Tag 1000: Österreich wir kommen!

von Heiko Gärtner
27.09.2016 22:38 Uhr

14.11.2016

Am Morgen kamen wir wieder einmal kaum aus dem Bett. Die Doppeletappe vom Vortag hatte uns mächtig geschlaucht und die Erschöpfung un Müdigkeit der letzten Tage lag uns noch tief in den Knochen. Dennoch packte uns auch die Vorfreude auf Österreich. Von unserem Schlafplatz waren es nun nur noch rund 30km bis zur ersten Ortschaft hinter der Grenze und wir konnten es kaum noch erwarten, dort anzukommen. Bis es jedoch soweit war, hatten wir noch zwei spannende Begegnungen mit anderen Reisenden, die ebenfalls eine ganze Weile unterwegs waren. Die ersten waren ein Rentnertrupp aus Dänemark, die sich direkt nach ihrer Pensionierung einen lange gehegten Traum erfüllten und zu dritt einmal quer mit dem Rad durch Europa tourten. Sie reisten mit absolutem Leichtgepäck, sowohl was den physichen als auch was den seelischen Ballast anbelangte. Man spürte ihre Lebensfreude deutlich und man merkte auch, dass sie ein eingeschweißtes und gut harmonisierendes Team waren. Spannender weise hatten sie, da sie mit Geld unterwegs waren die entgegengesetzen Erfahrungen gemacht, was die Mentalität der Polen und der Tschechen anbelangte. Die Tschechen hatten sie zwar ebenfals nicht als herzliche und hilfsbereite Menschen empfunden, doch sie hatten sie als recht höflich und zuvorkommend wahrgenommen. Die Polen hingegen empfanden sie überwiegend als unfreundliches und abweisendes Volk. In gewisser Weise dekte sich dies auch mit unseren Erfahrungen, nur hatten wir in Polen immer wieder herzliche Menschen getroffen, die das Gesellschaftsbild vollkommen durchbrochen hatten. In Tschechien hingegen war die oberflächliche Höflichkeit, die die Dänen wahrgenommen hatten in der Regel in dem Moment verschwunden, in dem klar wurde, dass wir keinen direkten finanziellen Vorteil bringen würden.

Die zweite Begegnung hatten wir mit zwei jungen Amerikanern. Sie stammten aus New York und waren gerade mit dem Studium fertig. Beide hatten bereits einen festen Job, der aber noch nicht begonnen hatte und so nutzen sie die Zeit um sich Europa antuschauen. Ein oder zwei Jahre zuvor hatten sie bereits eine Radwanderung durch die Vereinigten Staaten gemacht. Ihre Erzählungen darüber beruhigten und beunruhigten uns gleichermaßen. Zum einen musste man wirklich gut unterwegs sein können und auch das Zusenden von Paketen mit Ersatzmaterialien sollte kein Problem werden. Man konnte es nicht nur an Postfilialen sondern auch an Hotels schicken und später abholen, selbst dann, wenn man nicht darin übernachtete. Zum anderen gab es aber auch immer wieder Passagen, in denen es für Dutzende von Kilometern keine anderen Straßen außer der Hauptverbindungswege gab. Es gab sogar Bundesstaaten, in denen es Fußgängern und Radfahrern erlaubt war, auf der Autobahn zu gehen, bzw. zu fahren, da es ansonsten keine Alternativen gab. Osteuropa hatten sich die beiden hauptsächlich wegen des Geldes ausgesucht, da sie vermuteten, dass man hier wesentlich billiger unterwegs sein konnte, als in Mittel- oder Westeuropa. Ob dies wirklich stimmte waren wir uns unsicher, aber die Vermutung war nachvollziehbar. Einer der beiden hatte außerdem europäische Geschichte studiert und war daher besonders an der Ukraine interessiert. Von ihm erfuhren wir sogar noch einige Fakten, die wir zuvor nicht gewusst hatten. Im Westen der Ukraine hatte es einst einige Ölfunde gegeben, von denen man glaubte, dass sie zu einem großen und ertragreichen Ölfeld gehörten. Dadurch wurde das Land plötzlich für alle Seiten interessant. Die Österreicher wollten es haben, die Polen und natürlich die Russen. Die Ukrainer, die eigentlich Selbstständig sein wollten, fragte natürlich niemand. Später stellte sich dann heraus, dass es keine großen Ölfelder gab und dass die gefundenen Quellen so lächerlich klein waren, dass sich ein Abbau nicht lohnte. Aber da war der Krieg schon im Gange. Spannend war, wie sie beiden Jungs das Radfahren in Europa wahrnahmen. Den Greenway beschrieben sie treffender Weise als "absolut ineffektiv". In Amerika waren die meisten Straßen wie mit einem Lineal schnurgerade durch das Land gezogen und die Ortschaften lagen in der Regel in einem Abstand von rund 50km von einander entfernt. Dadurch legten die Jungs pro Tag ordentlich Strecke zurück und hatten immer das Gefühl, gut voranzukommen. Hier lagen oft nur 5km zwischen den Ortschaften und die Straßen schlängelten sich dazwischen wie Regenwürmer. "Es ist nicht nur, dass wir hier viel weniger Kilometer machen als in den Staaten," meinte der größere der beiden, "Wir fahren dabei auch noch ständig im Kreis. Jetzt hier an diesem Punkt sind wir näher an dem Platz, an dem wir vorgestern übernachtet haben, als an dem, von dem wir heute in der Früh gestartet sind!" So falsch war ihre Beobachtung nicht, denn obwohl wir nach Wien und die beiden Amerikaner nach Prag wollten, liefen wir auf dem Weg in die gleiche Richtung. Sinnvoll war dies sicher nicht. Aber darum ging es hier ja auch nicht. Es war eben in Europa nicht das Ziel, möglichst schnell große Distanzen zu überwinden, sondern auf dem kleinen Raum, der da war, die schönsten Strecken ausfindig zu machen. Und dies schafte der Greenway mit Bravour!

Obwohl Österreich nun bereits zum Greifen nahe lag, war es als wollte uns Tschechien einfach nicht loslassen. Die Strecke zog sich ewig zwischen den Feldern hin und es war, als kämen wir keinen Millimeter voran. Langsam konnten wir die beiden Jungs doch verstehen. Als wir schließlich den letzten Ort vor der Grenze erreichten, nutzten wir den einzigen Supermarkt des Ortes, um unsere letzten tschechischen Kronen loszuwerden. Wieder einmal zeigte sich, dass dies weit schwieriger war als gedacht, denn es gab einfach nichts Sinnvolles, das man kaufen konnte. Natürlich war es geschenktes Geld, das in nur wenigen Metern für uns seinen Wert verlor, aber trotzdem sahen wir es irgendwie nicht ein, damit Dinge zu kaufen, die wir auch immer wieder umsonst bekamen. Wenn, dann sollte es schon etwas besonderes sein. Zunächst dachten wir dabei an Pizza, denn direkt neben dem Supermarkt befand sich eine Pizzeria. Doch nach dem kurzen Gespräch mit der Cheffin war uns der Appetit vergangen. Der Preis für die Pizza selbst war vollkommen in Ordnung, aber sie verlangte noch einmal einen Euro Aufpreis für den Karton in den sie eingepackt werden sollte. Eine solche Abzocke konnten und wollten wir nicht unterstützen, Geschenk hin oder her. Im Endeffekt kamen wir dann bei einer Familienpackung Eis, vier kleinen Puddingbechern, einem Saft und einigen Fertigsuppen für dne Notfall heraus. So besonders Ernährungsplangerecht war dies nicht, aber etwas anderes fiel uns einfach nicht ein. Einen Moment überlegten wir, ob wir ein Glas Sauerkraut mit Würstchen kaufen sollten, doch in Anbetracht des Grenzwechsels waren wir davon überzeugt, dass dies heute einfach nicht nötig sein würde. Eine Annahme, die wir später noch bereuen sollten. Direkt vor der Grenze trafen wir dann die beiden Amerikaner ein zweites Mal. Sie hatten im gleichen Supermarkt eingekauft wie wir und machten gerade ein Picknich in einer kleinen Wanderhütte. Vor allem den kleineren von beiden machte es fertig, dass sie nun den ganzen Tag durch Tschechien geradelt waren und nun am Abend gerade einmal zwei Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt waren. Der Grenzübergang selbst war einer der beeindruckendsten, den wir je passiert hatten. Auf der einen Seite gab es die Grenze nicht einmal mehr. Wir waren im inneren europäischen Raum und rein Theoretisch machte es keinen Unterschied mehr, ob man sich auf der einen oder auf der anderen Seite befand. Es gab an dieser Stelle nicht einmal ein Europa-Schild mit der Aufschrift "Österreich". Das einzige, was überhaupt auf den Staatenwechsel hinwies, war ein großes Schild, das die Autofahrer über die Mautgebüren im Land aufklärte. Auf der anderen Seite war die Grenze aber auch so präsent und stark wie keine je zuvor. Direkt zwischen Ort und Grenzübergang befand sich ein Puff, in dem man billig an tschechische Mädels kommen konnte. Im ganzen Land hatten wir bisher kein einziges Bordell gesehen, doch hier an der Grenze tauchte es auf uns bewarb seine Dienstleistungen mit einem riesigen Werbeschild. Das alte Grenzwachhäuschen, in dem sich früher die Kontrollbeamten und der Zoll befunden hatten, war nun ein Casino. Konnte es eine Möglichkeit geben, die Absurdität noch stärker zu parodieren? Es gab sie tatsächlich! Auf die letzten paar Meter vor der Grenze ballte sich das Klischeebild von Tschechien auf engstem Raum zusammen. Hier gab es plötzlich einen großen Tschechenmarkt mit lauter gefälschten Markenprodukten und anderem billigen Ramsch. Ein Markt also wie man ihn von Tschechien erwarten würde. Gleich daneben waren ein Einkaufszentrum, ein weiteres Casino, ein Kinderspieleparadies, ein Wellnessspa und vieles mehr. Hinzu kamen zwei kleine Wechselstuben, die außerdem gefälschte Zigaretten und Alkohol im Programm hatten. Sogar die Tankstelle hatte sich so sehr auf den Grenzbereich eingestellt, dass hier nun der Sprit deutlich billiger war, als im Landesinneren. Tanken in Tschechien war im Allgemeinen nicht besonders günstig, aber es musste an der Grenze so aussehen damit die Österreicher kamen und ihr Geld hier ließen. Es schien langsam wirklich, als wäre das ganze Land nur darauf aus, jedem Touristen den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen.

Als wir Laa an der Thaya erreichten, konnten wir nicht verhindern, dass zunächst ein Wenig Enttäuschung in uns aufkam. Die Stadt wirkte nicht anders als die Städte zuvor, nur dass hier deutlich mehr Verkehr war und dass der Fahrradweg nun an der Hauptstraße entlang führte und sich nicht wie gewohnt über Nebenstraßen ins Zentrum schlängelte. In dieser Hinsicht hatten wir uns von Österreich eigentlich mehr erhofft. Die Enttäuschung verschwand jedoch, als wir den Pfarrhof erreichten und ins Gespräch mit den ersten österreichischen Damen kamen. Es war sofort ein lockeres und entspanntes Gespräch und innerhalb von Sekunden war klar, dass wir einen Schlafplatz im Gemeindesaal sicher hatten. Der Pfarrer selbst wurde nicht einmal gefragt, sondern nur informiert. Es war hier nicht einmal etwas Besonderes, dass Menschen im Saal übernachteten. Erst gestern war ein anderer Reisender im gleichen Saal gewesen, der ebenfalls aus Deutschland stammte. Gegenüber von unserem Schlafquartier befand sich eine kleine Wohnung, in der eingie Flüchtlinge untergebracht waren. Es war spannend, dass wir nach all der Zeit nun ausgerechnet hier das erste Mal in Kontakt mit echten Flüchtlingen kamen. Interessant war aber auch, dass es auch hier wieder deutlich weniger waren, als man ursprünglich erzählt hatte. Irgendwie passte es noch immer alles nicht richtig zusammen. Nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, machten wir noch eine kleine Runde durch die Stadt, um an ein Abendessen zu kommen. Dies gestaltete sich jedoch weitaus schwieriger, als wir vermutet hätten, denn zum einen hatte fast alles geschlossen und zum anderen waren die Menschen bei weitem nicht so spendabel wie wir es uns erhofft hatten. Man merkte deutlich, dass wir uns im Grenzgebiet und noch dazu in eienr reinen Touristenstadt befanden. Außerdem musste ich mich erst einmal wieder daran gewöhnen, dass ich nun wieder mit den Leuten reden konnte. Die Zeit in der ich stur wie ein Robotter meinen einen Satz runterbeten konnte, war vorbei. Hier musste ich wirklich ein Mensch sein und lernen, auf meine Gegenüber einzugehen. Eine wichtige und gute Aufgabe, doch für diesen Abend wollte sie mir nicht allzu gut gelingen. Im Endeffekt hatten wir dann trotzdem noch genug, um nicht hungern zu müssen, aber es war knapp. Dass wir essenstechnisch ausgerechnet in Österreich in eine Dürrephase kommen würden, hätten wir uns zuvor niemals erträumen lassen. Am Abend gingen wir noch einmal die Ereignisse der letzten Tage durch und machten noch einmal einige Austestungen. Ich kam dabei auf 610.000 Herzensverstöße allein in dieser Woche. Von einer Verbesserung konnte man also wirklich nicht sprechen. Als Sanktion dafür entschied mein höheres Selbst, dass ich eine der kommenden Nächte in einer Laubhütte aus Brennesseln schlafen sollte. Der Gedanke daran machte mir bereits jetzt wieder eine immense Angst und doch spürte ich, dass dies wichtig war, wenn ich ins Fühlen kommen wollte.

Spruch des Tages: Österreich wir kommen!

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 36 km Gesamtstrecke: 18.258,27 km Wetter: sonnig und warm Etappenziel: Privatpension, 3601 Dürnstein, Österreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

13.09.2016

Der Bürgermeister, der uns den Platz zur Verfügung gestellt hatte, war ein netter, aber auch etwas unbeholfener Kerl, der leider keine Ahnung hatte, wie er uns etwas gutes tun konnte, obwohl er hilfreich sein wollte. Man merkte, dass er mit Gästen in seiner Gemeinde einfach noch keinen Kontakt gehabt hatte. Meine Lieblingsaussage von ihm war: "Wir haben hier etwas frisches Brot für euch!" - "Wo?" - "Es ist noch beim Becker, aber wenn ihr es wollt könnt ihr es ja einfach kaufen!" Der Weg führte uns zunächst einfach weiter zwischen den Hügeln hindurch. Dann aber wurde er zu einem schmalen Feldweg, der zwischen einem Maisfeld und einem Graben eingeklemmt war. Der Maisbauer war ganz offensichtlich kein Fan von Wanderern und Radfahrern, denn er hatte sich große Mühe gegeben, den weg mehr und mehr in ein Feld zu verwandeln. Schließlich war nichts weiter von ihm übrig, als einschräger Grünstreifen, der zum Wasser hin abfiel. es gelang uns trotzdem, uns bis auf die nächste Straße durchzuschlagen, aber die Holperfahrt hatte ihren Preis. die Räder meines Wagens waren so oft hin und hergeschüttelt worden, dass meine Bremse nun wieder genauso laut klapperte, wie am Tag zuvor. Es dauerte nur Sekunden, bis dies wieder zu einem aktiven Reizpunkt zwischen uns führte. Warum schaffte ich es immer und immer wieder, die Dinge, die eigentlich erledigt werden müssten, nicht zu erledigen und so lange auf die Seite zu schieben, bis sie zu akuten Problemen wurden. Es war ein Reizmechanismus in mir, der dafür sorgte, dass alles was ich tat meine Mitmenschen so stark wie nur irgendmöglich nerven musste. Nicht nur Heiko, sondern jeden, der mir über den Weg kam. Die begann damit, dass ich grundsätzlich im Weg stand, dass ich vorbeikommende Autos und Radfahrer erst so spät bemerkte, dass sie abbremsen mussten, bevor ich ihnen Platz machte und dass ich dazu tendierte, alles irgendwie schmutzig oder unordentlich zu machen. Warum also war es mir so wichtig, alle anderen zu nerven? Ich selbst hatte keine Idee dazu, denn ich stand wieder einmal viel zu sehr auf dem Schlauch. Für Heiko als außenstehenden Beobachter war es jedoch vollkommen offensichtlich. Schon immer war ich ein Anerkennungsjunkie gewesen. Ich vertraute nicht darin, dass ich als göttliches Wesen automatisch mit genügend Lebensenergie versorgt wurde und glaubte daher, dass ich sie nur bekam, wenn man mir Aufmerksamkeit schenkte. Diese Aufmerksamkeit holte ich mir als Kind von meinen Eltern, in dem ich versuchte, der Sohn zu sein, den sie in mir sehen wollten. Wenn mir dies nicht ausreichte oder wenn dies einmal nicht funktionierte, dann war die zweite Strategie, sie durch Unordnung, Unpünktlichkeit, Unstrukturiertheit oder ähnliches zu reizen und zu nerven, so dass sie mir ihre Aufmerksamkeit in Form von Ärger schenken mussten.

 

Zeit meines Lebens kannte ich also nur diese beiden Strategien: Funktionieren wie ein Robotter um dadurch Lob zu erhalten oder indirektes Rebellieren durch nerviges Vertrottelt sein um dafür Rügen zu erhalten, die mir ebenfalls Energie in Form von Aufmerksamkeit schenkten. Andere Möglichkeiten, um an Lebensenergie zu kommen kannte ich nicht. Ich war wie ein Junkie, der immer wieder einen Einbruch begeht, um an den nächsten Schuss zu gelangen. Wenn er dabei erwischt wid und ins Gefängnis muss, dann ärgert er sich über sein Verhalten und schwört sich, zukünftig nicht mehr zu stehlen. Doch wenn er wieder draußen ist, kommt sofort die Sucht und verlangt nach einer Befriedigung. Also fängt er sofort wieder mit dem Stehlen an. Natürlich will er aus den Fehlern des letzten Mals lernen und so versucht er nun, geschickter zu stehlen, damit er nicht wieder erwischt wird. Genau das gleiche versuche ich, in dem ich mir vornehme immer besser und noch besser zu funktionieren. Aber das klappt genauso wenig wie die fehlerfreie Einbruchsserie des Heroinsüchtlings. Die Sucht ist größer und so kommt automatisch die zweite Strategie zum Tragen: Nerven bis zum Umfallen und dadurch Aufmerksamkeit, also die Droge erhalten. Sowohl der Heroinjunkie als auch ich wissen unterbewusst, dass wir uns mit dieser Art des Lebens selbst zerstören und dass es nicht unser Herzensweg ist. Also manipulieren wir uns dabei selbst und sorgen so dazu, dass es nicht ewig so weiter gehen kann. Das Problem ist jedoch, dass wir uns durch unsere Drogen betäuben, so dass wir nichts mehr fühlen können. Im Falle des Junkies ist es das Heroin, was ihn betäubt. In meinem Fall ist es meine Angst vor dem Fühlen und dem Schmerz. Ich brauche keine Droge, um meine Sinne und meine Emotionen auszuschalten. Ich mache dies allein mit meiner Angst. Eine Austestung zeigte später, dass ich gerade einmal 0,9% von dem fühlen konnte, was es zu fühlen gab.

Und diese 0,9% bezogen sich fast ausschließlich auf positives Erleben. Ich konnte also den Kick fühlen und wahrnehmen, den mir die Anerkennung gab, wenn ich erfolgreich als Parasit welche ergattert hatte. Im Beispiel des Junkies war dies so, dass ich den Schuss und die damit verbundene Euphorie fühlen konnte. Was ich jedoch nicht fühlte war das Leid und der Schmerz, den ich mir selbst durch meine Anerkennungshascherei zufügte. Als Junkie spürte ich also nicht das Verkaufen, das in den Arsch gefickt werden und die Schläge, die ich bezog um an meien Drogen zu bekommen. In meinem Fall spürte ich all die Herzensverstöße, das ständige gegen mich handeln, das verbiegen, verkaufen und verdrehen nicht, dass ich für die Anerkennung über mich ergehen ließ. Nur deshalb konnte ich auf diese Art und Weise leben. Und so drehte ich mich natürlich im Kreis. Weil ich nichts fühlte, konnte ich meinen eigenen Weg nicht finden und wusste nicht, was mir auf natürliche Weise Kraft gab, so dass ich kein Parasit mehr sein musste. Weil ich jedoch ein Parasit und Süchtig nach Anerkennung war, hatte ich Angst vor meinen Gefühlen und schaltete sie aus. Auch jetzt wo wir dieses Gespräch führten, war in mir nichts als Leere. Es gab kein Gefühl. Ich wusste vom Verstand her, dass ich mich gerade schlecht fühlen sollte, weil ich meinen besten Freund immer wieder aufs neue schädigte und weil ich mir selbst mein Leben unnötig schwer gestaltete, obwohl es mir an nichts mangelte. Doch ich fühlte es nicht. Aus irgendeinem Grund hatte ich beschlossen, wie mein Vater zu werden und nichts in meinem Inneren wahrzunehmen, das keine Wut war. Auch das zu erkennen löste in meinem Verstand den Impuls auf, dass ich dazu etwas fühlen sollte, doch ich fühlte nichts. Wenn ich an meine Familie und meine Freunde dachte, von denen ich mich nun für immer getrennt hatte und die mir nicht einmal ein "Leb Wohl!" auf meine Trennungsnachricht geantwortet hatten, dann war mir klar, dass eine Trauer in mir sein sollte. Doch ich fühlte sie nicht. Mir war bewusst, dass ich meiner Schwester und meinen engsten Freunden nicht einmal eine Hassmail oder eine Floskelnachricht wert war. Eigentlich sollte ich deshalb so enttäuscht sein, dass ich es kaum aushalten konnte, doch auch hier fühlte ich nichts. Es war nur Leere in mir. Sonst nichts. Die einzigen Momente in denen Gefühle auftauchten waren die extremeren Sankionen gewesen. 20 bis 30 Minuten Brennesseln, verbrühen in heißem Wasser, über 1000 Schläge mit dem Stock. Nur wenn ich Angst hatte, es nicht durchstehen zu können, wenn ich glaubte, dass mein Körper dabei kaputt ging und ich entweder bleibende Schäden davon tragen oder gar sterben würde, dann kamen plötzlich Gefühle hoch. Warum? Weil dann plötzlich nicht mehr mein Verstand die Kontrolle hatte, sondern ein Bereich in meinem Kleinhirn, der für intuitive Schutzprogramme des Körpers zuständig war. Es reagierte nun also nur noch meine Intuition und zwar direkt und ohne Umschweife. Damit gab es nun nichts mehr, das meine Gefühle blocken konnte und sie kehrten an die Oberfläche zurück. Sobald die Todesangst jedoch verschwand, holte sich mein Verstand die Kontrolle zurück und die Gefühle verschwanden wieder.

 

Die Frage war nun also: Warum war es meinem Verstand so unglaublich wichtig, dass ich gefühlsmäßig tot war? Die Antwort setzte sich aus drei verschiedenen Kernpunkten zusammen. Zum ersten war da die Angst vor den Gefühlen an sich. Ich war es einfach nicht gewohnt zu fühlen und es machte mir Angst, dass da etwas in mir war, das meinem Verstand die Kontrolle entziehen konnte. Fast alles was ich machte lief unbewusst ab. Es gab einen Reiz und auf diesen reagierte ich automatisch mit irgendeienr Handlung, die meist auch noch relativ dämlich war. Trotzdem glaubte mein Verstand, die alleinige Kontrolle über mein Leben zu besitzen und diese Kontrolle wollte er nicht abgeben. Jedes Gefühl, egal ob angenehm oder unangenehm führte jedoch dazu, dass er die Kontrolle verlor. Wenn ich traurig war konnte ich genauso wenig funktionieren, wie mit einem Gefühl von Wut, Verzweiflung, Erregtheit, Enttäuschung oder ähnlichem im Bauch. Wenn Gefühle da waren, waren sie präsent und forderten ihre Aufmerksamkeit. Sie unterbrachen Handlungsabläufe oder veränderten sie in eine Richtung, die vom Verstand nicht geplant war. Dies hasste mein Verstand, denn er wollte immer die Kontrolle haben und über den Verlauf der Dinge bestimmen. Es was also die Angst davor, loszulassen und das geschehen zu lassen, was gerade geschehen wollte. Der zweite Grund war die Angst davor zu erkennen, was ich mir und anderen angetan hatte. Mein Verstand wusste ja, dass er mich dazu bewegt hatte, 31 Jahre lang fast permanent gegen mein Herz zu handeln und meiner Seele so Millionen von Narben zuzufügen. Den Blick darauf zuzulassen und den damit verbundenen Schmerz zu fühlen, war eine große Aufgabe. War, als würde man ein kleines Loch in die Mauer eines Stausees schlagen. Wenn man dies tat, riss das herausströmende Wasser innerhalb von kurzer Zeit die gesamte Mauer ein und es gab kein zurück mehr. Vor dieser Gefühlsflut hatte ich sogar noch mehr Angst, als vor dem Kontrollverlust an sich, denn er bedeutete, dass mein Verstand vollkommen seine Macht verlor. Er würde als kleines Papierschiffchen in einem Meer aus Gefühlen treiben, von denen die meisten schmerzhaft waren und er hätte nicht einmal mehr eine Idee davon, wohin ihn das führen würde. Dies bedeutete nicht nur jede Menge Schmerz, sondern auch den vollkommenen Kontrollverlust meines Verstandes.

Der dritte Grund schließlich hing mit meiner Mutter zusammen und brachte uns noch einmal ein gutes Stück tiefer. Als perfekt funktionierender Sohn gehörte es sich nicht, Gefühle zu haben, denn diese würden ja dazu führen, dass ich eben nicht mehr perfekt funktionierte. Ich hatte also kein Recht dazu, Gefühle zu haben. Mein Leben gehörte nicht mir, es gehörte meiner Mutter und ich hatte so zu leben, wie sie es von mir verlangte. Eigene Gefühle hätten dieses Abhänngigkeitsverhältnis durcheinander gebracht und ausgehebelt, also hatten sie in meinem Leben keinen Platz. Doch das war noch nicht alles! Das Gefühl, dass mein Leben meiner Mutter gehörte reichte noch weitaus tiefer. Plötzlich fiel mir eine Situation wieder ein, die ich vor vielen Jahren erlebt hatte. Es muss ungefähr im Alter von sechs oder sieben Jahren gewesen sein, denn ich weiß noch, dass ich dabei am Fenster meines Zimmers stand, das sich noch im Bau befand. Damals hatte meine Mutter irgendein Problem mit dem Herzen oder der Lunge und es lag die Vermutung im Raum, dass sie vielleicht Krebs haben könnte. Im Enteffekt stellte sich heraus, das alles in Ordnung war aber für einen kurzen Moment hatte ich Angst, dass sie vielleicht daran sterben könnte. Damals schwor ich mir, dass ich meinem Leben ebenfalls ein Ende bereiten würde, wenn meine Mutter stirbt. Ohne Sie machte mein Leben einfach keinen Sinn mehr. Ich wusste damals nicht, warum ich das dachte, doch es hatte eine solche Präsenz, dass es sich bis heute in mich eingebrannt hat. Es war nicht nur ein flüchtiger Gedanke, sondern ein Schwur, dem ich bis heute versuchte Folge zu leisten. Der Sinn meines Lebens bestand nun einmal darin, meiner Mutter ein guter Sohn zu sein. Wenn dies nicht mehr möglich war, hatte ich mein Leben verwirkt und es war meine Pflicht, ihr in den Tod zu folgen. Gleichzeitig hatte ich selbst das Gefühl, nur dann überleben zu können, wenn sie wohl auf war und mich versorgte. Wie hätte ich ohne sie also überleben sollen. Es war nur logisch, dass ich mich umbringen musste, wenn sie starb. Natürlich ist meine Mutter nicht gestorben, aber aus meiner Perspektive ist nun etwas gleichwärtiges passiert. Sie ist aus meinem Leben verschwunden, als wäre sie tot und gleichzeitig bin ich noch daran schuld, dass es ihr nicht gut geht. Für das innere Kind, das damals den Schwur geleistet hat, war ich also sogar der Mörder meiner Mutter. Also war es nun auch meine Pflicht, mich umzubringen. Dies war der Grund, waurm der Gedanke an Selbstmord immer wieder so eine immense Präsenz in mir hatte, obwohl es mir eigentlich gut ging. Objektiv betrachtet war es vollkommen lächerlich, dass ich mich in meiner Position umbringen wollte. Ich war seit knapp drei Jahren als freier Wanderer unterwegs, schaute mir die Welt an, lernte täglich neues, musste mir keine Sorgen über Geld, eine Wohnung oder irgendetwas anderes machen, konnte tun, was immer ich wollte, musste in keine Arbeit rumpeln, die mir nicht gefiel Ich lebte meinen Traum, war fit und munter, hatte keine schweren Krankheiten, bekam täglich unzählige Geschenke von allen Seiten und hatte mit 31 Jahren schon mehr von der Welt gesehen als viele andere in ihrem ganzen Leben. Ich sollte der glücklichste und zufriedendste Mensch auf Erden sein! Wie also konnte ich nur im entferntesten an Selbstmord denken? Jetzt wo ich darüber nachdachte, war es absolut lächerlich. Und doch waren die Gedanken da und mussten einen Grund haben. Und dieser Grund lag in dem Schwur von damals. Ich hatte es nicht verdient, glücklich oder zufrieden zu sein, wenn auch nur die Chance bestand, dass meine Mutter es nicht war. Und aus diesem Grund manipulierte ich mein Glück an allen Seiten so gut es nur ging, um mir den erforderlichen Selbstmord schmackhafter zu machen. Doch das reichte nicht, denn ich war eben ein absoluter Schisshase, der niemals den Mumm finden würde um sich selbst ein Ende zu setzen. Denn das einzige, was ich noch mehr fürchte als das Leben, war der Tod. So oft ich ihn mir auch herbeisehnte, wann immer er auch nur einen Hauch in greifbare Nähe kam, wurde meine Angst vor ihm so groß, dass ich plötzlich doch leben wollte. Es war also klar, dass ich den Selbstmord nicht eigenhändig durchführen würde. Also musste mich mein innerer Schwurhüter also dazu bringen, dass ich mein Leben auf indirekte Weise beendete. Auch wenn ich es selbst nicht konnte, konnte ich doch wenigstens Ereignisse provozieren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass mich jemand anderes umbrachte. Dazu gehörte, dass ich jeden Menschen so stark wie möglich nervte, damit dieser dann irgendwann ausrasten und gewalttätig werden konnte, was mit etwas Glück dazu führte, dass er mich umbrachte. Dazu gehörte auch, dass ich so unaufmerksam wie möglich wurde, damit ich in jede Gefahr rennen konnte, die mein Leben möglicherweise beendete. Und dazu gehörte, dass ich immer wieder Reflexhandlungen ausführte, die vollkommen Lebensuntauglich waren. So zog ich unbewusst immer wieder das Handy aus der Tasche, um den Streckenverlauf zu überprüfen, wenn wir über eine gefährliche Straße gingen.

 

Der Schwur aus meiner Kindheit hatte also gleich mehrere fatale Folgen. Er machte mich nervig und unangenehm für andere Menschen, sabotierte mein Glück so gut es ging, machte mich unaufmerksam und naiv, stopfte meinen Kopf mit Selbstmordgedanken voll und lähmte meine Gefühle, damit ich zumindest schon mal nicht mehr lebte, wenn ich es schon nicht schaffte, mich umzubringen. Die Frage ist nun, wie ich diesen Kreislauf durchbrechen kann!

Zum einen muss ich irgendwie den Schwur von damals auflösen, meiner Mutter die Verantwortung über ihr Leben zurückgeben und diese unheilsame Verbindung zwischen uns kappen, die ich damals aufgebaut habe. Zum anderen muss ich es schaffen, ins Fühlen zu kommen, in dem ich mich mehr und mehr meiner Angst stelle und sie überwinde. Dazu sind wiederum die Sanktionen wichtig. Denn nur durch sie komme ich im Moment ins fühlen. Es ist, als gäbe es eine innere Schwelle, eine Art Break-Even-Point, der überwunden werden musste, damit ich in der Lage war, Gefühle zuzulassen. Und im Moment lag dieser Punkt bei der gefühlten Gefahr, dass mein Körper dauerhafte Schäden durch eine Sache davontragen konnte. Es musste eine Situation entstehen, der ich nicht entkommen konnte und in der ich einen körperlichen Schmerz fühlte, der so stark war, dass ich glaubte, ihn nicht überstehen zu können, nicht ohne dabei ernsthafte, vielleicht sogar chronische Schäden davon zu tragen. Dies musste nicht der Wahrheit entsprechen. Brennesseln, Wasser mit einer etwas zu heißen Temperatur oder Mikronadelstiche reichten dafür aus. Wichtig war, dass es sich für mich nach einer ernsten Verletzung anfühlte. Dann tauchte die akute Todesangst auf und diese sorgte dafür, dass ich automatisch ins Fühlen kam. Alle Situationen in denen ich mich in mich selbst zurückziehen konnte, wie beispielsweise die Streitgespräche, die Gefahr, meinen besten Freund und Mentor zu verlieren und zukünftig alleine unterwegs sein zu müssen, energetisch ausgesaugt zu werden und ähnliches führte immer nur dazu, dass ich mich entschied, noch gefühlskälter zu werden. Das gleiche galt für Sanktionssituationen in denen der Schmerz nicht stark genug war. Wenn ich das Gefühl hatte, es einfach durchstehen zu können, dann tat ich dies, da nun der Wunsch nach Anerkennung durch Gefallen und Aushalten größer war, als der Wunsch mich zu schützen und unversehrt zu bleiben. Nur die direkte Todesangst löste ein Notfallprogramm aus, das meinen Verstand ausschaltete, so dass ich nur noch intuitiv handeln konnte und damit auch fühlen musste. Es war ein wenig so, wie wenn man seine Hand auf die heiße Herdplatte legt. Man kann sie dort nicht lange liegen lassen, selbst wenn der Verstand es will, weil das Kleinhirn auf Schutzreaktion schaltet und die Hand automatisch wegzucken lässt, um den Körper zu schützen. Nur wenn man wirklich keine Schmerzrezeptoren mehr in der Hand hat, kann man sie liegenlassen auch wenn sie dabei verbrennt. Das passiert entweder dann, wenn man seine Nerven komplett betäubt hat, bzw. wenn sie aus irgendeinem Grund nicht mehr funktionieren, oder wenn man so tief in einem Schockzustand ist, dass sie keine Impulse mehr weitergeben. Zum glück war aber dies beides bei mir noch nicht der Fall.

 

Doch auch dies waren noch nicht alle Aspekte, die es zu erkennen galt. Die permanente Dummheit, Unüberlegtheit und Ungeschicklichkeit mit der ich hantierte, hatte noch weitere Ursachen, die aufgelöst werden wollten und auch bei den Selbstmordgedanken gab es noch mehrere Ebenen. Auffällig war ja, dass ich mit meinem naiven und unselbstständigen Handeln meinen Vater imitierte. Solange ich ihn kannte hatte er schon immer im Schatten meiner Mutter gestanden und sich in jeder erdenklichen Situation dafür entschieden, nichts alleine tun zu können, sondern immer die Hilfe anderer zu beanspruchen, um zurecht zu kommen. Dies begann beim Zubinden von Mülltüten, für das man grundsätzlich vier Hände brauchte, wenn es nach ihm ging und es endete beim Einpacken von Geschenken, was in der Regel meine Schwester für ihn übernehmen musste. Es war nicht so, dass er diese Dinge nicht konnte. Er konnte sie sogar recht gut, vorrausgesetzt, dass er keine Hilfe finden konnte und daher alleine handeln musste. Doch sobald er eine Chance witterte, Hilfe ergattern zu können nutzte er sie. Und obwohl ich diese Angewohnheit als Kind immer belächelte und mich auch oft darüber ärgerte, verhielt ich mich nun ganz genauso. Die Frage war nur warum?

Die erste Frage, die man dazu jedoch verstehen muss ist, "Warum hat sich meine Mutter ausgerechnet und ganz gezielt einen dummen, unselbstständigen Partner ausgesucht, der nichts alleine kann? Die Antwort ist einfach. Ein unselbstständiger Depp, der für alles Hilfe braucht, macht sich abhängig und kann damit nicht weglaufen. Er weiß, dass er alleine nicht überleben kann und bleibt allein aus Selbstschutz schon bei seinem Partner. Und nichts hat das Leben meiner Mutter so sehr geprägt, wie die Angst vor dem Verlassenwerden. Der Schachzug, sich bewusst einen Partner zu wählen, der rein logisch gar nicht gehen konnte, war also genial gewählt. Auf diese Weise konnte meine Mutter meinen Vater fest an sich binden und musste sich ihrer Angst nun nicht mehr stellen. Gleichzeitig hatte es für meinen Vater natürlich den Vorteil, dass er sich auch seinen Ängsten nicht stellen musste. Als Kind einer Übermutter, die ihren Kindern jede Lebensentscheidung abnahm füchtete er sich vor allem, bei dem er sich irgendwie entscheiden musste. Meine Mutter als Partnerin zu wählen, die ihm nun die Rolle seiner eigenen Mutter übernahm, sorgte also wiederum dafür dass er seiner Angst ausweichen konnte, ohne sich ihr stellen zu müssen. Die Paarbeziehung meiner Eltern war also von Vornherein nicht darauf ausgelegt, sich gegenseitig beim Wachsen und Entwickeln zu helfen, sondern sich im Ist-Zustand gegenseitig festzuhalten, so dass man seine Lebensthemen niemals anschauen und sich seinen Ängsten nicht stellen musste. Für mich als Kind waren diese Strukturen sofort erkennbar und da ich meine Eltern unterstützen wollte, um mein Überleben als ihr Kind zu sichern, übernahm ich diese Themen und Bürden in mehrerlei Hinsicht. Zum einen wollte ich meinem Vater die Dummheit und Unüberlegtheit abnehmen, indem ich sie mir selbst aufbürdete. Der Gedanke lautete: "Wenn ich die Unselbstständigkeit übernehme, so dass Mama noch immer die Sicherheit hat, dass ich sie niemals verlassen werde, dann brauchst du, Papa, dir diese Bürde nicht mehr aufzulasten. Gleichzeitig übernahm ich natürlich auch die Verlassensangst meiner Mutter in der Hoffnung, ihr das Leben dadurch ebenfalls etwas leichter machen zu können, was natürlich mir als Kind auch wieder bessere Lebenschancen verschafft hätte. Je besser es den Eltern geht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich um einen Kümmern und einem Aufmerksamkeit schenkten.

Gleichzeitig spürte ich aber natürlich auch, dass das vorhandene System nicht passte und dass es gegen die Herzensstimmen meiner Eltern verlief. Daher wollte ich ihnen helfen, ihre Angst zu curieren und zu überwinden, indem ich dafür sorgte, dass der umgangene Verlassens-Angst-Konflikt doch noch aktiv und damit auflösbar wurde. Dafür gab es wiederum zwei Wege. Entweder ich sorgte dafür, dass mein Leben relativ schnell wieder endete, indem ich entweder meinen tod provozierte oder selbst in die Hand nahm, oder ich beendete den Kontakt zwischen mir und ihnen für immer. Nur so konnte ich dafür sorgen, dass sie sich ihre Verlustängste anschauen, sie ins Bewusstsein holen und sich ihnen stellen müssen. Gleichzeitig war aber natürlich auch mein Ego noch mit im Spiel und dieses war nun auf Rache aus. Auch wenn ich es nie bewusst verstanden hatte, hatte ich doch auch als Kind immer schon gespürt, dass die Nähe zwischen mir und meinen Eltern nicht echt war. Nach außen hin waren wir eine glückliche Familie, aber eben eine ohne Gefühle und so spürte ich immer eine Leere zwischen uns. Ich hatte also auf einer suptilen Ebene stets das Gefühl, von meinen Eltern verlassen worden zu sein. Diese Gedanken führten später dazu, dass den Kontaktabbruch in gewisser Hinsicht auch als Befriedigung empfand. In mir dachte es: "Mama, Papa, ihr habt mich verlassen, also verlasse ich nun auch euch!" All diese Ebenen zu erkennen führte aber leider noch immer nicht dazu, dass mir das Fühlen nun leichter fiel. Ich wusste jetzt, warum ich ein Gefühlszombie und ein Anerkennungsjunkie war, doch ablegen konnte ich es deswegen noch nicht. Am Abend sollte sich jedoch zeigen, dass die Situation langsam immer ernster wurde. Nach den letzten beiden Tagen, in denen wir mit der Schlafplatzsuche relativ erfolgreich waren, glaubten wir zunächst, dass wir unsere Dürrephase in dieser Richtung überwunden hatten. Doch wie sich herausstellte war das leider nicht der Fall. Das einzige Übernachtungsangebot, das wir heute auftreiben konnten war ein Platz in einem Pfadfinderheim. Theoretisch wäre das eine hervorragende Option gewesen, doch praktisch hätten wir den Raum erst am späten Abend nutzen können, da zuvor noch eine Großveranstaltung darin abgehalten wurde. Leider zählte die Stadt, in der wir uns befanden zu einer der wenigen wirklich unangenehmen, die wir in Tschechien durchquert hatten und vie Vorstellung mehrere Stunden hier auf der Straße warten zu müssen, empfanden wir als absoult unmöglich. Also dankten wir für das Angebot, lehnten es ab und folgten weiter dem Weg in Richtung Österreich. Langsam konnten wir es kaum noch erwarten, diese Grenze endlich zu überqueren. "Wahrscheinlich werden wir den österreichischen Boden küssen, wenn wir dort ankommen!" meinte Heiko halb ernst und halb scherzhaft. Spannend dabei war, dass die Menschen, denen wir begegneten alle perfekte Spiegel für mich waren, die jeweils die gleichen Syndrome zeigten wie ich. Auch sie zeigten keine Gefühle, wirkten abwesend und Tod, waren nervig, zeitraubend und wenig hilfreich, also genau so, wie ich mich gerade selbst wahrnahn. Dafür aber wurde die Natur langsam immer reichhaltiger. Wir konnten nun immer wieder Äpfel und Birnen ernten, die auch bereits nach etwas schmeckten und zum ersten Mal in diesem Jahr kamen wir an reifen Weintrauben vorbei, die wunderbar süß und fruchtig schmeckten. In einem dieser Weinfelder, kurz vor einer kleinen Ortschaft bauten wir unser Zelt auf. Wasser hatten wir so gut wie keines mehr und auch mit dem Essen war es eher knapp besäht. Daher stattete ich dem Ort noch einen kurzen Besuch ab, der jedoch mittelmäßig erfolgreich blieb. Ein Mann der Englisch sprach erklärte sich bereit, die von mir mitgebrachten Wasserflaschen aufzufüllen und einer deutschsprachige Frau gab mir zwei weitere Flaschen mit Leitungswasser, vier Kekse und einen Liter Milch. Alle anderen schlugen mir sofort wieder die Tür vor der Nase zu.

Für ein gekochtes Abendessen hatten wir dennoch gerade genug Nahrung und so machte ich mich an die Zubereitung. Gerade als ich fertig war, kam ein Auto auf unser Zelt zugefahren. Ein glatzköpfiger Mann um die dreißig stieg aus und kam auf mich zu. Das markante Tattoo mit der großen 88 auf seinem Arm und das T-Shirt, auf dem in altdeutschen Buchstaden das Wort "Deutschland" zusammen mit einigen sehr eindeutigen Symbolen zu sehen war, ließen keinen Zweifel an der politischen Gesinnung unseres Besuchers. Sein Englischwortschatz ging gegen null und trotz seiner Begeisterung für das Nazi-Deutschland sah es mit seinem Deutsch leider nicht besser aus. Die Kommunikation reichte gerade aus um zu verstehen, dass er wissen wollte, wer wir waren und was wir hier wollten. Ich zeigte ihm unseren Zettel mit den Standartantworten und nachdem er ihn gelesen hatte, drehte er sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort. Wir hatten jedoch kaum zu Ende aufgegessen, also der Nazi wieder auftauchte. Dieses Mal war er noch weitaus unfreundlicher als beim ersten Mal und zur Begrüßung schlug er gleich mehrere Male gegen unser Zelt. Als ich nach draußen trat stand er direkt vor mir und widerholte genau zwei Sätze, die er offensichtlich kurz zuvor auswendig gelernt hatte: "Get off! My Place!" Ich versuchte zu einr Erklärung und einigen guten Worten anzusetzen, um ihn zu beruhigen, doch er war nicht auf eine Konversation aus. Stattdessen schlug er mir mit der Hand ins Gesicht und verschwand dann wieder zwischen den Weinreben. Der Gedanke, der mir dabei durch den Kopf fuhr lautete: "Scheiße! Jetzt bist du genau wie Paulina und ziehst ebenfalls Gewalttäter an, weil du keine Fortschritte machst!" Es war klar, dass wir hier nun nicht länger bleiben konnten. Wenn der Mann einmal wiedergekommen war um Stress zu machen, dann kam er auch ein weiteres Mal und dann würde er wahrscheinlich wirklich abgehen. und vielleicht sogar ein paar Freunde mitbringen. Uns blieb also nichts anderes übrig, als im Dunkeln und mitten in der Nacht alles wieder zusammenzupacken und erneut loszuwandern. So ärgerlich dies am Anfang auch war, so schön wurde unsere nächtliche Tour und schließlich waren wir dem Neonazi sogar ein bisschen Dankbar dafür. Der Mond stand fast voll am Himmel und erleuchtete uns unseren Weg. Dieser führte uns erst an einem Fluss und dann an einem riesigen See vorbei. Es war eine laue Sommernacht und wir hätten erwartet, unzählige Pärchen anzutreffen, die die romantische Stimmung und die Einsamkeit nutzten. Doch wir trafen kein einziges. Dafür aber begegneten uns unglaublich viele Tiere, die sich am Tag meist in ihren Gebüschen versteckten. Eine Eule flog über unseren Köpfen hinweg, mehrere Igel kreuzten unseren Weg und immer wieder blitzten in der Dunkelheit die Reflexionen von Augen sorieren Nachdem wir den See das erste Mal verlassen hatten, kamen wir an einem gigantischen Erlebnisbad vorbei, das locker Platz für mehrere Tausend Gäste bot. Schließlich erreichten wir eine kleine Böschung zwischen zwei Feldern, in der wir unser Zelt aufschlugen. Ideal war dieser Platz natürlich nicht, aber dafür, dass wir ihn komplett im Dunkeln ausgewählt und eingerichtet hatten, schliefen wir erstaunlich gut darauf.

Spruch des Tages: Get off my Place!

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 36 km Gesamtstrecke: 18.258,27 km Wetter: sonnig und warm Etappenziel: Privatpension, 3601 Dürnstein, Österreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Warum ist es mir so wichtig, alle zu nerven? Warum habe ich so eine Angst davor, etwas zu fühlen? Warum wird mein Gesicht immer wieder zu dieser unausstehlichen Fratze? Warum weigere ich mich zu lernen? Warum kommen bei mir eher Selbstmordgedanken als Lösungsgedanken? Warum nehme ich mich selbst nicht ernst? Warum habe ich das Gefühl, dass mein Gegner immer Gewinnt? Warum bin ich ein Robotter, der nur nach einem Lochkartensystem funktioniert, aber nicht selbst denkt? Obwohl er eigentlich selbst denken kann! Warum ist es mir so wichtig, dass ich mich nicht verändere, sondern immer der gleiche Depp bleibe? Warum bin ich immer gegen alles und glaube, ständig kämpfen zu müssen? Warum will ich Anerkennung erhalten, indem ich ein nerviges Arschloch bin? Diese Fragen kamen heute während der Wanderung auf. Warum? Weil ich es mal wieder geschfft hatte, eine einfache Situation so zu lösen, dass sie für alle nervig und unerträglich wurde. Dabei hatte ich dieses Mal sogar das Gefühl, nach einem Impuls der Aufmerksamkeit zu handeln und war für einige Sekunden stolz auf mich, endlich einmal etwas richtig gemacht zu haben.

Kurz bevor wir eine Autobahn erreichten, die wir queren mussten, fiel mir auf, dass meine Räder ungewöhnlich stark wackelten. Früher hätte ich den Impuls verspürt, dies zu ignorieren, weil ich nicht wahr haben wollte, dass an meinem Wagen etwas nicht in Ordnung sein könnte und daher meine Aufmerksamkeit braucht. Dieses Mal aber dachte ich mir: "Nein! Du spürst dass da ein Problem ist, also gehst du es gleich an!" Bis hier hin mochte es wohl auch eine gute Idee gewesen sein, doch dann verfiel ich zurück in meinen gewohnten Robotter-Modus. Ohne nachzudenken schraubte ich die Steckachsen lose und drückte sie fester in ihre Befestigung. Nicht eine Sekunde dachte ich dabei an meine Bremse, die gerade so eingestellt war, dass sie nicht klapperte. Die kleine Veränderung an der Achse machte diesen Erfolg wieder zunichte und sofort beim ersten Schritt klappterte sie wie der Teufel. So konnten wir es nicht lassen. Also hielten wir an, stellten die Wagen ab und ich versuchte den Fehler zu korrigieren. Intelligenter Weise hatte ich mich jedoch nicht gemerkt, in welcher Position die Achse ursprünglich gewesen war. Nun war es also ein Blindflug und genau so viel Erfolg hatte er auch. Die Bremse klapperte weiterhin und das änderte sich auch nach dem zweiten, dritten und vierten Mal Korrigieren nicht. Anders war es jedoch mit Heikos Geduld. Eine Korrektur war in Ordnung, aber nun war ich bereits fast eine halbe Stunde dabei, an meinem Wagen herumzupfuschen, ohne dass ich zu einem Ergebnis kam. Dabei standen wir bereits die ganze Zeit im Einzugsbereich des Autobahnlärms und nun sah es auch noch so aus, als müsste Heiko sich einen weiteren Nachmitag das permanente Geklapper meines Wagens anhören. Wie konnte es sein, dass ich ihm einfach mit allem, was ich tat, nerven kostete? Doch mein handwerkliches Ungeschick war nicht das eigentlich schlimme. Viel schlimmer war, dass mein Gesicht nun wieder zu der ekelhaften Maske des Verstandesgegners erstarrt war. Eine Maske, die ihn provozierend anschaute und sagte: "Schlag mich doch wenn du willst, du kannst mir eh nichts! Ich stehe über allem!" Es war eine Mischun aus Arroganz und Selbstmitleid, die mir aus dem Gesicht sprach und die einfach jeden Menschen, der sie sah zur Weißglut bringen musste. Auch ich selbst ekelte mich in diesem Moment vor meinem eigenen Gesichtsausdruck und hätte es mir am liebsten von den Wangenknochen gerissen, aber ich konnte es nicht verändern. Es war da und ich verstand nicht warum.

Die kommenden Kilometer in denen wir schweigend nebeneinander herliefen, verbrachte ich wieder einmal damit, mich selbst zu verurteilen. Für mich war klar, dass ich es niemals schaffen würde, mich zu ändern. Ich war einfach nicht lernfähig. Ich machte immer wieder die gleichen Fehler, egal wie oft ich verstan, dass ich mir damit selbst das Leben schwer machte. Wieder war es die Stimme meines Gegners, die in mir sprach: "Gib einfach auf! Du kannst es eh nicht! Du hast dich bei dem Versuch, dich zu wandelnd so tief in deinen eigenen Ängsten verstrickt, dass du nun keinen Milimeter mehr vor oder zurück kannst. Lass doch endlich einmal Heiko in Ruhe und hör auf, ihn wie einen Parasiten auszusaugen. Geh auf einen einsamen Berg, zieh irgendwo in den Dschungel, oder noch besser, bring dich einfach um! Du lebst doch ohnehin nicht, also bereite diesem Trauerspiel doch endlich einmal ein Ende!" Nun tauchte eine zweite Stimme in mir auf, die meinen Verstand anfuhr und sagte: "Bist du eigentlich vollkommen bescheuert? Wie kann es sein, dass du bei jeder kleinen Panne immer erst einmal an Selbstmord denkst, anstatt an eine Lösung? Du machst dir keinerlei Gedanken darüber, wie du ins Lernen kommen kannst, wie du die Ängste auflöst, wie du ein fühlender, aufmerksamer und lernbegeisterter Mensch wirst. Du siehst nur, dass du ein Zombie bist, merkst, dass es nicht so einfach ins Leben zu kommen und denkst immer sofort an Aufgeben. Dein ganzes Leben ist eine Flucht. Sobald irgendetwas schwierig wird, ziehst zu den Schwanz ein und memmst rum, dass du zu dumm, zu blöd oder zu schwach bist. Wer soll dir diese Scheiße glauben? Du erschaffst dir die Welt und du erschaffst auch deine Probleme, an denen du wachsen kannst. Es geht nicht darum, dass du sie nicht lösen kannst, sondern dass du keinen Mut hast, es auch nur zu versuchen!" Kurz darauf reflektierten Heiko und ich die Situation noch einmal etwas tiefgehender. Oder besser gesagt, Heiko reflektierte die Situation und ich hörte erst einmal zu und spürte, wie seine Worte in mir anschlugen. Es dauerte noch eine Weile, bis ich selbst etwas sagen konnte. Die Situation mit der Klapperbremse war eine typische Stellvertretersituation, wie ich sie ständig provozierte. Das Problem lag nicht darin, dass ich etwas falsch machte, sondern darin, dass ich grundsätzlich handelte, ohne dabei zu denken. Ich war schon wieder in dem alten Prinzip des Funktionierens angekommen. Doch zum ersten Mal verstand ich nun überhaupt, was dies bedeutete. Bislang war es immer ein vages Konzept gewesen. Irgendwie wollte ich versuchen, ins Leben zu kommen und nach meinem Gefühl zu handeln. Ich wollte Dinge tun, weil ich sie tun wollte und nicht, weil ich glaubte, sie tun zu müssen. Funktionieren war für micht ein Arbeiten nach Pflichtbewusstsein, bei dem es einfach nur darum ging, sachen abzuhaken. Doch worin bestand nun der Unterschied zwischen diesem Funktionieren für andere und einem echten Erschaffen, bei dem ich effektiv und produktiv arbeitete? In der theorie klang das einleuchtend aber in der Praxis spürte ich einfach keinen Unterschied. Erst jetzt wurde mir klar, was das Funktionieren wirklich bedeutete. Es war, als wäre ich ein Computer, oder noch treffender ein Lochkartenautomat, der fest vorprogammierte Bewegungsabläufe hatte, die er immer nach dem selben Muster ausführte. Ich lebte mein Leben wie eine Produktionsstraße in einer Autofabrik. Wenn der Impuls kam, ein Blech zu stanzen, dann wurde dieses Blech gestanzt, vollkommen gleich, wann, wo, warum und unter welchen Umständen. Wenn ein kleiner Vogel auf dem Blech saß, dann wurde er eben mitgestanzt, weil das Muster so programmiert war, dass es keine individuellen Änderungen geben konnte. Ich hatte keinen Plan, nach dem ich etwas erledigte, verschaffte mir keine Übersicht über den Ist-Zustand und machte weder Beobachtungen noch Einschätzungen von dem, was vor mir lag. Es gab einen Handlungsimpuls, der wie eine Lochkarte ein bestimmtes Verhaltensmuster auslöste und dieses Muster wurde dann ausgeführt, ob es nun passte oder nicht. Mein Standartverhalten war also das eines Resusaffen, der stur den Anweisungen folgte, die man ihm gab. Und wenn ich auf meinen Verstand hörte, dann war mir auch genau das das liebst. Ich wollte am liebsten Anweisungen haben, die zu 100% klar waren und denen ich nur noch blind folgen musste, so dass ich nichts falsch machen konnte. Ideal waren also Deppenjobs, wie beispielsweise das Einstellen der Berichte, bei denen immer wieder der gleiche Handlungsablauf ausgeführt werden musste. Selbst wenn ich nach Essen oder Schlafplätzen frage, hatte ich meist ein genaues Schema, nach dem dies ablief und wenn mir jemand dazwischen funkte geriet ich immer wieder aus dem Konzept. Es ging also nicht nur darum, dass ich tat, was andere von mir wollten, es ging darum, dass ich vollkommen auf Autopilot lief und meine Handlungen ausführte, ohne dabei mein Gehirn zu benutzen. Jetzt war natürlich auch klar, warum ich bei unserem Buch immer wieder gescheitert war. Ich hatte eine Lochkarte mit einem Programm haben wollen, dass ich dann in Form des Textes abspielen konnte. Aber das gab es nicht. Hier ging es darum, eigene Schlüsse zu ziehen, die vorhandenen Informationen auf ihre Kernessenzen herunterzubrechen und so miteinander zu verknüpfen, dass etwas neues, größeres daraus entstand. Es ging darum, eins und eins zusammenzuzählen und das konnte ich nicht. Die Frage war nur: "Warum konnte ich es nicht?" Logisches Denken lag mir an sich ja nicht fern und es gab viele Bereich in denen ich Rückschlüsse ziehen konnte. Warum also wollte es mir in Bezug auf mein eigenes Leben nicht gelingen?

"Wenn ein Chirurg eine Herz-OP durchführt," begann Heiko mit einem Sinnbild, "dann hat er mehrere Möglichkeiten, wie es dies lösen kann. Er kann das Herz mit einer Kunsthaut flicken oder er kann das vorhandene Gewebe zusammennähen, wodurch das Herz jedoch kleiner wird. Wie entscheidet er sich nun? Und warum?" Ich überlegte einen Moment: "Er entscheidet nach seinem Gefühl. Nach dem, was er beobachtet, wie er die Situation einschätzt und was er daraufhin für das erfolgsversprechendste hält!" "Ganz genau!" antwortete Heiko. "Und hier liegt dein Problem: Du fühlst einfach nichts. Du hast keine Ahnung, was das Erfolgsversprechendste ist. Wie willst du ein Gefühl für die Dinge bekommen, wenn du selbst überhaupt keine Gefühle hast. Oder viel mehr, wenn du keine Gefühle zulässt. Sei Mal ehrlich, wann hast du das letzte Mal wirklich ein Gefühl zugelassen? Ich meine, du hattest vor zwei Tagen die Karzer-Aufgabe, viereinhalb Stunden lang einfach nur dazustehen und die Fresse zu halten und trotzdem ist noch immer kein Gefühl in dir aufgekommen! Das ist der Wahnsinn! Ich weiß nicht wie du das machst! Das einzige Wenn du ins fühlen kommst ist, wenn du Dresche bekommst. Die Frage ist nur, wie viel du davon brauchst, dass dein Verstand endlich einmal aufhört, alles abzublocken! Das ist es auch, was mich so wütend macht, wo ich das Gefühl habe, ich müsste von morgens bis abends auf die einprügeln. Nicht weil du lauter nervige Fehler machst. Darum geht es nicht. Sondern wegen dieser Fratze! Warum kann dein Gesicht so hähmich und arrogant dreinblicken, wenn du gerade zusammengeschissen wirst? Weil du Gefühlsmäßig tot bist. Weil dein Verstand sagst, du kannst mir eh nichts, denn ich fühle ja nichts. Wie willst du zu jemandem vordringen, der nichts fühlt? Füge einem Skelett Schmerzen zu! Das geht nicht! Du bist wie einer der Menschen, die diese Nervenblockade haben, so dass sie keinen Schmerz spüren können. Sie können alles machen, sogar ihre Hand auf eine glühende Herdplatte legen, ohne dass sie dabei Schmerz spüren. Aber glaubst du wirklich, dass es sie nicht verletzt, nur weil sie den Schmerz nicht spüren?" "Nein", sagte ich. "Nein!" widerholte er mit Nachdruck, "Natürlich nicht. Sie verbrennen sich die Finger, bis sie nur noch Stümpfe haben und schädigen sich ohne Ende, aber trotzdem machen sie immer weiter, weil sie die Verletzung nicht wahrnehmen. Und genau so ist es auch bei dir, nur auf der Gefühlsebene. Du wirst permanent verletzt und bist längst ein emotionaler Krüppel! Aber du merkst es nicht, weil du einfach nichts fühlst! "Aber warum blocke ich meine Gefühle denn so immens ab?" fragte ich verzweifelt. "Weil du ein Schisser bist!" antwortete Heiko, "Weil du Angst vor deinen Gefühlen hast. Weil du genau weißt, was auf dich zukommt, wenn du sie zulässt. Überleg die mal, du hast jetzt den Kontakt zu all deinen Freunden, deiner Familie und deinen Verwandten abgebrochen. Du hast ihnen dein komplettes Seelenleben geschildert und es kam nicht einmal ein "Fick dich!" zurück. Nichts! Kein Abschied, kein gar nichts, außer von einer einzigen Person und von einer weiteren anonym über den Blog. Und trotzdem kommt in dir kein Gefühl dazu auf? Das kann nicht sein, Franz! Du bist scheiße traurig darüber und wütend und was weiß ich nicht alles! Aber du lässt es nicht zu! Du willst das alles nicht spüren! Du willst ein Zombie sein, weil du Angst davor hast, zu fühlen wie viel Schmerz zu in dir trägst!"

Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie sehr ich mich noch immer vor allem versteckte. Von Anfang an hatte ich gespürt, dass die eingeführten Sanktionen heilsam waren und vieles Lösten, was in mir festsaß. Aber mit jedem Mal hatte ich auch mehr Angst davor bekommen. Nicht nur vor dem Schmwerz, sondern auch vor den damit verbundenen Gefühlen. Ich war schon wieder dabei, mich davor zu drücken. Mein Verstand und meine Ängste übernahmen schon wieder die Oberhand. Ich liebte den Schmerz nicht, der mich heilte und der meine Gefühle aus der Verbannung ins Licht holte. Ich fürchtete ihn und ich wollte ihn so gut wie möglich umgehen. Ich versuchte ganz bewusst ins Schludern zu kommen, damit für die Sanktionen kein Platz mehr war. Ich nahm wieder einmal alles nicht ernst. Ich nahm mich nicht ernst. Ich wollte mich ernst nehmen, aber ich tat es nicht. Ich versuchte, mich permanent selbst zu verarschen, um mich meinen Ängsten nicht stellen zu müssen. Als Heiko gestern Abend mit seinen Eltern telefoniert hatte, war die Frage aufgekommen, ob die Sanktionen wirklich sein mussten und ob es nötig war, dass sie so hart ausfielen. Die Antwort lautet ganz klar "Ja!" ich brauchte sie! Ich brauchte sogar noch viel härtere Sanktionen. Mein Verstand war immer zur Stelle, wenn es darum ging, sich aus der Affäre zu ziehen und doch nicht ins Lernen zu kommen. Solange er damit durchkam würde ich weiterhin auf der Stelle treten. Lernen war für mich kein Wachstum, keine Entwicklung, ein Fortschritt. Lernen bedeutete für mich, ein weiteres Programm in mein System aufzunehmen, nachdem ich dann wieder im Automatikmodus als Robotter funktionieren konnte. Das Grundprinzip passte also einfach nicht und solange dies so war, musste ich auf der Stelle treten. Irgendwann musste ich verstehen, dass es ernst war, dass mein Leben etwas war, das ernst genommen werden wollte. Und dies funktioniert nur, wenn der Leidensdruck so hoch ist, dass meine Angsthasenstrategie schwieriger wird, als der weg ins Lernen. Denn zurzeit war ich noch wie ein Hypochonder, der seine Schwächen streichelte, um Anerkennung zu bekommen. Ich machte es nicht bewusst, aber unbewusst stellte ich mich absichtlich blöd, damit man mir zu Hilfe kam und sich um mich kümmerte. Je mehr ich mich von meiner Familie löste, desto schlimmer wurde es, da ich nun die alte Verbindung kappte, das Abhängigkeitsgefühl jedoch nicht loslassen konnte. "Ohne die Liebe und Anerkennung meiner Eltern, Freunde und Familie kann ich nicht überleben!" dachte es in mir. "Wenn diese nun weg fällt, muss ich sie mir auf anderem Wege besorgen, in dem ich unbewusst alles daran setze, von meiner Umgebung und damit natürlich vor allem von Heiko, als kleines Kind angesehen zu werden, das adoptiert und umsorgt werden muss, weil es alleine nicht zurecht kommt. Wenn ich es schaffe, ein kompletter Volldepp zu sein, um den man sich immer kümmern muss, dann ist das Gefühl wieder wie zu Hause zu der Zeit, in der ich noch ein kleines Kind war. Also ist alles wieder in Ordnung und ich brauche keine Angst mehr um meine Existenz zu haben!" WACH AUF DU SCHEISSKERL!!! So funktioniert das nicht! Merkst du nicht, dass du damit nur jeden Menschen aus deinem Leben vertreibst? Du machst dir selbst das Leben zur Hölle und saugst dabei alle anderen aus, so dass niemand mehr gerne bei dir sein kann. Wie will das funktionieren? Es gibt nur einen Weg, und der lautet, ins Fühlen kommen, egal wie schmerzhaft das auch sein mag und egal wie hart die Sanktionen dafür sein müssten, damit die Blockade der Angst durchbrochen werden kann.

 

12.09.2016

Um kurz vor halb neun wurden wir von Hanna, unserer Gastgeberin und ihrem Mann zum Frühstück eingeladen. Eine knappe Stunde saßen wir in ihrem Wohnzummer zusammen und Hanna stellte allerlei Fragen zu unserer Motivation, der Reise und unserem Leben an sich. Dann machte sie uns eine Tüte mit Gemüse aus dem Garten und - wie in diesem Land üblich - voll mit Süßigkeiten.

Die Strecke heute war nicht ganz so schön wie an den letzten Tagen, denn wir erreichten nun den äußeren Kreis der stadt Prüm. Die Nähe der Großstadt sorgte dafür, dass selbst die kleinen Nebenstraßen, die für die Fernfahrradwege auserkoren worden waren von Verkehr überhäuft wurden. Dann folgte die Unterquerung der Autobahn und schließlich reihten sich mehrere Hauptstraßen aneinander, auf denen es zuging wie in einem Ameisenhaufen. Bei alledem wurden wir wieder einmal von der Sonne geröstet wie zwei Scheiben Toastbrot in einem Sandwitch-Maker. Trotzdem gelang es uns schließlich, ein ruhiges und sogar einigermaßen kühlel Plätzchen aufzutreiben. Dieses Mal war es wieder das Rathaus, das uns weiter brachte. Zunächst versuchte ich mit zwei Damen aus dem Sekretariat zu sprechen, die mich erst einmal warten ließen und mir dann versicherten, dass es hier keinen Platz für uns gab. Dann aber kam ein gemütlicher dicker Mann und meinte: "Schlafen? Kein Problem!" Er führte uns in ein Gebäude, das dem Rathaus gegenüber lag. Von 18:30 bis 19:30 fand hier ein Yoga-Kurs statt, ansonsten waren wir für uns und ungestört.

Spruch des Tages: Geine Gefühle sind auch keine Lösung

Höhenmeter: 20 m Tagesetappe: 13 km Gesamtstrecke: 18.222,27 km Wetter: sonnig und warm Etappenziel: Umkleideraum des Sporthofes, Zwentendorf an der Donau, Österreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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