Tag 941: Der erste Badetag in diesem Jahr

von Heiko Gärtner
01.09.2016 01:54 Uhr

13.07.2016

Duch die Fertigstellung des Buches hatte ich den Blog in letzter Zeit etwas vernachlässigt und so hatten sich wieder rund dreißig Tagesberichte angesammelt, die nachgeholt werden wollten. Nachmittags war nun die Zeltreparatur dran, also verlagerte ich das Nachholen der Berichte in die Abend- und Nachtstunden. Im Wald war es zu mückig geworden, weshalb ich mich draußen auf die Felder zurückzog. Um kurz nach zwölf kehrte ich in unser Zelt zurück. Als ich dort eintraf, war Heikos Willkommensstimme bereits blass und kraftlos. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber um Punkt zwölf Uhr war ihm plötzlich schlecht geworden. Zuvor war alles in bester Ordnung gewesen, doch nun spürte er einen stechenden Schmerz im unteren Rücken, einen betäubenden Druck auf der Brust und sein Magen verkrampfte sich, als wolle er ihm aus dem Bauch springen. Kaum hatte ich mich ins Zelt gelegt, sprang er plötzlich auf und fing an zu würgen. Wir schafften es gerade noch rechtzeitig, die beiden Reißverschlüsse des Zeltes zu öffnen und schon schwappte der erste Schwall Kotze direkt vor unseren Eingang. So schnell er konnte schnappte er sich eine Jacke und seinen Kacklappen und verschwand in der Nacht. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich ihn wieder sah. Vollkommen ausgemergelt sackte er im Zelt zusammen und fiel sofort in einen unruhigen Schlaf. Drei weitere Male musste er die Nacht noch nach draußen, bis wir in der Früh von der Sonne geweckt wurden, die in unserem Zelt eine unerträgliche Hitze erzeugte.

Vorsichtig stand Heiko auf und entleerte seinen Magen-Darm-Trakt noch ein weiteres Mal. Dann war der Spuk vorbei. Was hatte diese Übelkeitsattacke ausgelöst? Zunächst vermuteten wir wieder einmal das Essen oder das Wasser, doch es hatte nichts gegeben, das Heiko zu sich genommen hatte, ich aber nicht. Also testeten wir mit dem Muskeltest noch einmal verschiedene Themen durch und kamen auf ein spannendes Ergebnis. Heute vor genau einem Jahr hatte die Entscheidung angestanden, ob Paulina wirklich in den Wagen ihrer Mitfahrgelegenheit nach Sarajevo einsteigen sollte oder nicht. Damals hatten wir bereits das Gefühl gehabt, dass es keine gute Idee war, dass sie einfach noch nicht bereit dazu war und dass die ganze Angelegenheit wahrscheinlich in einem Desaster enden würde. Doch wir hatten dieses Gefühl ignoriert, denn es war uns wichtiger gewesen, das neue Herdenmitglied in unserer Gruppe aufzunehmen, als darauf zu achten, was für uns alle das Beste war. Seither war unendlich viel passiert und wir alle hatten tiefe Prozesse durchlaufen. Mit dem Jahrestag dieser Entscheidung war Heiko nun in einen Heilungsprozess gekommen, der noch einmal alles aus ihm herausschütteln wollte, was an unverdauten Gefühlen und Säuren noch immer in ihm steckte. Nur so ließ es sich auch erklären, dass Heiko in dieser Nacht gut und gerne 20l Flüssigkeit verlor. Denn auch wenn wir an diesem Tag viel getrunken hatten, so viel war es dann doch wieder nicht. Es mussten also Altlasten sein, die sein Körper über lange Zeit eingelagert hatte und nun auf einen Schlag an die Luft setzte. Zum Wandern wurde der Tag heute wieder fast unerträglich. Wenn wir gestern 35°C im Schatten hatten, dann waren es heute sicher noch einmal vier oder fünf Grad mehr. Ideal also, wenn man die ganze Nacht gekotzt, aber kaum geschlafen hatte. Ein kurzes Stück mussten wir heute an einer echten Hauptstraße entlang. Die kleineren Hauptstraßen waren wegen dem Urlaubsverkehr ja schon unerträglich gewesen, aber diese hier übertraf nun alles. Für uns waren die eineinhalb Kilometer ein Spießrutenlauf, den wir so schnell wie möglich hinter uns bringen wollten. Wie Menschen direkt an dieser Straße leben konnten, war für uns unvorstellbar. Ebenso wenig verstanden wir die vielen kleinen Stände vor den Häusern, an denen in der prallen Sonne Knoblauch, Tomaten und Zwibeln angeboten wurden. Alle verkauften exakt das gleiche und obwohl hunderte von Autos daran vorbei fuhren, hielt kein einziges an. Der einzige Erfolg war also, dass das gute Gemüse in der Sonne verdörrte und verrottete. Hinzu kam, dass es fast immer die Kinder waren, die ihre Ferientage dazu nutzen mussten, in diesem Höllenlärm an der Hauptstraße auf die Stände aufzupassen und dabei reglos in der Sonne zu sitzen. Dass man sich selbst nicht besonders mögen konnte, wenn man an so einer Straße lebte, lag auf der Hand. Doch offensichtlich mochten die Menschen auch ihre Kinter uns ihr Gemüse nicht allzu sehr.

Nachdem wir die Hauptstraße verlassen hatten, kamen wir auf einige kleine Nebenstraßen, die nicht mit Asphalt sondern mit grobem Schotter bedeckt waren. Dies verstanden wir gleich noch weniger, denn dieser Straßenbelag war wohl das unpraktischste, das je erfunden wurde. Selbst mit unseren Handkarren verursachten wir darauf mehr Lärm, als die Autos auf der Hauptstraße und permanent mussten wir gegen einen Widerstand anziehen. Für die Pferde, die ihre tonnenschweren Anhänger durch diesen Schotter ziehen mussten, musste es die Hölle sein und selbst für die Autos war es eine Qual, weil es ununterbrochen zu Steinschlägen kommen musste. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir wieder einen Wald, in dem wir unsere Zelte aufschlagen konnten. Der einzige Nachteil war, dass er von den Einheimischen gerne als Müllhalde benutzt wurde und daher voller Scherben war. Außerdem hatten wir nicht erwartet, dass im Laufe des Nachmittages so viel Verkehr und Betrieb in diesem Waldstück herrschen würde. Mehrere Pferdekutschen und Autos fuhen an uns vorbei und von irgendwo her kamen sogar Fußgänger mit großen Einkaufstüten. Ich weiß nicht, ob es an der Region oder an der Ferienzeit liegt, aber die respektvolle, höfliche Distanz, die wir bei den Menschen in Rumänien am Anfang so bewundert hatten, war hier vollkommen verloren gegangen. Mehrfach bekamen wir neugierigen Besuch und einmal kam sogar ein Mann, der sich aufspielte und uns vertreiben wollte. Gut, dass wir inzwischen gelassen genug waren, um diese Dinge einfach nicht mehr ernst zu nehmen.

14.07.2016

Heute waren wir zum ersten Mal in diesem Jahr baden! Es war eine schleimig-lehmige Brühe in einem Feldweiher und das Wasser war pipiwarm, aber es war richtiges Baden! Langsam verstehe ich auch wieder, warum wir das letztes Jahr so gerne gemacht haben. Aber so richtig vorstellen, dass wir die Tradition wieder aufnehmen und regelmäßig in einen See oder Fluss hüpfen kann ich mir noch nicht. Gewässer gibt es hier eigentlich genug und auch die Hitze bietet ein paar Badestunden wirklich an, aber so richtig einladend ist es hier immer nicht. Im Balkan gab es viele klare Bergseen und Wasserfälle, in die man einfach springen musste. Hier gibt es die Wassersammelbecken, in denen die Pestizide und Düngemittel zusammenlaufen. Irgendwie ist das schon ein Unterschied. Auch von den Einheimischen her ist es hier vollkommen anders. Im Balkan gab es fast kein Gewässer, in dem nicht irgendjemand geplanscht hat. Hier haben wir nur ein einziges Mal ein paar Jugendliche in einem Graben schwimmen sehen. Heute hatten wir kaum unsere großen Zehen im Wasser, da tauchte auch schon ein Mann auf, der uns argwöhnisch beäugte, so als hätte er uns beim Äpfelstehlen erwischt. Menschen im Wasser waren hier so ungewöhnlich, dass man es sich in den Kalender eintrug, wenn man mal einen sah. Unsere Badeaktion war außerdem seit rund einem Monat das erste Mal, dass meine Haut in direkten Kontakt mit Wasser gekommen ist, das weder Regen noch mein eigener Schweiß war. Ich weiß, das klingt eklig, aber genau so ist es. Waschen und Pflege im Allgemeinen sind hier so schwer wie nirgendwo sonst auf unserer Reise. Im Balkan gab es wenigstens immer wieder Quellen oder öffentliche Wasserhähne. Hier gibt es nur gelegentlich Brunnen und die immer in den Ortschaften und an den Hauptstraßen, so dass man sich nur schwer ausziehen und waschen kann. Heute haben wir zumindest einmal unsere T-Shirts wieder an einem solchen Brunnen gewaschen. Sofort kam eine Frau aus dem Haus und gesellte sich zu uns. Zunächst dachten wir, dass es ihr unangenehm war, dass wir ihr Wasser mit unsere Peke verpesteten. Doch das war ihr egal. Sie war nur hier, weil sie uns beim Waschen zusehen wollte und das freute sie riesig. Sofort musste sie eine Freundin anrufen und ihr live von unseren nackten Oberkörpern erzählen.

Irgendwie scheint uns Paulina auch dieses Jahr noch immer auf eine gewisse Art zu begleiten. Natürlich nicht Paulina selbst, sondern unsere eigenen Gedanken und Gefühle zu der damals gemeinsam erlebten Situation. Nach Heikos Kotzattacke von letzter Nacht, kam heute nun ein Tag zu uns, der uns in viellerleih Hinsicht ausbremste und beschwerte. Ein bisschen so, als hätte sich ein Schatten auf uns gelegt, der unser Leben zur Hälfte abdunkelte. Genau dies passierte heute Morgen mit dem Display unserer Kamera. Ohne einen ersichtlichen Grund legte sich ein dunkler Schatten auf die eine Hälfte, so dass man fast nichts mehr sehen konnte. Ob es an der Hitze lag oder daran, dass wir bei der letzten Reparatur wieder einmal Pfusch angedreht bekommen hatten, weiß ich nicht. Aber auffällig ist, dass es genau heute passiert. Wenn dieser Schatten nun in rund einem Monat wieder verschwindet, bin ich wirklich soweit, dass ich nur noch an die Spiegelgesetze glaube. Doch die Kamera war nicht das einzige. Nach einer guten 20km-Wanderung kamen wir an den kleinen See, in dem wir uns kurzerhand badeten. Laut Karte war hier so ziemlich die einzige Möglichkeit, um einen Schlafplatz aufzutreiben. Der See selbst war jedoch bewohnt und von Kettenhunden und dem grimmigen Mann belagert, weshalb der einzig machbare Platz direkt an der Straße lag. Er war alles andere als ideal, doch im Glauben, nichts besseres finden zu können, nahmen wir ihn trotzdem. Doch kaum hatten wir alles ausgepackt, begann der Platz uns mit allen Mitteln zu vertreiben. Zunächst kam ein harter Wind auf, der den Zeltaufbau fast unmöglich machte. Dann raste plötzlich ein Auto nach dem nächsten an uns vorbei. Die Straße war winzig und seit wir sie betreten hatten, war uns nur ein einziges Auto begegnet. Nun kamen allein innerhalb von fünf Minuten rund zwanzig bis dreißig Autos an uns vorbei. Und zu guter letzt verweigerte auch noch der Boden die Aufnahme unserer Heringe. Es gab einfach keine Möglichkeit, das Zelt zu befästigen. Vor allem nicht gegen den Sturm. Dennoch wollten wir den Platz nicht aufgeben. Wir hatten uns dafür entschieden, also mussten wir es jetzt auch durchziehen! Immerhin hatte es ja einigen Aufwand gekostet, alles auszupacken. Jetzt wieder einzupacken, weiter zu ziehen und nicht zu wissen, ob wir irgendwo innerhalb der nächsten zehn Kilometer überhaupt einen Platz finden würden, erschien uns einfach nich verlockend. Da war sie also wieder, die Verbissenheit, an einem einmal begonnenen System festzuhalten, egal wie viel auch dagegen sprechen mochte. Doch dieses Mal waren die Zeichen stärker und auch wenn wir den Wink mit dem Zaunpfahl erst später verstanden und stattdessen über die vergeudete Zeit brummelten, mussten wir wieder aufbrechen. Genervt und frustriert zogen wir weiter, nur um festzustellen, dass es keinen anderen Platz gab, der auch nur halbwegs in Frage kam. Und dann, als wir es schon nicht mehr erwarteten, kamen wir an ein kleines Rubinienwäldchen, in dessen Mitte sich eine Wiese mit zwei großen Walnussbäumen darauf befand. Krumm, bucklich und schief war natürlich auch dieser Platz, aber ansonsten war er für uns wie geschaffen. Es war also wieder einmal genau darum gegangen: Loslassen und vertrauen, dass genau das kommt, was kommen soll.

Am frühen Abend ging ich noch einmal in den Ort, um dort nach Essen, Wasser, Internet und Strom zu fragen. In einem Bar-Minimarkt bekam ich von einer freundlichen Dame so ziemlich alles, was wir uns zum Essen in diesem Land erträumen konnten. Darunter auch ein glas Senf, mit dem wir nun unsere Leberwurstbrote etwas aufwerten konnten, von denen wir uns in der letzten Zeit hauptsächlich ernährten. Ein junger Mann, der Englisch und Italienisch sprach übersetzte für mich und stellte mir auch ein paar Fragen zu meiner Meinung über sein Heimatland. Wie uns Rumänien gefalle und vor allem auch, was wir von den Frauen hier hielten. Sie seien schöner als in Deutschland, oder? Was ich bestätigen konnte war, dass sie sich auf jeden Fall besser präsentieren konnten. Anders als bei uns, wo es Mode geworden ist, seine Geschlechtlichkeit zu verstecken und so neutral wie möglich zu wirken, waren hier die Frauen wirklich gerne Frau und standen mit ihrem ganzen Ausdruck dazu. Viel spannender aber war die Meinung des jungen Mannes selbst. Denn auch er sah die ganze Sache ziemlich ambivalent. Zum einen war er stolz darauf, dass Rumänien als eines der Länder mit den schönsten Frauen galt. Zum anderen war er aber auch frustriert darüber, wie die Frauen mit ihrer Schönheit umgingen. "Hier in Rumänien sind die Frauen mehr wie Huren!" meinte er. Als ich fragte, wie er das meine, lautete seine Antwort: "Ganz einfach. Es geht ihnen nicht um dich als Mensch, sondern um Geld und schöne Autos. Wenn du hier reich bist, kannst du jede haben, wenn nicht, dann bekommst du keine. Für mich ist das Prostitution!"

Spruch des Tages: Wer hätte gedacht, dass wir die Zeit mit Paulina auf der geistigen Ebene noch einmal so intensiv durchleben, auch wenn sie gar nicht mehr da ist?

Höhenmeter: 630 m Tagesetappe: 46 km Gesamtstrecke: 16.864,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz neben einem Friedhof, kurz vor 90514 Hrunyky, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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