadt und hinter ihr eröffnete sich eine gewaltige Flachebene. Rein optisch sah die Stadt auf den ersten Blick nicht viel anders aus, als die Orte, durch die wir in den Bergen gekommen waren. Doch von der Strimmung her war hier irgendetwas anders. Aus irgendeinem Grund wirkte sie bedrohlicher, agressiver, angespannter. Es war suptil, aber es reichte aus, damit wir das Gefühl bekamen, dass es besser war, sich dieses Mal nicht zu trennen und keinen Basispunkt aufzubauen, während ich an anderer Stelle nach Nahrung suchte. Wir wollten so nah wie möglich zusammenbleiben. Neben einer Brücke am Fluss gab es eine öffentliche Quelle und gleich gegenüber lagen ein paar Geschäfte, in denen ich nach Nahrung fragen konnte, während Heiko unser Wasser auffüllte. Kaum hatte Heiko die Wasserflaschen zur Quelle gebracht, wurde er auch schon von einem dreisten Jungen belagert, der ihn bedrängte, anblaffte und um Geld anschnorren wollte. Bei gewöhnlichen Durchreisenden klappte diese einschüchternde und beängstigende Dreistigkeit wahrscheinlich relativ gut. Bei Heiko allerdings nicht. Er fuhr den Jungen unvermittelt an. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet und er erschrak so sehr, dass er einen Satz nach hinten machte und sofort zu seiner Mutter zurück lief, die an der Straßenecke saß und ihn zu dieser Aktion animiert hatte.

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Mit einer vollen Essenstüte und vollen Wassertanks gingen wir weiter und gerieten dabei ausversehen in einen Randbezirk der besonderen Art. Es war ein Wohnviertel der Sinti und Roma, die hier lebten und plötzlich erkannten wir auch den Grund dafür, warum diese Stadt einen so bedrohlichen Eindruck gemacht hatte. Offiziell lebten in der ganzen Stadt gerade einmal 9000 Menschen doch allein in diesem einen viertel mussten es weit mehr als das Doppelte sein. Mit Worten lässt sich nur schwer beschreiben, was uns hier begegnete. Es war eine Art Slum, aber nicht so wie man es aus Afrika, Indien oder Brasilien kennt, sondern noch einmal in einem vollkommen anderen Stil. Dicht an dicht standen Lehmhütten und teilweise richtige Häuser. Viele waren notdürftig zusammengeschustert und bestanden zur Hälfte aus Müll. Werbeplakate mit "Easy Credid" darauf waren zu Markiesen, Fenstern und Wänden verbaut worden. Jede dieser Hütten war mit 20 bis dreißig Menschen bewohnt. Auch die kleinen Gassen waren voll von Menschen, die um uns herumwuselten, uns nachriefen oder neugierig schauten, wer wir waren. Die einzelnen Menschen wirkten meist nicht bedrohlich sondern oft sogar freundlich. Viele sprachen uns auf Deutsch oder Englisch an, fragten wor wir herkämen oder wie es uns ginge. Es war mehr die Masse, die es bedrohlich machte. Es war, als liefe man mitten in einen Schwarm Wespen hinein, während man darauf vertraute, dass sie einem nichts tun würden. Und auch wenn man sicher weiß, dass es so ist, bleibt trotzdem dieses ungute Grfühl und der Wunsch, möglichst schnell wegzukommen. In Guatemala hatte ich bereits einige Slums gesehen und war auch schon durch sehr armselige und zwielichtige Viertel gekommen. Heiko hatte ähnliches in Thailand erlebt und war damals sogar Zeuge einer Massenhinrichtung durch die koruppte Polizei geworden. Und doch war dieses hier noch einmal anders. In Thailand und Guatemala waren wir darauf vorbereitet gewesen, derartige Armut zu sehen, doch hier befanden wir uns mitten in Europa. Vor zwei Jahren hätten wir jeden für verrückt erklärt, der behauptet hätte, dass wir derartige Erfahrungen auf unserem kleinen, hochzivilisierten Kontinent machen würden. Und auch nun viel es uns noch immer schwer, das zu glauben. Wir waren fasziniert und entsetzt zugleich. Es gab hier sogar einen kleinen supermarkt und irgendwie hatten es die Menschen geschaft, sich in dieser Hölle wieder eine kleine, absonderliche Welt aufzubauen. Und doch kamen wir nicht umhin, dass es uns ekelte und abstieß. Wie konnte man auf so eine Weise leben? Und vor allem warum? Diese Menschen hier waren die Nachfahren der Zigeunger, also eines Nomadenvolkes, das frei durch Osteuropa zog. Wieso hatten sie ihre Freiheit gegen das hier eingetauscht? Auf unserer Obdachlosentour durch Deutschland hatten wir viele sonderbare und denkwürdige Lebensformen gesehen, doch diese hier war noch immer diejenige, die wir am wenigsten verstanden. Wenn man im Slum einer riesigen Großstadt in einem Land irgendwo in der dritten Welt aufwuchs und niemals aus seinem Viertel heraus kam um zu sehen, dass es da draußen auch noch eine andere Welt gab, dann konnte man nachvollziehen, dass keiner den Absprung wagte. Aber hier war es ein winziges viertel und rings herum gab es eine ganz normale Stadt, grüne Wiesen und Felder. Jeder, der drei Meter von hier fortging konnte sehen, dass man sich nicht so eng in einem Müllberg zusammenpferchen musste. Und doch taten sie es. Was also war die Motivation? War das Familiensystem hier wirklich so stark, dass jeder einzelne nichts wert war und sie mit dicken Fesseln an sein Zuhause gebunden wurde, selbst wenn dieses nur ein Schuhkarton war? Anders konnte ich es mir kaum vorstellen.

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In Nürnberg hatten wir damals die Reste einer Zeltstadt entdeckt, die ein Sinti und Roma Klan mitten auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen des Frankenschnellweges gebaut hatte. Diese Stadt hatte vom Stil her ähnlich ausgesehen und auch das Verhalten der rumänischen und bulgarischen Obdachlosen in den Suppenküchen war dem hier sehr ähnlich gekommen. Damals hatten wir noch nicht verstanden, dass es sich bei den bulgarischen Einwanderern nicht wirklich um Bulgaren sondern eben um Sinti und Roma gehandelt hatte, die hier in Bulgarien genauso ungern gesehen waren wie bei uns. Warum sie so einen schlechten Ruf hatten konnten wir gut verstehen. Warum sie so einen schlechten Ruf haben wollten jedoch nicht. Denn es war ja eine Entscheidung auf diese Weise zu leben. Mit dem alten Nomadentum hatte es jedenfallsn nichts mehr zu tun. Doch in ihren Augen konnte man sehen, dass dieses Nomadentum noch immer in ihnen steckte. Als wir an ihnen vorbei gingen, schauten uns die meisten nicht nur mit Neugierde sondern auch mit Achtung an. Es war als wollten sie ihren Kindern sagen: "Schaut mal, so haben wir früher auch gelebt!"

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Im Herzen sind viele von ihnen sicher gute Leute, aber wir wollten ihre Gutmütigkeit auch nicht zu sehr herausfordern. Armut veranlasst Menschen dazu, unangenehme Dinge zu tun, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Es war also keine gute Idee, irgendwo unser Zelt aufzuschlagen, wo man uns entdecken konnte. Auch wenn unsere Beine damit nicht allzu einverstanden waren, legten wir noch einmal ein ordentliches Stück zurück, bis wir uns schließlich trauten, unser Zelt in einem kleinen Waldstück versteckt aufzuschlagen. Zuvor hatten wir einige alte, verlassene Gebäude entdeckt, die ebenfalls ein gutes Versteck abgegeben hätten, doch beim Näherkommen stellten wir fest, dass diese ebenfalls bereits von Sinti und Roma bewohnt waren. In anderen Ländern hatten wir uns oft beschwert, dass so viel freier Wohnraum ungenutzt war. Hier wurde anscheinend jedes Fleckchen sofort bevölkert. Zum ersten Mal machte es nun auch Sinn, dass so viele Grundbesitzer ihre verlassenen Hütten oder Scheunen von aggressiven Hunden bewachen ließen. In uns kam ein seltsames Gefühl auf. was war, wenn das nun immer so weiter ging? Wenn die gesammte Flachebene von Zigeunerslums bedeckt war und wir nirgendwo eine sichere, ruhige und versteckte Stelle zum Schlafen finden würden? In Rumänien sollte es sogar noch schlimmer sein und wer weiß ob es in Moldavien oder in der Ukraine anders war? Wenn wir jeden Tag wanderten bis es dunkel wurde, dann kämen wir zwar zurecht, aber wir könnten nichts mehr erschaffen und es war auch nicht die Art, wie wir eigentlich unterwegs sein wollten. Tausens Fragen tauchten in uns auf und zum ersten Mal seit langem war wieder ein Gefühl der Unsicherheit da, was unsere Art des Reisens betraf. Wir hatten schon des Öfteren überlegt, dass wir irgendwann einmal ein Begleitfahrzeug brauchten. Vielleicht ein Expeditionsmobil, einen Zirkusanhänger oder ein anderes mobiles Heim, das am Ende eines Wandertages irgendwo an einem schönen Platz auf uns wartete. Jetzt wurde dieser Wunsch wieder stärker und uns wurde klar, dass es große Teile der Welt gab, die anders zu Fuß unmöglich zu bereisen waren. Was immer es auch für ein Mobil werden würde, wichtig war dabei, dass es eine Schallisolation hatte. Auch das zeigte uns dieser Platz noch einmal deutlich, denn neben zwei Flüssen und einigen Hunden die von Fern her zu uns herüber bellten, waren wieder einmal tausende von Zirpen anwesend, die um uns herum lärmten. Wer hätte dedacht, dass der Platz hinter der alten Schule sogar noch der schönere von beiden sein würde? Auf dem Weg zu diesem Zeltplatz musste Heiko bereits einige Male in die Büsche abbiegen und ein kleines Häufchen hinterlassen. Etwas rumorte in seinem Magen und es sollte für heute noch nicht das letzte gewesen sein.

Spruch des Tages: Es gibt schon wirklich unterschiedliche Arten zu Leben

Höhenmeter: 250 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 15.591,27 km Wetter: endlose Hitze Etappenziel: Zeltplatz auf einer Wildwiese, kurz hinter 7288 Gorotsvet, Bulgarien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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