Kann man Muscheln roh essen?

von Heiko Gärtner
10.08.2019 03:11 Uhr

Noch vor wenigen Jahren hätten wir auf die Frage „Kann man Muscheln roh essen?“ geantwortet:

„Muscheln kann man überhaupt nicht essen! Die sind eklig!“

Meeresfrüchte und allen voran glibbrige, schleimige Muscheln hatten nie eine Verlockung auf uns. Schon gar nicht als Delikatesse.

Rohe Muscheln als Survival-Nahrung?

Die einzige Situation, in der wir ernsthaft über diese Frage nachgedacht hätten, wäre eine Survival-Tour gewesen. Als tierische Notnahrung waren Muscheln, ähnlich wie Schnecken nicht unpraktisch. Sie waren leicht zu finden und ließen sich einfach sammeln, ohne dass man schnell, geschickt oder Jagd erfahren sein musste. Und dennoch: Roh?

Nein, diese Frage hätten wir definitiv verneint und wir würden es auch noch immer tun. Denn in einer Survival-Situation darf man nicht viele Fehler machen und das Risiko, sich an einer rohen Muschel eine Fischvergiftung zu holen ist eines, das man definitiv leicht ausschließen kann.

Miesmuscheln kann man roh und gegart essen

Miesmuscheln kann man roh und gegart essen.

Die Psyche isst mit

Denn eines muss man vor allem in Überlebenssituationen bedenken: Die Psyche ist immer mit. Allein die Tatsache, dass man hier einen rohen, unbekannten Glibber isst, bei dem man nicht sicher sein kann, ob man ihn verträgt, kann schon dazu führen, dass einem davon schlecht wird. Und Durchfall ist definitiv das letzte, was man in einer Survivalsituation braucht.

Schwer verdaulich

Hinzu kommt ein weiterer Faktor. Wie wir heute am eigenen Leib erfahren durften liegen rohe Muscheln verdammt schwer im Magen. Sie sind deutlich schwerer verdaubar als gegartes Fleisch oder gegarter Fisch. Das bedeutet, die Muscheln roh zu essen entzieht dem Körper erst einmal Energie, die er dann später durch das Aufschlüsseln der Nahrung zurückgewinnt. Ist man jedoch bereits kraftlos und erschöpft ist dies äußerst kontra-produktiv.

Austern zum Dinner

Austern zum Dinner

Auf die Zubereitung kommt es an

Daher ist unser Tipp in einer Survival-Situation, in der man Muscheln zur Verfügung hat: Essbar sind sie, sofern man sie noch lebend findet und zügig weiterverarbeitet. Aber man sollte sie in jedem Fall über dem Feuer garen. So werden sie bekömmlicher und zudem sicherer als Lebensmittel. Und für alle, die es nicht gewohnt sind, Muscheln zu essen ist außerdem deutlich angenehmer und weniger belastend für die Psyche.

Sind Muscheln giftig?

Eine Sache muss man jedoch beachten: Hin und wieder kommt es auch bei gänzlich frischen Muscheln zu Vergiftungserscheinungen. Dies liegt nicht am Muschelfleisch selbst, sondern ist ein ähnliches Phänomen, wie man es bei Weinbergschnecken mit dem grünen Knollenblätterpilz findet. Muscheln ernähren sich nämlich von Algen. In den meisten Fällen ist dies vollkommen harmlos, da viele Algen auf für uns Menschen essbar oder zumindest unschädlich sind. Es gibt aber einige wenige Arten, die sogenannte Phykotoxine ausbilden. Für die Muscheln sind sie unschädlich, doch wenn sie sich im Fleisch der Muschel befinden wird diese dadurch für den Menschen giftig.

verschiedene Muscheln in Zitrone

verschiedene Muscheln in Zitrone

Auf die Umgebung achten

Gefährlich wird dieses jedoch nur dann, wenn sich besagte Algenarten in großen Mengen vermehren, beispielsweise weil es zuvor zu einem Ungleichgewicht im Wasser gekommen ist. In diesem Fall färbt sich das Wasser geradezu rot vor Algen, manchmal aber auch braun oder grün. Das bedeutet also, dass ihr euch vor eurer Muschelspeise erst einmal umsehen solltet, ob ihr übermäßig viele Algen im Wasser findet. Wenn ja: Finger weg von den Muscheln!

Ein weiterer guter Hinweisgeber sind Meeresvögel und andere Tiere, die sich von Muscheln ernähren. Denn auch diese sterben an dem Algengift, wenn sie die Muscheln fressen. Wenn ihr also irgendwo vermehrt leidende, sterbende oder tote Vögel oder Fische in der Nähe seht, solltet ihr ebenfalls auf die Muscheln verzichten.

Mit der Wirkung der Phykotoxine ist nicht zu spaßen. Sie reicht von Erbrechen und Durchfall über Bewusstseinsveränderungen, Gedächtnisverlust und Nervenausfällen bis hin zu vollständiger Atemlähmung und dem daraus folgenden Tod.

Aber wie kommen wir überhaupt auf dieses Thema?

Der Blick bei Nacht auf die Küste Kalabriens

Der Blick bei Nacht auf die Küste Kalabriens

 

Muscheln als Spezialität

Nachdem wir nun im Herzen Kalabriens angekommen sind, kamen wir heute in die Verlegenheit, unsere ersten rohen Muscheln zu kosten. Kalabrien ist eine Region, in der die Menschen Meeresfrüchte nichtssagend und verallgemeinernd als „Fisch“ bezeichnen und über alles lieben. Es gibt sie zur Pasta, als Vorspeise, im Salat, im Brötchen und sogar auf der Pizza. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Funktionalität und Organisiertheit sind hier weitgehend Fremdworte, die man nur vom Hörensagen kennt und meist belächelt. Dafür aber liebt man das Meer, den Strand, laute Partymusik, Süßigkeiten, Wein und Meeresfrüchte. So hat halt jede Region ihre Eigenheiten.

Heute jedenfalls waren wir mit dem Pfarrer, der uns zu sich nach Hause eingeladen hat in einem Restaurant an der Küste essen.

Pizza aus dem Steinofen gab es als Hauptgericht

Pizza aus dem Steinofen gab es als Hauptgericht

Typisch Kalabrien

Zunächst kamen wir dabei in den Genuss der Unstrukturiertheit und der Party-Musik. Denn obwohl das Restaurant nur zu etwa drei Viertel belegt war, mussten wir gut eine halbe Stunde abseits der Speisetische in einer Art Lounge warten. Schließlich wollte man die Kellner und Köche ja nicht überfordern oder bei ihren Zigarettenpausen und Pläuschchen stören.

Als Nächstes kamen wir dann in den kulinarischen Genuss. Zum Trinken gab es Wasser (wofür wir bei der Hitze sehr dankbar waren) und Cola. Säfte oder zuckerfreie Getränke gab es nicht. Abgesehen von Bier vielleicht.

Wir bestellten je eine Pizza und der Pfarrer fügte der Bestellung noch jeweils ein Antipasta hinzu, bestehend aus „Rohem Fisch“, wie er sagte.

„Mögt ihr rohen Fisch?“, fragte er noch kurz.

„Ja!“, antworteten wir nickend und dachten dabei an Sushi.

Was kurz darauf kam, war natürlich kein Sushi. Warum hätte es das auch sein sollen?

Rohe Austern in Zitrone

Rohe Austern in Zitrone

Andre Länder, andre Sitten

Es war eine Schüssel mit rohen Krabben, die in einer Soße aus Zitrone und Salz badeten, sowie für jeden einen Teller mit unterschiedlichen Muscheln. Ein Teil davon waren Miesmuscheln, die wir bereits von zahlreichen Muschel-Pasta-Gerichten her kannten. Ironischerweise hießen sie auf Italienisch „Cozze“, was man tatsächlich wie „Kotze“ ausspricht. Bislang kannten wir sie jedoch nur gekocht. Roh waren sie deutlich größer und glibbriger.

Außerdem befanden sich rosafarbene Muscheln auf dem Teller, die wir noch nicht kannten, sowie einige Austernschalen. Alle waren in Zitrone gebadet worden. In Norwegen hatten wir bereits von dieser Technik gehört, die dort mit Lachs verwendet wird. Die Zitronensäure zerstört die Molekülstruktur von Eiweißen auf ähnliche Art und Weise wie Hitze. Dadurch lassen sich mit Hilfe von Zitrone Fische und Muscheln sozusagen kalt Garen.

Kalt garen mit Zitrone

Noch einmal kurz zurück zu unseren Survival-Freunden: Wenn ihr in der Notsituation also eine Zitrone, aber kein Feuer bei euch habt und zudem einen starken Magen besitzt, dann kann auch dies eine Lösung sein.

In Filmen, bei denen Galen und Empfänge von reichen Leuten gezeigt werden, auf denen es Austern als spezielle Delikatesse gibt, sieht es immer so leicht aus. Man setzt die Schale an den Mund, macht ein kurzes Schlürfgeräusch und die Muschel ist verschwunden. In Wirklichkeit ist es jedoch bei weitem nicht so einfach. Denn die Muschel hängt, auch wenn sie tot ist, noch immer fest an ihrer Schale.

Schöne Momente am Strand

Wenn die Muscheln hier landen, sind sie nicht mehr essbar...

Wie isst man Muscheln richtig?

Unser Pfarrer löste das Problem sehr geschickt mit einem gekonnten Schwung mit der Gabel. Ich versuchte dasselbe und löste damit überhaupt nichts. Die Gabel glitt durch die Muschel, als wäre sie reiner Schleim. Was sie letztlich ja auch war.

Also versuchte ich die Methode, die ich aus den Filmen kannte und saugte den Flubber einfach mit dem Mund ein. Das ging auf soweit ganz gut. Eben bis zu jenem Punkt, an dem sie an der Verbindung mit ihrer Schale hängen blieb. Die einzige Lösung, die mir einfiel, war die Muschel hier mit den Zähnen abzukratzen. Das klappte bei den Miesmuscheln relativ gut. Bei den rosafarbenen war es deutlich schwieriger und bei den Austern kratzte man automatisch mit den Zähnen an der Unterseite der Schale entlang, wodurch man einiges an Kalkkrümeln in den Mund bekam.

Heiko entschied sich hingegen für eine deutlich brachialere Methode. Er packte die Muschel mit Daumen und Zeigefinger und riss sie aus ihrer Schutzbehausung.

Zumindest was die Austern betrifft haben wir später sogar noch eine Anleitung gefunden, wie man die Sache auch elegant lösen kann:
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Geschmacksache

Der Vorteil davon, die Muscheln roh und nicht gekocht zu essen, lag laut unserem Pfarrer darin, dass sie so mehr nach Meer schmeckt. Unsere Geschmackszellen konnten diesen Vorteil allerdings nicht erkennen. Das ganze schmeckte erfrischend nach Zitrone, was so weit super war. Aber es hatte eben auch dieses typische Aroma, das man von Häfen her kennt.

Also nach einer Mischung aus Salzwasser und verwesendem Fisch.

  Spruch des Tages: Man gewöhnt sich offenbar an alles. 1. Tagesetappe: Distanz: 22 km; Höhenmeter: 60 m; Ziel: Pfarrhaus, Mirto Italien 2. Tagesetappe: Distanz: 125 km; Höhenmeter: 160 m; Ziel: Pfarrhaus, Cariati, Italien 3. Tagesetappe: Distanz: 19L km; Höhenmeter: 66 m; Ziel: Pfarrhaus, Ciró Marina, Italien 4. Tagesetappe: Distanz: 45 km; Höhenmeter: 140 m; Ziel: Zeltplatz auf einem Feld inmitten der Ortschaft, Crotone, Italien 5. Tagesetappe: Distanz: 15 km; Höhenmeter: 60 m; Ziel: Caritas-Station der Gemeinde San Domenico, Crotone Italien
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.