Tag 690: Verlassene Urlaubsregion

von Heiko Gärtner
25.11.2015 02:15 Uhr

Nach dem mauen Abendessen versuchten wir unser Glück am kommenden morgen noch einmal mit einem Frühstück. Bei Sonnenschein waren die Menschen wieder weitaus offener und wir bekamen eine Einladung zum Frühstück auf der Terrasse. Der Sohn der Hauswirtin kam kurz darauf mit seiner Familie und begrüßte uns förmlich. Das Gespräch das sich darauf mit ihm entwickelte, war das wohl einfallsloseste, das wir je geführt hatten.

„Wo kommt ihr her?“ begann er die Unterhaltung mit einer selten gehörten und überaus kreativen Frage.

„Aus Deutschland!“ antwortete Heiko.

„Aha!“ sagte der junge Mann und ließ es erst einmal eine Weile auf sich beruhen. Dann nahm er den Faden wieder auf und fragte: „Und aus welchem Land seit ihr?“

„Auch aus Deutschland!“ erklärte ich geduldig. Wieder gab es eine kurze Pause, in der der Mann so tat, als müsse er irgendetwas erledigen. Da ihm jedoch nichts sinnvolles einfiel, gab er es gleich wieder auf, stand eine Weile schweigend neben uns und fragte dann: „Welche Nationalität habt ihr?“

Dieses Mal kostete es uns schon einiges an Mühe, bei der Antwort ernst zu bleiben. „Deutsch!“ sagte Heiko schließlich.

Im Nachhinein betrachtet war es ein bisschen schade, das unser Frühstück schon so schnell beendet war und wir gleich weiterzogen. Welche tiefgreifenden Fragen hätte uns der Mann wohl noch gestellt, wenn wir länger geblieben wären?

Um Montenegro zu verlassen mussten wir nun auf die Hauptstraße wechseln, die aus dem Tal heraus führte. Es war eine große, breite Straße, die jedoch zum Glück nicht allzu sehr befahren war. Gleich als wir sie erreichten, warnte ein großes, rot umrundetes Verkehrsschild davor, dass es Pferdekutschen verboten war, hier auf dieser Straße zu fahren. Gut also, dass wir keine Pferde waren, denn von Menschenkutschen stand da zum Glück nichts.

Als wir das Schild sahen machten wir uns zunächst noch darüber lustig und wir hätten nicht gedacht, dass so ein Schild wirklich einmal notwendig sein konnte. Doch keinen Kilometer weiter wurden wir tatsächlich von einer Pferdekutsche überholt. Das arme Schild! Da stand es nun schon an einem Punkt, an dem es einen Sinn machte und wurde dann einfach ignoriert.

Zunächst bemerkten wir es kaum, weil es keine Serpentinen und auch keine Anhaltspunkte gab, an denen man die eigene Höhe hätte erkennen können, doch nach einiger Zeit fiel uns auf, dass wir schon wieder eine gewaltige Summe an Höhenmetern zurückgelegt hatten. Wir hatten uns schon gefragt, warum es heute so anstrengend war und begannen bereits an unseren Kräften zu zweifeln, als mir ein Blick auf unsere Karte verriet, dass wir nun schon fast 600 Meter höher waren, als bei unserem Frühstück.

Schließlich erreichten wir einen Punkt, der auf meiner Karte wie ein kleines Dorf ausgesehen hatte. Es hätte eigentlich unser Zielort werden sollen, doch wie sich herausstellte handelte es sich nur um eine Ansammlung stillgelegter Ski-Hütten. Auch das Hotel, das so vielversprechend angekündigt wurde, war bereits seit mindestens fünf Jahren tot. Es schien also wirklich zu stimmen, dass sich die Montenegroianer mit der Unabhängigkeit ins eigene Fleisch geschnitten hatten. Der ganze Tourismus war zuvor von den Bewohnern der nordserbischen Großstädte dominiert worden, die nun aus Protest nicht mehr kamen. Ohne sie musste hier alles nach und nach kaputt gegangen sein. Nur die großen Webeschilder standen noch immer und lockten zufällig vorbeikommende Wanderer und Touristen in die Irre.

So anstrengend der Weg bis hierher auch gewesen war, bleiben konnten wir hier nicht. Doch die Verlassenheit der Region hatte den Vorteil, dass es auch fast keine Autos mehr gab, die hier entlang fuhren. So konnten wir es riskieren und statt dem ursprünglich geplanten weg über den Bergkamm der Hauptstraße durch den Tunnel folgen.

Etwas mehr als einen Kilometer führte uns die Straße nun schnurgerade durch den Berg. Licht gab es keines und so wanderten wir in vollkommener Dunkelheit, die wir nur selbst mit unserer Handy-Taschenlampe durchbrechen konnten. An vielen Stellen waren bereits Steine, Schlamm, Sand und Geröll von den Tunnelwänden auf den Boden gefallen und einige Male mussten wir größeren Haufen ausweichen. Einen besonders sicheren Eindruck machte es nicht und wir waren heilfroh, als wir den Tunnel wieder verlassen konnten. Dennoch waren wir auch fasziniert davon, wie baufällig solche Straßentunnel sein konnten, ohne dass es jemanden störte, oder ohne dass etwas passierte. In Deutschland hätte diese Straße nicht einmal gesperrt werden müssen. Sie wäre nicht für die Öffentlichkeit zugelassen worden. Denn es gab weder Fluchttüren noch ein Belüftungssystem. Wenn also wirklich einmal etwas passierte, dann wurde sie definitiv zur Todesfalle.

Auf der anderen Seite wanderten wir noch ein paar Kilometer im Tageslicht, bevor wir ein kleines Dorf etwas abseits der Straße fanden, in dem wir unser Zelt aufschlagen konnten.

Die Nacht und auch der kommende Morgen wurden bitterkalt. Unsere Schlafsäcke wollten einfach keine Wärme hergeben und so konnten wir es uns nur noch damit gemütlich machen, dass wir uns in unsere lange Unterwäsche und in unsere Schlafsackinlays verkrochen. Es bestand kein Zweifel, dass es an der Zeit war, in Richtung Süden zu kommen. Wenn uns mit dem Material hier in den Bergen ein Wintereinbruch erwischte, dann waren wir geliefert. Schmerzlich wurde uns bewusst, dass wir auch unter Idealbedingungen unmöglich weiter mit Paulina hätten Wandern können, wenn wir dadurch unser altes Tempo hätten einhalten müssen. Es war gerade einmal Anfang September und die Nächte waren bereits jetzt schon so kalt, dass es grenzwertig wurde. Wie würde es hier wohl erst im Oktober oder November sein?

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Je stärker wir uns nun der Stadt näherten, desto ungemütlicher wurde die Hauptstraße. Der Verkehr nahm zu und die Rücksicht der Autofahrer nahm dazu proportional ab. Doch wirklich unangenehm wurde es erst, als wir die Stadt selbst erreicht hatten. Sie war laut, hässlich, vermüllt und unerträglich. Kurz gesagt also eine ganz normale Stadt auf dem Balkan. Sämtliche Versuche, einen Hotelschlafplatz aufzutreiben scheiterten wieder einmal an den mangelnden Englischkenntnissen der Hotelangestellten. Bei den kleineren Hotels ließ ich mir das durchaus eingehen, aber das selbst die Rezeptionisten des Grandhotels keinen englischen Satz hervorbrachten, fand ich schon etwas seltsam. Offensichtlich waren fünf Sterne neben der Tür und ein kristallener Kronleuchter in der Hotellobby noch kein Garant dafür, dass man auch einen Service bekam. Für uns war es nicht weiter tragisch, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich dort wirklich ein teures Zimmer miete und dann nicht einmal nach einem Wasser fragen kann, dann ist das doch etwas seltsam, oder nicht?

Auf dem Weg aus der Stadt fragten wir uns noch einmal, warum Menschen überhaupt in Städten lebten. Die Frage klingt vielleicht etwas ironisch, aber so war sie nicht gemeint. Was versprechen wir uns davon, uns ganz bewusst an einzelnen Orten zu ballen und uns selbst zu stapeln wie Hühner in einer Legebatterie. Bei den Hühnern reagieren wir mit Mitleid den Tieren und Verachtung den Haltern gegenüber, wenn uns die Zustände bewusst werden. Doch wir selbst nehmen es ohne zu zögern hin, dass wir uns auf engstem Raum zusammenballen und machen dies sogar noch freiwillig und gerne. Was also bringt uns dazu? Es muss ja einen guten Grund geben, dass der Großteil der Menschheit sich ganz bewusst für dieses Leben entscheidet und nicht ein kleines Häuschen auf dem Land wählt, wo es ruhiger und entspannter zugeht. Und selbst wenn wir uns für ein solches Landleben entscheiden, dann sorgen wir meist selbst dafür, dass es auch hier wieder stressig wird und dass die Ruhe von mitgebrachten Geräuschen überdeckt wird. Es scheint also, als wäre es uns wichtig, dass wir uns ganz bewusst im Stress halten. Warum machen wir das? Welcher Grund steckt dahinter? Denn wenn es keinen wirklich guten Grund geben würde, dann würden wir es sicher nicht machen.

Eine Erklärung, die uns dazu einfiel, war der Wechsel zwischen vagotonen und aktiven Phasen, den jedes Lebewesen durchläuft. Jedes Lebewesen oder zumindest jedes Tier, wechselt in der Regel zwischen zwei Phasen, je nachdem welcher Zustand gerade seinem Überleben dient. Nehmen wir beispielsweise einmal eine Maus. Im Normalfall ist sie in ihrem Entspannungszustand. Sie ruht, läuft ein bisschen herum, döst oder schläft. Kommt jedoch eine Gefahrensituation auf, dann wechselt ihr Organismus automatisch in den aktiven Zustand. Ihr Körper produziert Adrenalin, ihr Herz schlägt schneller, um ihren Organismus besser mit Sauerstoff zu versorgen und all ihre Sinne laufen auf Hochtouren. Sobald die Gefahr vorüber ist, wechselt sie sofort automatisch wieder in den Entspannungsmodus und ihr Organismus beruhigt sich wieder. Vorausgesetzt natürlich, sie wurde nicht gefressen. Dann wechselt sie gleich direkt in einen jenseitigen Zustand, den ich jetzt aber unberücksichtigt lassen möchte.

Auch wir Menschen wechseln ständig zwischen diesen beiden Phasen. Wenn wir im Stress sind, Sport machen, unter Strom stehen, eine Prüfung erledigen, arbeiten oder sonst auf irgendeine Art und Weise aktiv sind, sind wir in der sogenannten sympathikotonen Phase. Entspannen wir und, meditieren wir oder schlafen wir, dann kommen wir in den vagotonen oder auch parasympathikonen Zustand. Um wirklich in diesem Zustand zu verweilen müssen wir aber abschalten können. Es reicht nicht, sich kurz einmal hinzusetzen und die ganze Zeit über im Kopf weiter auf Hochtouren zu laufen. Eine Umgebung, die niemals schläft, wie es in Großstädten oft der Fall ist, ist also denkbar ungeeignet um in die vagotone Phase zu geraten. Und genau dies ist wahrscheinlich der Grund, weshalb wir die Unruhe und den permanenten Stress der Städte so lieben.

Auf den ersten Blick ist die vagotone Phase natürlich nicht zu verachten. Wer hat schon etwas gegen Entspannung, Ruhe und Wohlfühlphasen. Doch es gibt eine Sache, die man darüber wissen muss. Die vagotone Phase ist auch die Phase, in der sich unser Körper regeneriert. So lange wir aktiv sind, muss unser Organismus alle Ressourcen zur Verfügung stellen, damit wir auch aktiv bleiben können. Wenn wir gerade vor einem Raubtier flüchten, haben wir keine Zeit um gleichzeitig unsere Darmflora zu bereinigen. Die gesamte Energie wird in die überlebenswichtigen Bereiche des Körpers umgeleitet. Genauer gesagt, die Bereiche, die jetzt im Moment überlebenswichtig sind. Alles, was uns Langfristig gesund hält, wird erst einmal zurück gestellt. Normalerweise dauern diese Phasen nur kurz an und er ist ein Klacks für den Körper, sich davon wieder zu erholen. Doch wir haben es uns angewöhnt, in diesem Zustand zu verweilen und uns kaum noch Zeit zum regenerieren zu geben. Fangen wir jedoch einmal damit an, dann fordert der Körper seine Regeneration förmlich von uns ein. Er spürt, dass er nun Zeit dafür hat und beginnt gleich mit den Reparationsarbeiten. Dies führt dazu, dass wir uns schlaff, erschöpft und müde fühlen, dass wir energielos werden und plötzlich lauter Krankheitssymptome spüren, die zuvor nicht aufgetreten sind. Wir haben also das Gefühl, jetzt Krank zu werden. Dies liegt jedoch nicht daran, dass wir nun wirklich krank werden. Die Krankheitssymptome sind viel mehr Begleiterscheinungen der Heilung. So lange wir aber im aktiven Zustand waren, konnte sich der Körper keine Schwächen leisten, also spürten wir auch nicht, dass es uns schlecht geht.

Diese Erklärung ist natürlich stark vereinfacht, denn auch wenn wir uns im permanenten Dauerstress befinden verschafft sich unser Körper immer wieder Entspannungsphasen in denen er sich zumindest zum Teil regeneriert. So kommt es trotzdem immer mal wieder zu Krankheitserscheinungen. Außerdem gibt es auch einige Symptome, die wir in der aktiven Phase zu spüren bekommen. Doch im Großen und Ganzen ist die aktive Phase, die Phase des Handelns und die passive die des Fühlens und Regenerierens.

Auch wenn wir keine Ahnung von diesem Prinzip haben, spüren wir trotzdem, dass wir durch Entspannung in eine Heilungsphase kommen, die unter Umständen viel Schmerz und Leid bedeuten kann, bis sich unser Körper wieder regeneriert hat. Solange wir aktiv und gestresst bleiben, können wir die Bedürfnisse unseres Körpers unterdrücken, doch sobald wir in die Ruhephase rutschen, bekommen wir die Quittung für diese Selbstvergewaltigung. Dies geht teilweise sogar so weit, dass Menschen Ruhe überhaupt nicht mehr aushalten können. So hat Heiko auf seiner ersten Reise nach Santiago in der Schweiz einen Mann getroffen, der eine Farm mit Kühen betreute. Jede Kuh hatte eine Glocke um den Hals gebunden und zerstörte somit die idyllische Stimmung auf der Alm. Als Heiko ihn fragte, warum er den Tieren und sich selbst das antat, antwortete der Mann: „Es ist für die Touristen! Sie halten es nicht aus, wenn es hier zu leise ist und beschweren sich dann, weil sie nicht schlafen können!“

Nichts anderes machen wir auch in unseren Städten. Wir versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass wir uns entspannen können, weil wir wissen, dass wir dann spüren, was wir uns selbst tagtäglich antun. Deswegen benötigen wir den Stress, die Highlights, den Trubel, den Lärm und die Reisüberflutung.

Dass dies auf Dauer trotzdem nicht gutgehen kann zeigte sich gleich an einem lebenden Beispiel, ein paar Straßen weiter. Die Kinder in diesem Viertel hatten gerade Schulschluss und folgten uns durch die Straßen. Permanent riefen sie uns etwas zu, wollten irgendetwas wissen, stellten Fragen und machten Witze. Es war jedoch kein einziger Versuch eines ernsthaften Kontaktes dabei, sondern nur eine Aneinanderreihung von aufdringlicher Aufmerksamkeitshascherei. Einen Moment lang ließen wir uns die Flut der Nervensegen gefallen, in der Hoffnung, sie würden von selbst wieder damit aufhören. Dann baten wir sie, uns in Ruhe zu lassen, doch das stachelte sie nur noch mehr an. Es gab kein Gefühl mehr dafür, wie ein angenehmer Kontakt überhaupt aussehen konnte, kein Gefühl dafür, wo die Grenze eines anderen lag und somit übertraten sie sie ohne es überhaupt zu merken. Erst als Heiko mit dem Fuß aufstampfte, laut „HEY!“ rief und sie grimmig ansah, wurde ihnen bewusst, dass sie uns gerade auf die Nerven gingen. Augenblicklich zogen sie sich zurück, hielten einen Moment inne und suchten sich dann eine neue Ablenkung mit der sie sich beschäftigen konnten.

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Außerhalb der Stadt wurde es wieder ruhiger und angenehmer. Die Straße zur Grenze war so gut wie nicht befahren und führte wieder einen neuen Berg hinauf. Noch einmal kamen wir an einen kleinen Ort, in dem wir um etwas zu Essen bitten konnten. Es gab hier nun bereits wieder eine Moschee und die Einwohner waren muslimisch. Wir näherten uns also sichtlich der Grenze zum Kosovo.

Im Wald hinter dem Dorf schlugen wir unser Zelt auf, Wieder wurde es schweinekalt und so beschlossen wir, erneut ein Lagerfeuer zu entzünden, an dem wir uns aufwärmen konnten, bevor wir uns in unser Zelt zurück zogen.

Jetzt, wo es wieder leise war, begann Heikos Ohr zu pfeifen. Auch wir kamen nach der Stadt nun wieder in unsere Entspannungsphase und der Körper zeigte die Symptome der Regenerierung. Doch die lärmende Stadt war kaum der einzige Grund für die Ohrgeräusche. Auch nach der Trennung von Paulina kamen wir nun in eine tiefergehende vagotone Phase, in der alles noch einmal nachwirkte und in uns arbeitete.

Das Feuer erlosch und wir legten uns schlafen. Morgen würden wir Montenegro verlassen und unsere Reise im Kosovo fortsetzen.

Spruch des Tages: Stillness is the altar of spirit – Stille ist der Altar des Geistes.

 

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 12.322,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87072 Francavilla Marittima, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

 Am kommenden Morgen brachen wir wieder früh auf und wanderten bis in eine kleine Ortschaft, in der uns der Besitzer der einzigen Bar ein Frühstück spendierte. Es war frisch und nebelig, aber für eine Frühstückspause gerade noch warm genug. Und die Stärkung war wichtig, denn kurze Zeit später folgte ein Poweranstieg mit 500 Höhenmetern in engen Serpentinen, der uns mit leerem Magen noch deutlich mehr zu schaffen gemacht hätte, als er es eh schon tat. Oben auf dem Pass gab es einige Hotels und Cafés, in denen wir jedoch weder einen Schlafplatz noch etwas zu Essen bekamen. Dafür konnten wir das Internet nutzen, was wir nach der langen Pause auch ausgiebig taten. Der Haken dabei war nur, dass wir dadurch ein bisschen das Zeitgefühl verloren so dass es bereits spät am Nachmittag war, als wir uns wieder an den Abstieg wagten. Einige Serpentinen tiefer wurden wir von einem dunkelgrünen Auto überholt, das neben uns anhielt. Zwei junge Menschen aus Deutschland stiegen aus und begrüßten uns. Sie kamen aus Pfarrkirchen, dem Heimatort eines ehemaligen Praktikanten und guten Freundes von uns, den die junge Frau sogar kannte.

Das auffälligste an der jungen Frau waren ihre pinken Haare. Ihr Freund, der nicht ihr Freund sondern nur ihr Kumpel war, stammte aus der Türkei und musste in ein paar Tagen in Istanbul sein. Dort wollte er auf eine Hochzeit gehen. Er war ein lockerer und freundlicher Kerl, mit dem man sich gut unterhalten konnte und der uns außerdem gleich noch einige Reisetipps für die Türkei mit auf den Weg gab. Die Idee des Roadtrips wurde aus der Hochzeitseinladung geboren. Wenn er eh den weiten Weg bis in die Türkei zurücklegen musste, dann konnte man ihn auch gleich etwas schöner gestalten und eine kleine Reise daraus machen. Die Mutter der pinkhaarigen Dame wollte es ihr zunächst verbieten, weil sie es für zu gefährlich hielt, wenn die junge Frau ganz alleine von Istanbul wieder zurück nach Deutschland fuhr. Nach kurzer Überlegung sah sie dann aber ein, dass sie bei einer dreißigjährigen Tochter kaum das Recht dazu hatte, ihr zu sagen, was sie tun oder lassen sollte. Also wurde ein neuer Plan geschmiedet und der Vater entschied sich kurzerhand dafür, nach Istanbul zu fliegen und von dort aus mit seiner Tochter zurück zu fahren.

Wir erzählten ein bisschen von unserer Reise und auch davon, dass wir bis vor kurzem noch zu dritt unterwegs gewesen waren. Als wir zum Thema Opferbewusstsein und Anziehung von potentiellen Tätern kamen, sagte sie etwas, das ich erstaunlich fand. Denn obwohl die junge Frau nicht den Anschein eines leichten Opfers machte, sondern eher wirkte, als könne sie sehr deutlich machen, wo ihre Grenzen waren, die nicht überschritten werden durften, war sie sich anders als Paulina der Gefahr vollkommen bewusst, die mit der man als reisende Frau leben musste.

„Wenn ich nicht wüste, dass ich die meiste Zeit des Tages im Auto sitze und wenn ich nicht zusammen mit einem wirklich großen und starken Mann reisen würde, dann würde ich beispielsweise niemals eine kurze Hose anziehen. Klar, ist die hier nicht aufreizend, aber für die Männer hier reicht es aus und man muss ja nichts provozieren, wenn es nicht sein muss.“

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Da wir noch einen Schlafplatz brauchten und die beiden noch eine ordentliche Fahrtstrecke vor sich hatten, verabschiedeten wir uns und machten uns jeder wieder auf seinen Weg. Die Serpentinen endeten in einem Canyon, dessen Boden sich hinter einem steilen Abhang verbarg. Es wirkte fast so, als würde man bis zum Erdkern hinunterfallen, wenn man diesen Hang hinunterpurzelte. Ebene Flächen, auf denen man hätte zelten können gab es hier nicht also blieb uns nichts anderes übrig, als weiterzuwandern.

An einem kleinen Häuschen stand gerade ein Mann und strich seinen Zaun. Er wirkte freundlich und so baten wir ihn um etwas zu essen. Sofort gab er seiner Frau bescheid, die uns auf der Terrasse einen Tisch herrichtete und uns ein komplettes Abendessen servierte. Sie war fast ein bisschen enttäuscht, als wir schließlich kurz vorm Platzen waren und keine weiteren Speisen mehr annehmen konnten.

Nach dem Essen dämmerte es bereits, doch da wir nun nicht mehr kochen mussten, was das nicht mehr ganz so schlimm. Zumindest für den Anfang. Später wurden wir doch etwas unruhig, weil es wirklich gar keine Übernachtungsmöglichkeit zu geben schien. Als sich der Canyon dann schließlich verbreiterte und man sogar einen Boden erkennen konnte, waren wir auch schon in der nächsten Stadt. Hier gab es zwar Plätze aber auch eine riesige, lärmende Holzfabrik und gleich zwei sich kreuzende Hauptstraßen. Damit war Schlafen genauso unmöglich, wie in Schräglage.

Mit dem letzten bisschen Licht durchsuchten wir die Stadt nach möglichen Wiesen und Gärten, die als Zeltplatz geeignet waren. Abseits der Straße fanden wir ein großes Grundstück mit Obstbäumen, das zu einem kleinen Haus gehörte. Ich klingelte und fragte, ob es OK wäre, wenn wir für eine Nacht unser Zelt irgendwo hinten auf die Wiese stellten. Die alte Frau sah mich entgeistert an und lehnte entschieden ab. Wir könnten ja auf dem Schulhof zelten, meinte sie. Ich spürte dass ich sauer wurde und verließ wütend ihren Garten. Bereits in diesem Moment war mir schon bewusst, dass die Wut nichts mir ihr zu tun hatte. Klar war es nicht besonders nett, aber es war immerhin ihr Garten und sie hatte alles Recht, Angst vor Fremden zu haben, die darin zelten wollten. Warum also war ich wirklich sauer? War ich frustriert, weil ich selbst Angst hatte, dass wir keinen guten Platz mehr finden würden? Oder waren es tiefere Themen, die gerade auftauchten?

Ich hatte nicht die Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, denn erst mussten wir unser Nachtlager organisieren. Hinter dem Grundstück der alten Dame fiel der Berghang noch einmal steil ab. Darunter war eine Flachebene mit nur wenigen Häusern. Wenn es hier irgendwo eine Chance gab, dann war es da unten. Wir machten uns an den Abstieg und liefen dabei direkt auf ein Haus zu, vor dem ein Mann gerade Paprikaschoten zerkleinerte. Er grüßte uns schon von weitem und hatte nichts dagegen, dass wir neben seinem Haus zelteten. Im Gegenteil, er versorgte uns sogar mit Wasser, Saft und noch einer Kleinigkeit als Betthupferl. Außerdem erfuhren wir von ihm noch einige wichtige Infos über unseren weiteren Streckenverlauf. Wir hatten es ja schon vermutet, aber nun wurde es amtlich: Die Grenze, die ich ursprünglich für den Weg in den Kosovo ausgesucht hatte, war zwar offen, jedoch nicht mit einem Grenzposten besetzt. Wenn wir hier passieren wollten, dann mussten wir ohne Stempel, also illegal in den Kosovo einwandern. Das war keine Option. Morgen brauchten wir also einen neuen Plan für eine neue Grenze und wie es aussah, würden wir noch ein oder zwei Tage länger in Montenegro bleiben als gedacht.

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Zunächst jedoch mussten wir ohne Plan weiterziehen. Der Weg war nicht weiter kompliziert, da wir einfach immer der Hauptstraße folgen mussten. Dafür, dass sie eine Hauptstraße war, war sie sogar ganz erträglich. Es herrschte kaum Verkehr und von den wenigen Autos, die uns überholten gab es nur sehr wenige, die so verrückt fuhren, dass man um sein Leben fürchten musste. Als wir schließlich die Stadt erreichten, versuchten wir zunächst ein Hotel aufzutreiben, in dem wir übernachten konnten. Irgendwie mussten wir es schaffen, ins Internet zu kommen und da war es das Beste, eine gemütliche Unterkunft zu bekommen, in der wir gleich einen Wi-Fi-Empfang hatten. Doch die Mission blieb erfolglos. Fast niemand sprach Englisch und ohne eine aussagekräftige Erklärung, was wir machten, wer wir waren und warum es eine gute Idee war uns zu unterstützen, standen die Erfolgschancen schlecht. Wieso hätte man auch einen Menschen aufnehmen sollen, der in verdreckten und verschwitzten Klamotten in der Rezeption auftauchte, kaum ein Wort der Landessprache sprach und dann noch darum bat, ein Zimmer für umsonst haben zu können? Nicht, dass dies nicht auch schon funktioniert hätte, keine Frage, aber man konnte niemandem böse sein, wenn er ablehnte.

Wir brauchten also einen Plan-B. Dieser bestand daraus, dass wir in einem kleinen Wettbüro für Sportwetten und allerlei Glücksspiele um einen Tisch am Rande und einen wLAN-Schlüssel baten. Das funktionierte hervorragend und auch wenn der Platz nicht zu den schönsten der Welt gehörte, so war er doch deutlich angenehmer als ein verqualmtes, lautes Café voller grölender, betrunkener Männer. Hier kam man lediglich zum Spielen her und das machte man vornehmlich im Stillen.

Wir brauchten fast den ganzen Nachmittag dafür um alles zu erledigen, was es zu erledigen galt. Der Blog musste auf Vordermann gebracht werden um Paulinas Privatsphäre zu schützen, da sie ja nun nicht länger Teil unserer Herde war. Darüber hinaus brauchten wir neues Kartenmaterial für die Weiterreise und wenn wir im Kosovo nur halb so schlecht ins Netz kamen wie hier, dann brauchten wir ordentlich Vorlauf, damit wir nicht komplett verloren gingen. Unser Besuch in diesem Wettbüro war auch das vorletzte Mal, dass wir Kontakt zu Paulina hatten. Sie war bei Facebook online und schrieb eine ganze Weile mit Heiko. Dabei erfuhren wir von ihrer Reise nach Mazedonien und sie beteuerte mehrfach, dass die Trennung für sie noch kein endgültiges Ende für sie war. Sie war sich vollkommen im Klaren darüber, dass es eine reine Flucht vor sich selbst war und dass sie auf Dauer nicht vor sich würde fliehen können. Nur ein bisschen Abstand bräuchte sie, damit sie sich selbst noch einmal sortieren könne. Sie konnte nicht sagen wann, aber irgendwann würde sie sich fangen und dann würde sie bereit sein, um ein vollwertiges Mitglied unserer Herde zu werden. Wir sollen sie nicht aufgeben, bat sie immer wieder. Sie sei noch immer auf dem Weg und eines Tages würde sie wieder zu sich selbst und auch zu uns zurückfinden.

„Versprechen können wir nichts“, antwortete Heiko, „aber wir bleiben für alles offen. Es kommt, wie es eben kommt und wenn sich unsere Wege wieder kreuzen und du mit ganzem Herzen bei uns sein kannst, bist du willkommen.“

Drei Tage später bekamen wir eine SMS. Darin erklärte Paulina in kurzen, schmucklosen aber klaren Worten, dass sie den Kontakt zu uns vollständig abbrechen wolle und auch keine Nachrichten mehr von uns wünsche. Seither, herrscht Funkstille.

Es dämmerte bereits, als wir alles erledigt hatten, was wir erledigen wollten. Wir bedankten uns beim Wettbüro-Besitzer für seine Gastfreundschaft und machten uns auf den Weg aus der Stadt. Weit kamen wir an diesem Abend nicht mehr. Wir durchquerten einen Park und hielten uns dann auf Nebenstraßen, bis wir direkt vor einem steilen Berghang landeten, der uns den Weg versperrte. Hier gab es nun keine Straßen mehr, die weiter geradeaus führten und der einzige Weg aus dem Tal führte über die Hauptstraße. Dort einen ruhigen Platz zu finden war schier unmöglich, also bogen wir nach rechts in ein kleines Dorf ab und suchten uns eine abgelegene Wiese, etwas oberhalb der Häuser. Beim Zeltaufbau war es bereits dunkel. Schnell lief ich ins Dorf zurück und bat einige der Anwohner um etwas zu Essen. Mit erstaunlich schlechtem Erfolg. Bei Dunkelheit hatten die Menschen hier offensichtlich noch mehr Angst vor Fremden als normal und so bekam ich hauptsächlich zugeschlagene Türen. Am Ende musste ich einsehen, dass es keinen Zweck hatte und kehrte mit nichts weiter als ein bisschen Wasser und fünf Keksen zu unserem Lager zurück.

 

Spruch des Tages: Wie reich könnte die Welt sein, wenn wir unseren Kindern nicht unsere eingeschränkte Meinung aufzwängen würden! Nie sind wir dem göttlichen näher, denn als Kinder.

 

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 12.309,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87076 Villapiana Scalo, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Die letzten Kartoffeln, die von Vorabend noch übrig geblieben waren, gönnten wir uns zum Frühstück. Es war haarscharf gewesen, dass das noch möglich war, denn wie unter Männern üblich, die ihre Nächte in der Natur verbringen hatten wir am Abend entschieden, das Feuer aus sicherheitstechnischen Gründen auszupinkeln. Gerade in der letzten Sekunde war uns dann doch noch eingefallen, dass es gut wäre, die Glutkartoffeln zuvor aus dem Schussfeld zu nehmen.

Unsere Wanderung führte uns weiter durch das Tal bis in eine kleine Ortschaft, die nur aus wenigen Häusern entlang der Straße bestand. Vor einem einzigen stand ein kleines rotes Auto, was wir als Hinweis auf anwesende Personen deuteten. Ich klopfte an der Tür und lernte daraufhin Luka und seinen Onkel kennen, die uns auf ein Gespräch und eine Brotzeit unter einem improvisierten Sonnendach vor ihrem Haus einluden.

Der Onkel war ein viel gereister Mann, der früher unter anderem für eine große Autovermietung gearbeitet hatte. Daneben war er auch einmal für eine Ölgesellschaft tätig gewesen und wurde in diesem Rahmen für sechs Monate auf einer russischen Ölstation in Sibirien eingesetzt. Es war jene Ölstation gewesen, die später für einiges Aufsehen gesorgt hatte, weil durch sie riesige Teile der sibirischen Tundra verseucht worden waren. Darüber konnte uns der Mann zwar nicht allzu viel erzählen, doch er erzählte uns einige andere faszinierende Geschichten. So war die Plattform beispielsweise nur im Winter erreichbar, da dann die LKWs über das Eis fahren konnten. Im Sommer war dieser Zugang versperrt. Daraus ergab sich dann auch, warum er sechs Monate auf der Station gearbeitet hatte, denn kürzer wäre es einfach nicht möglich gewesen.

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Obwohl der Mann bei seiner Zeit als Autovermieter so ziemlich jedes Kraftfahrzeug getestet hatte, was sich zurzeit auf dem Markt befand, hatte er sich selbst für die kleine rote Spielzeugschachtel entschieden, die nun in der Einfahrt stand. Sie war alt, unkompliziert und ließ sich leicht reparieren, was immer es auch für Probleme gab. Ein neues, moderneres Auto konnte einem schnell mal unerwartete Kosten bereiten und darauf hatte er einfach keine Lust. Außerdem verbrauchte die kleine Schachtel so gut wie nichts und schnurrte schon seit vielen Jahren zuverlässig vor sich hin. Was also wollte man mehr?

Luka erzählte uns, dass ihm sein Onkel hier beim Baumfällen half. Wie sich herausstellte war der Junge auf eine gewisse weise stinkreich, denn gemeinsam mit seinem Vater hatte er hier eine Landfläche von rund einer Millionen Quadratmetern geerbt. Ihm gehörte nicht nur der Hügel, auf dem wir uns befanden, sondern auch der ganze Wald darum herum, einschließlich zweier Berge und eines Teils des Tara-Flusses, der später einmal zu dem gigantischen Canyon werden würde, den wir bereits vor ein paar Tagen überquert hatten. Der Junge war gerade mal Mitte zwanzig und wenn er es gewollt hätte und das Land hier nur für einen Euro pro Quadratmeter verkauft hätte, dann hätte er bis an sein Lebensende ausgesorgt. Doch das wollte er nicht. Er lebte in Belgrad und war eigentlich Elektroingenieur, wenngleich er zurzeit keinen Job hatte. Da er etwas Geld brauchte, hatte er beschlossen hier herunter zu fahren und etwas Holz zu verkaufen. Holz war in dieser Region der günstigste Heitzstoff und daher sehr begehrt. Mit etwa 400€ konnte man genügend Brennholz kaufen um es einen kompletten Winter warm zu haben. Das monatliche Durchschnittsgehalt hier in der Region lag zwischen 200 und 400 Euro. Wie wir bereits selbst aufgrund unserer Beobachtungen vermutet hatten, bestätigten uns nun auch die beiden, dass Arbeit an sich hier nicht allzu hoch im Kurs stand. Die Bewohner des Balkans hatten eine vollkommen andere Mentalität, was Arbeit anbelangte als beispielsweise Amerikaner oder Kanadier. Dort kaufte man in der Regel erst einmal alles auf Pump um zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Doch dies hatte natürlich unweigerlich die Folge, dass man seine Schulden abbezahlen musste und dadurch wurde man gezwungen, regelmäßig zu arbeiten. Hierzulande würde kein Mensch so etwas machen. Anders als man uns zuvor berichtet hatte, katten die Serben und Montenegriner so gut wie niemals Schulden. Man kaufte nichts, das man sich nicht leisten konnte, sondern machte es genau anders herum. Wenn man etwas haben wollte, dann arbeitete man so lange, bis man es sich leisten konnte und dann kaufte oder baute man es sich. Wenn das Geld dabei nur für ein halbfettiges Haus reichte, dann baute man es eben nur so weit wie es ging. Wenn einem dieser Zustand dann nicht gefiel, wartete man bis wieder genug Geld da war und baute dann weiter. Störte es einen nicht, dass man in einem Rohbau wohnte, dann blieb es einfach so. Benötigte man gerade kein Geld, weil man sich nichts kaufen wollte, dann gab es auch keinen Grund zu arbeiten.

Leider wandelte sich dieses Prinzip in den letzten Jahren deutlich. Wenn früher jemand ein Haus bauen wollte, dann half das ganze Dorf dabei. Immer gab es irgendwo einen Schreiner, einen Maurer, einen Klempner und so weiter, so dass sich jeder gegenseitig aushelfen konnte. Heute ist jedoch auch hier das Konzept des Geldes deutlich präsenter und wenn nun jemand fragt, ob man bereit ist, ihm beim Bauen zu helfen, dann lautet die erste Frage: „Wie viel springt denn dabei für mich raus?“

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Durch diese Veränderung wird Geld immer wichtiger und damit steigt auch das Bewusstsein, dass fast keines Vorhanden ist. Dies ist der Grund dafür, dass sich die Menschen immer ärmer fühlen obwohl sie an und für sich nicht ärmer sind als früher.

Wirklich spannend wurde das Gespräch, als wir die beiden auf die Autobahn ansprachen, denn dadurch kamen wir gleich auch auf viele interessante Hintergründe über den Balkan und seine Geschichte. Denn wie bereits vermutet war der Autobahnbau hier in den Bergen kein Zufall.

Zunächst einmal erfuhren wir noch einige Hintergründe darüber, warum die Autobahn ausgerechnet von Chinesen gebaut wurde. Wie bereits vermutet hatte es dafür eine internationale Ausschreibung gegeben und die chinesische Firma hatte das beste Angebot gemacht. Der Deal dabei war folgender: Die Investoren ließen die Straße bauen und bekamen dafür für die nächsten 10 oder 15 Jahre - so genau wussten die beiden es nicht mehr - sämtliche Maut-Einnahmen die über den Verkehr generiert wurde. Das war sicher kein schlechter Deal, vorausgesetzt, die Autobahn wurde ordentlich befahren. Wenn das Projekt endete, wie jene Küstenautobahnen in Spanien, auf denen man spazieren gehen konnte, weil kein einziges Auto darauf fuhr, dann ging die Investition nach hinten los. Die Geldgeber mussten sich also relativ sicher sein, dass die Straße, die sie bauten, anschließend auch befahren wurde.

Die offizielle Begründung für die neue Fernverkehrsstraße ist die Förderung des Tourismus an der Küste. Seit sich Montenegro vor zehn Jahren von Serbien unabhängig gemacht hat, ist dieser stark zurück gegangen. Die meisten Urlauber, die an die Küste fuhren, waren Serben aus den großen Städten im Norden doch die waren nun sauer auf die untreuen Nachbarn und boykottierten den Besuch der Küste Montenegros. Stattdessen fuhren sie nun lieber nach Griechenland, in die Türkei oder nach Ägypten. Warum aber waren die Serben sauer?

Bis vor zehn Jahren war Montenegro der südliche Teil Serbiens gewesen, also der Teil, der den Küstenabschnitt und die schönsten Berge besaß. Der dünn besiedelte Landabschnitt wird bis heute gerade einmal von 600.000 Menschen bewohnt. Das Land hat also gerade einmal so viele Einwohner wie Nürnberg. Die Hälfte davon sind Serben, die damals wie heute keine Unabhängigkeit wollten. Warum es dennoch dazu kam, wissen wir leider nicht, doch mit der Trennung verlor Serbien ein wichtiges Standbein. Die gesamte Infrastruktur, angefangen bei den Straßen, über die Eisenbahnlinien bis hin zur Industrie und zum Tourismus war von Serbien erbaut worden. Da die Küste das Haupturlaubsziel war, hatten fast alle großen Firmen eigene Hotels und Ressorts am Strand, in denen ihre Mitarbeiter ihre freien Tage verbringen konnten. Durch die Unabhängigkeit ging all dies mit einem Schlag verloren. Es war ein bisschen als würde sich ein Kind von seinen Eltern unabhängig machen, dabei aber sagen: „Euer Auto, die Zweitwohnung und die Hälfte eures Ersparten nehme ich jetzt mit, denn ab sofort stehe ich auf eigenen Beinen!“

Dass die Serben darüber nicht gerade erfreut waren, lässt sich leicht nachvollziehen und so wie es aussieht haben sie dem neuen Kleinstaat bis heut nicht richtig vergeben. Eine neue Autobahn wird daran kaum etwas ändern, denn die fehlende Infrastruktur hat die serbischen Urlauber früher ja auch nicht davon abgehalten, hier an die Küste zu fahren. Sie bleiben nicht fern, weil es so schwierig ist, dort hinzukommen, sondern weil sie einfach nicht mehr dorthin wollen. Doch für die Einheimischen klingt die Idee verlockend und so sind sie gerne bereit, an die Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung zu glauben und sich dafür ihr Naturparadies verschandeln zu lassen.

Doch dies kann natürlich nicht der wahre Grund für so ein Milliardenprojekt sein, denn die vage Hoffnung, ein paar serbische Urlauber dazu zu bewegen wieder an die Küste Montenegros zu fahren, in dem man ihnen eine Schnellstraße anbot, für die sie auch noch Geld bezahlen mussten, konnte wohl kaum jemanden motivieren, sich auf einen Maut-Deal einzulassen. Wenn jemand solche Summen investiert, dann will er auch sicher sein, dass es ihm etwas bringt. Was also bringt die Autobahn?

Um die Frage zu beantworten muss man zunächst etwas über die Geschichte des Landes oder genauer gesagt über die Geschichte des Kosovo wissen. Und zu unserem Glück kannten sich unsere beiden Gesprächspartner damit weit besser aus, als alle die wir zuvor getroffen hatten.

Die offizielle Erklärung für den Kosovo-Krieg lautete folgendermaßen: Amerika warf Serbien vor, einen Völkermord an den Albanern in ihrem Land zu begehen und sie auf eine unmenschliche Art und Weise zu behandeln, bei der man nicht länger tatenlos zuschauen konnte. Es war also ein ethisch wichtiger, korrekter und notwendiger Schritt für eine Großmacht wie die USA hier einzugreifen und den Kosovo, also den Teil Serbiens, der am dichtesten von Albanern bewohnt wurde, für unabhängig zu erklären. Wie viel an den Vorwürfen letztlich dran war kann ich im Moment nicht sagen. Wahrscheinlich waren die Verhältnisse wirklich grauenvoll, denn sonst hätte sich ein solcher Schritt kaum rechtfertigen lassen. Doch ähnlich wie in Bosnien wird es auch hier kaum um Streitigkeiten gehen, die von den Menschen selbst herrühren. Dafür leben die unterschiedlichen Volksgruppen hier einfach schon viel zu lange friedlich zusammen. Die Konflikte waren also bewusst erzeugt worden, die Frage ist nur: Warum?

Wie sich herausstellte, gab es auch hier einen vollkommen rationalen, logischen und wirtschaftlichen Grund für einen Bürgerkrieg, an dessen Ende ein unabhängiges Land stand, das sehr gute, freundschaftlich diplomatische Beziehungen zu den USA unterhält. So besitzt der Kosovo Unmengen an Bodenschätzen, darunter einige der größten Blei-, Zink-, Kohle-, Silber- und Goldmienen Europas. Der Umsatz, der mit diesen Mienen gemacht wird, beträgt den Informationen unserer Frühstücksgastgeber zufolge rund 15 Milliarden Euro im Jahr. So eine Goldgrube kann man natürlich nicht einfach Russland überlassen und da Serbien unter Russischem Einfluss steht, musste der Kosovo davon getrennt werden.

Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch, dass der amerikanische Botschafter, der zur Zeit des Krieges im Kosovo amtierte, nun Vorstandsmitglied eines der führenden Unternehmens ist, die nun die Rohstoffe abbauen in diesem Land abbauen. Damit steht er nicht alleine da. So gut wie jeder Politiker, der damals in den Kosovo-Krieg verwickelt war, sitzt nun in einer großen Rohstofffirma die hier die Erze abbauen.

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Um einen möglichst hohen Gewinn aus den Bodenschätzen ziehen zu können, braucht man natürlich auch eine gute Infrastruktur, über die man die Rohstoffe abtransportieren und dorthin bringen kann, wo sie benötigt werden. Nach Mitteleuropa zum Beispiel. Und da kommt dann wieder die Autobahn ins Spiel, die von Belgrad aus direkt am Kosovo vorbei an die Küste führt. Eine Küste, an der es neben dem Tourismus auch einige Frachthäfen gibt, von denen aus man die kostbaren Güter in alle Welt bringen kann. Wie wir erfuhren war diese Autobahn hier auch nicht das einzige große Bauprojekt, das gerade in der Entstehung war. Der ganze Balkan sollte vernetzt werden, unter anderem durch eine neue Tangente, die Serbien über Ungarn mit Mitteleuropa verbindet. Als wir einige Wochen Später durch Albanien wanderten, kamen wir dabei übrigens auch an eine Straße, die quer durchs Land führte und die von einem kleinen Sträßchen zu einer Hauptverbindungsrute ausgebaut wird. Die Angaben der beiden Männer scheinen also wirklich zu stimmen.

Dabei fiel uns plötzlich auch Bosnien wieder ein, das mit seinen Trinkwasserreserven auch recht gut in das Gesamtbild passte. Und wer weiß, vielleicht gab es dort ja auch noch einiges an Bodenschätzen, von dem wir keine Ahnung hatten. Mienen hatten wir immerhin ein paar Mal gesehen. Vielleicht gab es weit mehr, als wir vermutet hätten.

Am Ende unseres Frühstücks kamen wir dann noch auf einige andere Themen zu sprechen. Es war spannend, was die beiden alles wussten und mit wie vielen Dingen sie sich schon beschäftigt hatten. So war en ihnen die Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Atomenergie ebenso bekannt, wie die Tatsache, dass hier massiv am Wetter manipuliert wurde. Auch sie hatten sich viele Gedanken über die verdächtig langen Kondens-Streifen am Himmel gemacht, die permanent neue Wolken produzierten und die sicher in irgendeinem Zusammenhang mit den unerklärlichen Wassereinbrüchen standen, die in den letzten Jahren hier vom Himmel fielen.

Schließlich wurde es Zeit, wieder aufzubrechen und weiter zu wandern. Luka begleitete uns noch ein Stück, bis an die Grenze seines Hoheitsgebietes.

„Schaut mal hier!“ sagte er und deutete dabei auf eine kleine Scheune, „hier habe ich gestern ein Stinktier gefunden!“

Wer hätte gedacht, dass es hier Stinktiere gibt?

Wenige Kilometer weiter kamen wir zum zweiten Mal an eine Großbaustelle, die im Zusammenhang mit der Autobahn stand. Hier hatte man nicht nur ein Arbeitercamp sondern gleich auch eine ganze Zementfabrik errichtet. Meine kleine Satelitenkarte von Google zeigte noch immer das Tal, wie es vor dieser Zerstörung gewesen war. Im Weiterwandern fragten wir uns, wie man sich als Arbeiter auf einer solchen Baustelle wohl fühlen musste. Man war maßgeblich daran beteiligt, so ein schönes Gebirge für immer oder zumindest für lange Zeit zu zerstören. Was musste das mit einem machen? Sah man das einfach als Job an, so wie man Kartoffeln schälte um dafür Geld zu bekommen? Ich versuchte mir einen Job vorzustellen, für den ich mich noch mehr schämen würde, als für diesen, doch ich fand die Frage wirklich schwierig. Als Prostituierte verkaufte man wenigstens nur seinen eigenen Körper und als Mafiakiller das Leben einiger weniger Menschen. Doch hier verkaufte man nicht nur seine Seele sondern auch das Leben vieler Generationen von Menschen und Tieren. Man war verantwortlich für die Zerstörung eines ganzen Landstriches. Konnte man damit wirklich ruhig schlafen? Ich hätte es nicht gekonnt.

Nachdem wir zunächst überhaupt nichts zum Essen auftreiben konnten, bekamen wir dann mehr als wir tragen konnten. Darunter war auch die wohl größte Kartoffel der Welt oder zumindest die Größte, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Mit ihr alleine konnten wir einen ganzen Topf füllen.

Spruch des Tages: Wie kann man so ein schönes Land zerstören?

 

Höhenmeter: 250 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 12.299,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Gästezimmer im Pfarrhaus, 87075 Trebisacce, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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