Tag 940: Schön aber hart

von Heiko Gärtner
01.09.2016 01:40 Uhr

10.07.2016

Wer hätte gedacht, dass wir es schaffen, nach dem Schlafplatz von gestern heute einen aufzutreiben, der sogar noch ungeeigneter ist? Es ist wirklich ein Wahnsinn hier. Das Land hat auf seine besondere Weise eine unglaubliche Schönheit, die gerade in seiner unendlichen Weite und in der unbarmhärzigen Härte verborgen liegt. Doch ein Leben ist hier fast unmöglich. Auch die Einheimischen sind wie Gefangene in ihren kleinen Dörfern. Sie können mit dem Auto oder der Pferdekutsche von einem Ort in den nächsten fahren, aber sich dazwischen aufzuhalten ist vollkommen unmöglich. Obwohl es immer wieder Seen und Flüsse gibt, sieht man hier niemals jemanden Baden. Auch die Kinder nicht. Sie spielen nur auf den Hauptstraßen in den kleinen Dörfern und wissen kaum etwas mit sich anzufangen. Die Erwachsenen allerdings auch nicht, und so verbringen sie ihre Zeit hauptsächlich damit, sich mit den 2,5l-Flaschen Bier zuzukippen. Gerade ist auch noch Ferienzeit, so dass fast alle Kinder wie auch die Eltern permanent zuhause sind. In den Ortschaften kann man sich daher nun kaum noch aufhalten, ohne permanent belagert zu werden. Es fühlt sich teilweise ein bisschen so an, als käme man als Frischfleisch in einen Knast. Tage, Wochen und Monate lang gibt es hier weder etwas zu tun, noch zu sehen und die chronische Langeweile nimmt teilweise lebensbedrohliche Formen an. Und dann plötzlich tauchen zwei Fremde mit komischen Wagen auf. Wie soll man da nicht durchdrehen und zu einem Belagerer werden. Zelten in Sichtweite der Menschen ist also unmöglich. Zelten außerhalb der Dörfer aber auch, denn hier gibt es keinen Schatten und die einzigen Bäume, die überhaupt noch irgendwo wachsen, sind Rubinien mit zentimeterlangen Dornen.

Wir müssen also jeden Platz nehmen, den wir irgendwie bekommen können. Heute war das ein sonniger Platz unter der einzigen Eiche, mitten in einem kleinen Rubinienwald. Erst am späten Nachmittag sank die Sonne soweit hinter die Bäume, dass wir wirklich Schatten auf unserem Zelt hatten. Bis dahin wurden wir gebraten. Heiko ließ sich rösten, während er Bilder bearbeitete und ich während ich mich daran machte, einen neuen Reißverschluss in unser Zelt einzubauen. Der alte gab almählich immer mehr den Geist auf und es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich überhaupt nicht mehr schließen ließ. Wenn das passierte waren wir der Mückenflut beim Schlafen schutzlos ausgeliefert. Daher hätte der neue eigentlich heute schon fertig eingebaut sein sollen, doch leider dauerte die Arbeit länger als ich dachte. Ich habe nun gerade mal ein 6tel geschafft und das obwohl ich den ganzen Nachmittag durchgenäht habe. Irgendwie muss ich wohl mal wieder effizienter werden, was meine Arbeitsweise anbelangt, aber das ist ja nichts neues. Das Highlight unseres Tages war übrigens eine 6kg schwere Wassermelone, die wir von einem Minimarkt bekommen haben. Letztes und vorletztes Jahr waren solche Melonen unsere ständigen Begleiter, doch dieses Mal war es die erste, die wir überhaupt ergattern konnten. Gott haben wir dieses frische, saftige Obst vermisst. Sofort wurde uns wieder klar, warum wir die letzten Jahre weitgehend oder vollkommen ohne Zucker leben konnten. Man brauchte das Zeug einfach nicht, wenn man so gutes Obst hatte!

11.07.2016

Das wirklih Spannende an Rumänien und Moldawien ist, dass die Menschen hier ganz alltäglich auf eine Weise leben, die man bei uns für absolut alternativ und naturverbunden halten würde. Käme in Deutschland jemand auf die Idee, in ein kleines Lehmhaus mit nur zwei Zimmern zu ziehen, sein Essen mit einem kleinen Gasherd zuzubereiten, der im Sommer im Garten und im Winter irgendwo auf einer Holzkiste im Wohnzimmer steht, sein Geschäft im Garten über einem Loch zu verrichten, um das ein kleines Holzhüttchen gebaut wurde, seine Wäsche im Garten in einer Waschschüssel mit der Hand zu waschen und sein Auto gegen eine klapprige Pferdekutsche zu tauschen, dann würde man ihn einen Hippi oder Aussteiger nennen und wahrscheinlich sogar eine Dokumentation über ihn drehen. Hier ist dies der Standart. Dazwischen gibt es ebenfalls große Villen mit aller Technik, teure und schwere Autos, moderne Traktoren und dergleichen mehr. Aber das normale Leben der einfachen Leute sieht genau so aus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie besonders naturverbunden sind oder eine besondere Art der Zufriedenheit in sich hätten, die bei uns durch unsere Hektik verloren gegangen ist. Im Gegenteil. Da es kaum noch echte Natur gibt, sondern nur noch Agrarwüsten, leben die Menschen in ihren Ortschaften teilweise sogar naturfremder als viele deutsche Großstädter. Anders als im Balkan gibt es fast niemanden, der wirklich seine eigene Nahrung anbaut, wandern und spazieren gehen liegt so fern wie nur irgendetwas und der Umgang mit den eigenen Nutztieren ist eine Katastrophe. Viele der Kutschen haben keine Bremsen, so dass die den Pferden fat in die Haxen fahren, wenn es einen der vielen Hügel hinunter geht. Das Wagengeschirr ist teilweise so unpraktisch, dass es uns sogar rein beim Zuschauen weh tut. Viele Pferde müssen eine Glocke tragen, die bei jedem Schritt bimmelt. Scheuklappen verhindern, dass sie sehen, was seitlich vorgeht. Das mag aus Sicht der Menschen nützlich sein, aber versetzt euch einmal in das Pferd hinein. Pferde sind Fluchttiere, deren natürlicher Instinkt es ist, bei jeder Gefahr reißaus zu nehmen. Damit sie das können haben Sie ihre Augen seitlich am Kopf, sa dass sie im 360° Winkel alles um sich herum sehen können. Und dieses Panoramasichtfeld ist nun auf ein Minimum eingeschränkt. Sie haben also nur noch ihre Ohren, um Gefahren wahrzunehmen, doch auch die helfen ihnen nichts, wenn die Glocke ununterbrochen lärmt, so dass sie sonst nichts mehr hören können. Da die meisten Kutscher bereits am frühen Morgen so betrunken sind, dass sie selbst keine Gefühle mehr haben, peitschen, schlagen und treten sie ihre Tiere oft in Situationen, in denen diese ohnehin schon gestresst und panisch sind. Und selbst wenn die Pferde Feierabend haben, wird es nicht besser. Denn dann stehen sie meist mit einem Pfahl angepfloggt irgendwo mitten auf einer trockenen Wiese, auf der es weder Wasser noch Schatten in ihrer Reichweite gibt. Noch einmal: Pferde sind Fluchttiere! Stellt euch einmal vor, wie es sich für euch anfühlt, wenn ihr den ganzen Tag in der prallen Sonner herumsteht, nur Wasser über die drögen Grashalbe aufnehmen könnt und wisst, dass euer Bewegungsradius auf gut vier Meter begrenzt ist. Euer natürlicher Impuls ist es sofort wegzulaufen, sobald ihr eine Gefahr oder auch nur ein verdächtiges Geräusch hört, doch ihr wisst, dass euch diese Option verwehrt bleibt. Ihr könnt nichts weiter tun, als zu hoffen, dass die Gefahr nicht euch gilt. Gut, dass Tiere in ihrem Gottbewustsein leben und daher so unglaublich viel Gelassenheit in sich tragen. Aber mit Tierliebe hat das nur sehr wenig zu tun. Und den Pferden geht es dabei noch deutlich besser als den meisten Hunden.

Denn diese werden in der Regel in winzige Zwinger gesperrt oder an Ketten gehängt, die kaum länger sind als sie selbst. Warum? Nur damit sie jeden ankläffen, der irgendwie in die Nähe eines Grundstückes kommt, das selbst keinerlei Wert besitzt. Dabei sind die Rumänen aber an sich keine grausamen oder herzlosen Menschen. Im Gegenteil, sie sind ein äußerst freundliches und zuvorkommendes Volk, das nur leider dem Alkohol ein bisschen zu stark zugeneigt ist. Der Umgang mit den Haus- und Nutztieren ist vielmehr gang und gebe in fast allen Ländern, die wir bislang bereist haben. So etwas wie Tierliebe gibt es weitaus weniger, als wir es uns so vorstellen. Mit seinem Hund gassi zu gehen, scheint fast ein deutsches oder zumindest Mitteleuropäisches Phänomen zu sein. Auf der anderen Seite ist es dann aber auch wieder vollkommen normal, wenn die Gänse und Truthähne mit im Haus schlafen und abends beim Fernsehschauen mit auf dem Sofa sitzen. Letztlich sind es Nuancen, die die einzelnen Kulturen unterscheiden. Auch hier trägt jeder sein Smartphone und die Kinder, die auf den Pferdekutschen sitzen und aufpassen dass das Heu nicht herunter fällt, sind genauso Handysüchtig wie die Kinder bei uns. Und doch geben diese Nuancen ein vollkommen anderes Lebensgefühl. Im Balkan war es komplett anders als in Spanien oder Italien, Griechenland, Bulgarien oder nun hier. Spannend dabei ist jedoch, dass zwar alle unterschiedliche Lebenssysteme haben, dass aber keines davon wirklich praktisch und hilfreich ist. Auf irgendeine Weise machen wir es uns immer so schwer wie möglich. Jetzt wo ich das Schreibe fällt mir auf, dass ich mir darüber vielleicht auch noch ein paar Gedanken machen sollte. Wenn die ganze Welt ein Spiegel unserer, also in diesem Fall meiner Überzeugungen ist, und ich noch nie ein wirklich funktionierendes System gesehen habe, das nicht dazu führt, dass sich jeder selbst die Zeit stielt und es sich unnötig schwer macht, dann sagt das wohl auch einiges über mich aus. Nachtrag: Abgesehen vom Wandern in der Hitze, von der endlosen Suche nach einem Schlafplatz, der Fotobearbeitung und der Reparatur unseres Zeltreißverschlusses ist heute nicht wirklich etwas passiert. Doch jetzt wo ich den Bericht hier im Schein einer Straßenlaterne schreibe, sitzten schon die ganze Zeit zwei Hunde vor mir, die sich immer wieder gegenseitig besteigen. Der kleinere von ihnen scheint darüber wohl nicht allzu glücklich zu sein, denn jedes Mal wenn er berammelt wird, fängt er laut zum Knurren an. Dummerweise scheint das seinen Kollegen eher noch anzutournen als abzuschrecken.

12.07.2016

Die Temperaturen erreichten heute wieder ein neues Rekordhoch. Der Wetterbericht hatte 35°C im Schatten angekündigt, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich ausreichte. Zum Glück bekamen wir nach den ersten 6km ein eiskaltes Wasser und dazu jeder ein Schokoladeneis. Zum ersten Mal seit einem knappen Monat stand heute im Regal eines kleinen Supermarktes sogar eine Flasche Olivenöl. Dieses Mal machte ich nicht den Fehler, es zunächst mit Geld zu versuchen, sondern fragte danach und bekam nicht nur das Öl, sondern gleich noch eine große Tüte mit allerlei anderen Leckereien geschenkt. Darunter auch eine Packung Chips für den Abend. Offensichtlich ist das Leben für mich wirklich ohne Geld vorgesehen. Auf diese Weise komme ich einfach viel leichter zurecht. Für den Nachmittag fanden wir heute sogar einen echten Wald, der nicht nur aus Rubinien sondern auch aus Eichen und Buchen bestand. Die Sonne brannte noch immer heftig zwischen den Blätten hindurch aber es war dennoch so, dass man relativ gut damit umgehen konnte. Damit ging dann die Reißverschluss-Nähaktion im Zelt in die dritte Runde. So ein Zelt ist doch größer, als man erst glauben mag. Alles in allem sind es gute sieben Meter, die hier vernäht werden wollen. Morgen werde ich den letzten Rest schaffen, dann sind wir endlich wieder vollkommen Sicher, was nächtliche Minibesucher mit Juckreiz verursachenden Saugrüsseln anbelangt.

In einer Pause sprachen Heiko und ich über meine Arbeitsweise, wobei auffällig war, dass ich es nie schaffte, mir selbst Ziele zu stecken, die ich dann auch einhalten konnte. Ich war so sehr von meiner Unstrukturiertheit überzeugt, dass ich mir lieber überhaupt nichts vornahm und einfach immer schaute, wie weit ich an einem Tag kam. Oder aber, ich merkte, dass ich vollkommen ins Hintertreffen kam und setzte mir dann Ziele an dessen erreichen ich aber selbst nicht glauben konnte und die ich deshalb auch nie erreichen konnte. Möglich waren sie, aber eben nur, wenn ich fokussiert und konzentriert bei der Sache blieb und mich selbst dabei ernst nahm. Ich aber glaubte von vornherein nicht, dass ich es schaffte, gab mir deshalb auch keine Mühe und driftete immer wieder ab. Nach dem Essen versuchte ich zum ersten Mal, es anders zu machen und steckte mir das klare Ziel, bis zum höchsten Punkt des Zeltes zu kommen und zwar bis maximal 19:00 Uhr. Und fast auf die Minute genau schaffte ich es auch. Es war also möglich. Nur beim anschließenden Essen- und Wasserholen klappte es dann gleich schon wieder nicht. Statt der gesteckten halben Stunde war ich fast eine ganze unterwegs. Dafür hatte ich dann aber sogar Käse und Wurst aus Deutschland ergattern können. Am Abend machte ich mich noch einmal auf die Suche nach Internet. Eine Bar gab es nicht uns so fragte ich eine junge Frau, ob ich ihr Handy benutzen dürfte. In Moldawien hatte dies bereits zwei Mal geklappt, wobei das Handy-Internet sogar auf den Computer übertragen werden konnte. Auch hier bot mir die Frau das Internet an, doch sie hatte einen Tarif, in dem sie über G4 nur Facebook und einige andere Apps nutzen konnte. Googlemail hingegen war gesperrt und viele andere Seiten auch. Es musste also ganz spezielle Tarife geben, die genau vorschrieben, was ein Kunde nutzen durfte und was nicht. Als vor Jahren die Diskussion über die G-Netze, UMTS und so weiter aufkamen, hätte ich nicht gedacht, dass diese Dinge vor allem für Länder wie Romänien gedacht sind. Bei uns ist es ein nettes Spielzeug, doch so wirklich braucht es niemand, weil es überall freien W-Lan-Zugriff gibt. Jeder hat seinen Rooter zuhause und auch an Tankstellen, in Bars, im Kino, in Bibliotheken, Schulen, Unis, Firmen, Bahnhöfen, eigentlich überall gibt es irgendwo einen w-Lan-Zugang. Hier ist das G4-Netz in den meisten Fällen das einzige, was existiert. Wer also irgendwie mobil erreichbar sein will, der ist darauf angewiesen.

Spruch des Tages: Wie kann etwas gleichzeitig so schön und so abartig sein?

Höhenmeter: 420 m Tagesetappe: 43 km Gesamtstrecke: 16.782,27 km Wetter: sonnig und heiß, später Gewitter und Starkregen Etappenziel: Zeltplatz auf neben einer kleinen Serpentinenstraße, kurz hinter 90600 Rachiw, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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