Tag 888: Verfolgungsjagd in der Natur

von Heiko Gärtner
11.06.2016 01:20 Uhr

Fortsetzung von Tag 887:

Um aus der Stadt herauszukommen mussten wir eine Schnellstraße überqueren. Hier war es so unangenehm, dass wir es kaum die wenigen Minuten aushielten, die wir brauchten um die Straße wieder zu verlassen. Doch den Einheimischen schien es zu gefallen. Eine Frau hatte es sich in ihrem Vorgarten gemütlich gemacht und trank einen Kaffee direkt neben der Straße. Hinter ihrem Haus befand sich ein weiterer Teil ihres Gartens, in dem es nur noch halb so ekelhaft gewesen wäre. Warum also saß sie hier? Rings um das Haus der Frau befanden sich lauter Wohnblöche und Betonbaracken. Die meisten waren halb verfallen und ihre Fenster waren zu großen Teilen eingeschlagen und durch Planen ersetzt worden. Doch auch diese Wohnungen waren noch immer bewohnt. Es gab hier nichts mehr schönes und keinen Vorteil der Zivilisation mehr. Wieso also lebten hier Menschen? Wie sehr mussten wir uns selber hasen, wenn wir uns so etwas antaten? Immer mehr beschlich uns das Gefühl, dass Menschen ganz im Allgemeinen nicht auf Ästhetik, Ruhe und Harmonie standen. Wannimmer wir eine Möglichkeit fanden, es uns unangenehm zu machen, nutzten wir. Wenn wir im Laufe unserer Geschichte eine Sache wirklich gut entwickelt hatten, dann war es diese Fähigkeit. Immerhin etwas, auf das wir stolz sein können! Noch einmal wurde uns bewusst, wie heftig unser Familiengefängnis sein musste, wenn wir so viel Leid in Kauf nahmen, nur um nicht ausbrechen zu müssen.

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Sogar die Menschen, die bereits ausgebrochen waren, kehrten immer wieder zurück. Gestern hatten wir einen Schäfer getroffen, der einige Jahre in Frankreich gelebt hatte. Es hatte ihm da gut gefallen und er hatte eine Menge Geld verdient. Dann aber hatte ihn seine Familie zurück nach Hause gerufen und er war dem Ruf gefolgt. Nun lebte er wieder in dem Dorf, direkt neben dem Slum und betreute Schafe, die er sich von seinem Geld aus Frankreich gekauft hatte. Glücklich war er damit nicht und er dachte ständig an seine Zeit in Frankreich zurück. Doch was solle er machen, hier war schließlich seine Familie. Noch heftiger war eine Geschichte, die Heiko vor vielen Jahren selbst erlebt hatte. Damals hatte er sich in eine junge Frau verliebt, die aus Bulgarien stammte und zum Studieren nach Deutschland gekommen war. Obwohl sie sich von anfang an gut verstanden hatten und sie Heiko sehr mochte, traute sie sich nicht, sich ihm anzunähern, weil sie wusste, dass sie in ihrer Heimat bereits versprochen war. Heiko ließ natürlich nicht locker und irgendwann öffnete sie ihr Herz und ließ die Vergangenheit hinter sich. Für einige Wochen waren die beiden ein glückliches Paar, doch dann geschah etwas, das sich Heiko nie hatte vorstellen können. Als er sie eines Abends in ihrer Studentenwohnung besuchen wollte, war sie weg. Sie war einfach verschwunden. Erst einige Tage später fand Heiko heraus, dass die Eltern des Mädchens gekommen waren, um sie wieder mit nach hause zu nehmen. Sie hatte von ihrer Beziehung mit Heiko erzählt und die Eltern waren damit nicht einverstanden gewesen. Es wurde nicht lange gefackelt und die aufmüpfige Tochter wurde wieder in den Einzugskreis zurückgeholt, wo sie später an einen Mann verkauft wurde, der der Familie einen Vorteil brachte. Das alles klingt nach etwas, das in fernen Ländern oder tiefster Vergangenheit passieren könnte, doch es ist noch immer Alltag. Hier, in einem Land das genauso zur Europäischen Union gehört wie Deutschland und Großbritannien. Dass Frauen hier im Allgemeinen eher wie Waren als wie Menschen behandelt werden ist uns ebenfalls schon öfter aufgefallen. Immer wieder war uns vorgeschwärmt worden, wie viele schöne und attraktive Frauen es in Bulgarien geben sollte. Als wir hier ankamen waren wir erst ein bisschen enttäuscht, weil das so gar nicht der Wahrheit entsprach. Es gab nicht mehr oder weniger hübsche Frauen als überall sonst.

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Doch dann fiel uns eine Besonderheit auf. Alle Frauen, die in Minimärkten, Cafés oder Bars, an Tankstellen, beim Friseur oder in Apotheken arbeiteten, waren besonders schön zurecht gemacht. Die Brüste wurden betont, der Hintern durch hautenge Hosen in Form gebracht und die Kleidung im Gesamten war so aufreizend gewählt, dass es fast an Prostitution erinnrte. Und im Grunde war es das auch, denn es ging nicht darum, dass sich die Frauen hübsch machten, weil ihnen danach war. Es ging darum, dass sie durch ihr Äußeres die geifernden alten Säcke anlockten, die etwas kaufen sollten. Sehr weit weg von Prostitution ist das eigentlich nicht mehr. Hinter dem Ort kamen wir auf einen Feldweg, der uns weiter nach Norden hätte führen sollen. Doch bereits nach einigen hundert Metern wurde der weg von einer Zuglinie unterbrochen. Man hatte sie einfach mitten durch den Weg gebaut, ohne einen Übergang hinzuzufügen. Das alleine wäre noch nicht schlimm gewesen, wenn man links und rechts der Gleise nicht auch noch zwei tiefe und breite Gräben errichtet hätte. Wie kam man auf eine solche Idee? Unser Feldweg war eine der Hauptverbindungslinien für die Agrarbewirtschaftung und nun mussten alle Traktoren komplett durch die Stadt fahren, nur weil man sich hier keine Gedanken gemacht hatte. Schlimmer noch, auch wir mussten nun noch einmal komplett zurück in die Stadt, über die Hauptstraße und dann an einer anderen Stelle zurück in die Felder. Und das obwohl uns bereits jetzt so schwach zu mute war, dass wir uns am liebsten einfach auf die Gleise gelegt hätten. Aber bei der Hitze hätten wir nicht einmal bis zum ersten Zug durchgehalten. Wir drehten also um und machten uns auf den Rückweg. Gerade in diesem Moment fuhr wirklich ein Zug vorbei. er war voller Schulkinder und eine der Türen stand bei voller Fahrt einfach offen. Entweder die Schüler brauchten Frischluft und die Fenster ließen sich nicht öffnen, oder aber die Tür ließ sich einfach nicht mehr schließen. In beiden Fällen war es eine halsbrecherische Aktion, die wieder einmal nur hier hatte stattfinden können.

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Nach einem weiteren Trip durch die Stadt und zwei weiteren Kilometern, die wir uns mühsam durch die Felder schleppten, fanden wir einen kleinen versteckten Platz unter ein paar Bäumen, der zum Zelten geradezu einlud. Es gab sogar eine Bank und einen Tisch, an dem man bequem arbeiten konnte. Doch bevor wir damit anfingen, legten wir uns erst einmal hin und schliefen einen halben Nachmittag lang, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. In unseren Mägen rumorte es noch immer und Heiko hatte zusätzlich auch noch starke Schmerzen in den Gelenken. Unsere Körper hatten sich also offenbar dafür entschieden, gleich einmal volle Power auf Entgiftung zu schalten, und forderten nun die Regeneration ein, die wir ihnen die letzten Tage verwehrt hatten. Später am Nachmittag bekam ich dann noch einmal Besuch von einer ganz besonderen Art. Ich saß auf der Bank und dachte an nichts Böses, da schlängelte sich plötzlich eine Hornviper genau zwischen meinen Beinen hindurch. Mit einem Satz stand ich oben auf der Bank. Ansosnten mochte ich energielos sein, aber für diesen gewagten Sprung der Spontanpanik hatte ich Kraft genug. Von hier oben konnte ich die kleine Schlange dann aus sicherer Entfernung beobachten, wie sie unter der Bank hindurch schlängelte. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihre Anwesenheit gar nicht in erster Linie mir galt. Jedenfalls nicht direkt, denn die Schlange war nicht dabei, zu jemandem hinzukriechen, sondern von jemandem wegzukriechen. Sie wurde von einem rotbraunen, flauschigen Wesen verfolgt, das ich leider nicht vollkommen identifizieren konnte. Wahrscheinlich war es irgendein maderartiges Säugetier, das die Schlange zu gerne erwischt hätte. Die beiden lieferten sich eine wilde Verfolgungsjagt und ich saß dabei einfach in der Mitte. Zufällig geschah das sicher auch nicht und es ist bestimmt spannend, herauszufinden, was diese Begegnung für mich bedeutet.

Spruch des Tages: Heute gibt es keinen Spruch des Tages, dafür fehlt uns die Energie...

Höhenmeter: 290 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 15.636,27 km Wetter: Sonne und Regen im Wechsel, dazu schwülwarm Etappenziel: Zeltplatz am Wegesrand, kurz hinter 9754 Izgrev, Bulgarien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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