Tag 892: Sesshafte Nomaden

von Heiko Gärtner
11.06.2016 02:00 Uhr

Fortsetzung von Tag 891:

Während sich ein Teil der Nomaden nun also mit den römischen Eroberern vermischte, blieb ein anderer Teil weiterhin nomadisch und konnte sich diese Lebensweise über mehrere Jahrtausnde hin bewahren. Dieses Volk waren die Zigeuner und auch heute existieren sie noch immer. Nur dass sie nun ihre nomadische Lebensweise verloren oder aufgegeben haben und jetzt aus irgendeinem Grund "Sinti und Roma" genannt werden. Wahrscheinlich wegen der Negativbelegung des Wortes Zigeuner. Ich würde jedoch vermuten, dass sich Sinti und Roma von "Sigone" also dem Slawischen Wort für Zigeuner und eben "Romanian People", ableitet. Aber das muss natürlich nicht so sein. Das auch die Zigeuner bei den sesshaften Völkern schon keinen allzu guten Ruf hatten, ist nicht verwunderlich, denn auch diese waren definitiv keine Heiligen. Als ziehendes Volk bekamen sie die Schwächen, Dummheiten und die Leichtgläubigkeit der sesshaften schnell heraus und nutzten sie gerne zu ihrem Vorteil. Verübeln kann man ihnen das nicht, denn dafür war es einfach zu leicht und zu verlockend.

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Doch als Nomadenvolk waren sie gewissermaßen Windmenschen, also Menschen, die neue Impulse brachten, Wissen verbreiteten und die Erfahrungen von einem sesshaften Volk zum nächsten brachten. Sesshafte Menschen haben eher die Qualitäten der Erde und können das Wissen vertiefen und wachsen lassen. Gemeinsam ergänzen sich beide Lebensweisen optimal und jeder kann dem anderen das geben, was dieser benötigt. Doch von dieser Idee und dieser Zusammenarbeit ist schon längst nichts mehr übrig. Das ziehende Volk war dem sitzenden schon immer unheimlich und so wurde es mehr und mehr in die Defensive gedrängt. Es entstant eine Feindschaft und diese führte schließlich dazu, dass die Zigeuner ihr altes Leben und ihre Traditionen vollkommen aufgaben. Heute ziehen sie nicht mehr frei, sondern sammeln sich wie Heuschrecken an einem Ort, den sie plündern und ausbeuten, so gut es nur geht. Von einem Volk der Wissensverbreiter und der Heiler sind sie zu einem Schmarotzervolk geworden, dass hauptsächlich auf Kosten anderer Lebt, ohne einen eigenen Beitrag zu leisten. Das ist vielleicht nicht gewollt, aber durch die Menschenmassen auf engstem Raum entsteht es automatisch. Der Respekt vor anderen und vor sich selbst ist verloren gegangen. Wenn man bereit ist, unter übelsten Bedingungen zu hausen, im Dreck zu leben und jede ausbeuterische Sklavenarbeit anzunehmen, dann ist es nur logisch, dass die Achtung vor dem Leben nicht besonders hoch sein kann. Weder vor dem eigenen, noch vor dem anderer.

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Wie im Innen so im Außen. Wenn ich mir selbst keine Achtung entgegen bringen kann, wie will ich es dann anderen gegenüber tun. Traurig an der geschichte ist nur, dass auch die heutigen, sesshaften Zigeuner noch immer als Nomaden gelten und so unser Bild vom ziehenden Volk maßgeblich prägen. Ist es ein Zufall, dass wir den echten Nomaden in unserer Region so lange das Leben schwer gemacht haben, bis sie ihre Traditionen aufgeben mussten und sie nun als abschreckendes Beispiel verwenden, um zu sagen: "Schaut her! Das sind Nomaden! Sie schmarotzen, stehlen, betrügen und machen alles kaputt, was sie in die Finger kriegen! Werdet blos nicht so wie sie sondern bleibt lieber schön zu hause und geht eurem festen Beruf nach!" Es ist doch auffällig, dass wir uns ein nomadisches Leben, bei dem wir wirklich produktiv und hilfreich sind, kaum vorstellen können, sondern immer ein Beigeschmack vom Schmarotzen mitschwingt, oder?

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Wie der Name schon vermuten lässt, war Rumänien das eigentliche Heimatland der Sinti und Roma. Während eines Weltkrieges, ich weiß leider nicht mehr, ob es der erste oder der zweite war, verbündeten sich die rumänische und die ukrainische Armee und nahmen weite Teile von Bulgarien ein. Damals heuerte die Armee Zigeuner an, um Baracken, Stützpunke und Kasernen zu errichten. Später eroberten die Bulgaren einen Teil ihres Landes zurück, aber die Zigeuner blieben. Ihnen war es egal, ob die Regierung rumänischer oder bulgarischer Art war, wichtig war nur, dass sie einen Platz zum wohnen hatten. Damals waren es rund 100.000 Menschen. Heute, rund 100 Jahre später sind es bereits 2 bis 3 Millionen. Genau weiß das niemand. Viele von ihnen haben gefälschte Pässe und tun so, als wären sie Italiener oder Türken, doch jeder weiß, dass es nicht stimmt. Ich weiß leider nicht, wie viele Menschen in Bulgarien insgesamt leben, aber dass den Einheimischen die exorbitante Vermehrung ihrer beinahenomadischen Gäste Sorgen bereitet, kann man durchaus nachvollziehen. Nach dem Gespräch mit dem Mann zogen wir uns in ein kleines Wäldchen zurück und bauten dort unser Lager für die Nacht auf.

Spruch des Tages: Wie viel Wissen und Können steckt wohl in diesem Volk verborgen?

Höhenmeter: 260 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 15.703,27 km Wetter: erst sonnig, dann bewölkt Etappenziel: Zeltplatz zwischen zwei Schlammwegen, kurz hinter 9420 Telerig, Bulgarien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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